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Die Rendra-Kinder

Lora und Finn hatten seit vier Monaten denselben Rhythmus in ihrer Chemotherapie. Sich in der Tagesklinik jedes Mal wiederzusehen und gemeinsam diesen ganzen Mist durchzustehen, war einer der besonderen Lichtblicke in Loras Leben. Es war kein Leben wie die der anderen Kinder. Lora bereitete sich nicht auf die Einschulung vor oder lernte schwimmen. Nein. Lora musste einen ungleichen Kampf gegen einen übermächtigen Gegner bestreiten. Am meisten lastete aber die Verzweiflung und Trauer ihrer Mutter auf dem Gemüt der Sechsjährigen.

„Schau mal, Finn ist da!“ Loras Mutter reichte Finns Vater die Hand.

Während sich die Erwachsenen über Leukozyten und Medikamente gegen Übelkeit unterhielten, wandte sich Lora ihrem Freund Finn zu.

„Mann, du hast ja keine Augenbrauen mehr“, sagte sie und berührte Finns Stirn.

Er zog sie von seinen Eltern weg. „Schschsch“, machte er. „Mama hat sehr an den Augenbrauen gehangen. Dabei brauchen wir die ja nicht mehr.“

Er machte ein paar Grimassen. „Ich kann die Augenbrauen hochziehen, ohne überhaupt welche zu haben. Sieh mal!“

Lora gab ihm einen Daumen hoch. „Wenn der Clown mit den Schminkstiften diese Woche wieder kommt, malen wir dir grüne Augenbrauen. Wie Hulk.“

„Hulk hat überhaupt keine grünen Augenbrauen“, protestierte Finn.

„Dann halt wie Arielle, die Meerjungfrau.“

Finn winkte ab. „Lass uns zusehen, dass wir Sitze nebeneinander bekommen.“ Er zog Lora mit sich in Richtung des Pflegebereiches, wo die Chemotherapie verabreicht wurde. An den Wänden der Räume waren Fabelwesen, Comichelden und japanische Monster abgebildet. Eine Kinderstation.

***

Dr. Rana Rendra schaute sich die Untersuchungsergebnisse ihrer beiden Schützlinge schon zum dritten Mal an diesem Morgen an. Lag es an ihr? Sie massierte sich die Stirn. Wieso ergab das alles keinen Sinn? Seit einigen Jahren bereits beobachtete sie diese eigenartige Art von Krebs, die auf keine der erprobten Behandlungsmethoden reagierte.

Lora und Finn passten eindeutig in die Reihe von Kindern, die Dr. Rendra wegen dieser Krebsart betreut hatte. Sie hatte einen eigenen Ordner angelegt für diese Fälle, die sie insgeheim als Rendra-Kinder bezeichnete. Ihr Krebs war auffallend aggressiv, sprach auf nichts an und befiel innerhalb eines halben Jahres alle Organe außer der Milz. Es war mehr als rätselhaft. Auch Lora und Finn waren wieder so liebe und herzliche Kinder. Altklug und rücksichtsvoll. Beide zeigten keine Zeichen von Bedauern oder Hadern mit ihrem Schicksal und machten sich vornehmlich Sorgen um ihre Eltern. Sie beklagten sich nie über die Schmerzen.

Wenn sie an die anderen Rendra-Kinder zurückdachte, waren sie alle so gewesen. Fürsorglich und ruhig, fantasievoll und gesegnet mit einer vollkommenen Gleichgültigkeit gegenüber weltlichen Gütern. Das konnte doch aber nicht der Zusammenhang sein, den Dr. Rendra suchte! Sie schüttelte den Kopf, um diese albernen Gedanken zu vertreiben. Ein Krebs, der nur die liebsten und weisesten Kinder befiel, die er finden konnte? Quatsch. Reiß dich zusammen Rana, sagte sie zu sich. Die Eltern vertrauen mir ihre Kinder an, das Wichtigste, was sie auf der Erde haben, damit ich sie behandle und ich flüchte mich in esoterischen Unsinn, weil ich mit meinem Latein am Ende bin! Behandeln. Dr. Rendra stützte den Kopf in die Hände. Bisher konnte sie nur hier und da das Leid etwas mindern. Von einer Behandlung war sie weit entfernt.

Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Selbstzweifeln.

„Frau Pfanner, kommen Sie doch bitte rein.“ Es war Loras Mutter. Sie würde ihr erklären müssen, dass weder die Bestrahlung noch die Chemotherapie bisher eine Wirkung gezeigt hatten.

***

Tage später – die Chemotherapie war nicht einmal zur Hälfte abgeschlossen – verschlechterte sich Finns Zustand rapide. Dr. Rendra verständigte den Vater, welcher die ganze Familie zusammentrommelte. Sie hielt sich im Hintergrund, prüfte nur hier und da mal ein paar Vitalwerte und gab Finn Schmerzmittel, obwohl er nicht danach verlangte.

„Verschwinden Sie“, fauchte Finns Opa. „Nutzlose Quacksalberin!“

Hin und hergerissen zwischen dem Wunsch, sich zur Wehr zu setzen und dem Verständnis für die Verzweiflung des Mannes, wollte Dr. Rendra zu einer diplomatischen Entgegnung ansetzen, als Finn nach ihrer Hand griff.

„Dr. Rana, du musst meinem Opa verzeihen, denn er ist traurig, weil er gerne noch mehr Zeit mit mir verbracht hätte. Aber ich muss ja mit dem Raumschiff davonfliegen.“

„Das verstehe ich, Finn.“ Sie streichelte sanft über seine kleine Kinderhand.

Finns Blick begegnete dem seines Opas, der sich abwandte. Dr. Rendra konnte sich seine Mischung aus Scham, Trauer, Hilflosigkeit und Wut nur vorstellen. Sie selbst hatte keine Kinder. Wahrscheinlich genau aus diese Grund.

„Ich lasse dir jetzt Zeit mit deiner Familie“, flüsterte sie. „Wenn du etwas brauchst, einfach klingeln.“

Sie hatte den Raum schon verlassen und zog die Tür hinter sich zu, als Finn ihr ein leises „Danke“, hinterherrief. Das Sprechen musste ihm mittlerweile schwerfallen. Wenn die Milz das einzige Organ im Körper war, das noch funktionierte, musste der Junge unerträgliche Schmerzen aushalten. Sie dachte kurz an eine Dokumentation über Shaolin-Mönche, als sie mit einem traurigen Lächeln die Tür schloss. Unglaublich, dieses Kind.

***

„Möchtest du dich von deinem Freund Finn verabschieden?“, fragte Frau Pfanner ihre Tochter.

„Ich sehe Finn ja bald wieder“, sagte Lora. „Wenn wir mit dem Raumschiff fliegen.“

Frau Pfanner schloss die Augen und kämpfte gegen die Tränen. Nicht genug, dass sie selbst um das Leben ihrer Tochter bangte. Nun musste sie ihrem Liebling auch noch erklären, dass ihr neuer Freund Finn im Sterben lag.

„Weißt du, mein Sternchen, Finn ist sehr krank.“ Sie drückte Loras Kopf an ihre Brust, damit sie ihr nicht in die Augen schauen musste. „Sehr, sehr krank“, ergänzte sie, bevor ihr die Stimme versagte.

„Ich weiß, Mama.“ Lora drückte ihre Mutter mit den dünnen Ärmchen so fest sie konnte.

„Vielleicht kann er nicht mit dir Raumschiff fahren.“

„Doch, Mama. Das kann er bestimmt.“

Frau Pfanner versuchte noch einmal, Lora dazu zu überreden, Finn doch noch einmal in seinem Zimmer zu besuchen.

„Finn muss sich von seiner Familie verabschieden. Er hat sie sehr lieb. Er hat eine ganz tolle Familie.“

Frau Pfanner verlor den Kampf gegen die Tränen und ließ sie einfach fließen. Wie war es nur möglich, dass sie ein so weises und liebevolles Kind aufgezogen hatte? Sie war nicht immer eine gute Mutter gewesen, hatte viel zu viel gearbeitet und so oft geschimpft. Dabei war Lora immer schon ein so ruhiges und liebenswertes Geschöpf gewesen. Wen kümmerte es jetzt, ob sie sich immer die Zähne geputzt hatte oder ob sie ihr lila Kleid ruiniert hatte, indem sie mit dieser grenzenlosen Hingabe einer Fünfjährigen in eine Schlammpfütze gesprungen war. Was gäbe sie jetzt dafür, Lora wieder in den Schlamm springen zu sehen, statt hier an ihrer Liege zu sitzen und dabei zuzusehen, wie die giftige Flüssigkeit in ihre Venen tropfte. Ein Kampf gegen einen unsichtbaren Gegner war viel grausamer als alle Monster, die sie sich vorstellen konnte.

„Ich hatte viel Spaß, als wir letztes Jahr durch den Regen spaziert sind“, sagte Lora leise und schmiegte sich an ihre Mutter. „Du bist die beste Mama, die ich mir hätte wünschen können.“

Woher wusste Lora nur immer, an was sie dachte? Es war geradezu unheimlich. Ein weiterer Schwall heißer Tränen bahnte sich den Weg über Frau Pfanners Wangen und tropfte auf dieses Geschenk, welches das Leben ihr gemacht hatte. Ein flüchtiges Geschenk. Das wusste sie nun. Aber ihr Sternchen hatte sie gelehrt, was Liebe wirklich bedeutete.

***

Wenige Wochen später musste Dr. Rendra auch den Kampf um Lora aufgeben. Das Kind war stationär aufgenommen worden. Mitten in der Nacht verschlechterten sich ihre Werte ohne ersichtlichen Grund.

Sie strich über Loras dünn gewordenes Haar und seufzte. „Ich würde dir so gerne helfen, Kleines.“

Im Halbschlaf griff das Kind nach ihrer Hand. „Mach dir keine Sorgen. Ich treffe bald Finn und die anderen im Raumschiff. Dann geht es mir wieder gut. Es ist nicht deine Schuld.“

„Die anderen?“ Dr. Rendra wusste nicht, warum sie diese Frage stellte.

„Nora, Thommy, Lukas und die anderen“, flüsterte Lora.

Wahrscheinlich Freunde aus dem Kindergarten, dachte Dr. Rendra und verließ das Krankenzimmer, um Loras Mutter zu verständigen.

***

Dr. Rendra beobachtete diesmal nur aus der Ferne, wie Loras Lebensenergie langsam schwand und wie sich das Kind von seiner Mutter verabschiedete. Sie ließ eine der Schwestern die Medikamente verabreichen und Frau Pfanner einen Tee bringen, was sie eigentlich immer selbst tat, wenn es mit einem ihrer kleinen Patienten zu Ende ging. Lora hatte sie jedoch ungewöhnlich stark berührt. Dieses altkluge Kind war wie eine alte Frau im Körper einer Sechsjährigen. Sie tröstete ihre Mutter, die um sie weinte und bemühte sich trotz ihrer Schwäche darum, stets zu lächeln und höflich zu sein.

Was war das nur für eine verfluchte Krebsart, die ihre Rendra-Kinder so schnell umbrachte? Es war einfach nicht fair. Es war nie fair, aber bei Lora war es dreimal unfair. Einziges Kind einer alleinerziehenden Mutter. Dr. Rendra rief einen Kollegen aus der psychiatrischen Ambulanz, denn sie wollte sichergehen, dass sich Frau Pfanner nichts antat.

Am Abend klickte sie sich wieder einmal nach Dienstschluss durch ihre Aktensammlung zu den Rendra-Kindern. Sie kamen aus allen Teilen Deutschlands, waren etwa sechs Jahre alt gewesen zum Zeitpunkt ihres Todes und ihre Milz war der einzige Körperteil, der nicht betroffen gewesen war. Ein merkwürdiges Phänomen.

Sie las erneut die Akten von Nora Holter, Thomas Schuck und Lukas Moria. Moment. Nora, Thommy und Lukas? Die Fälle waren Monate, teils Jahre her. Lora hatte sie nicht kennen können. Konnte das ein Zufall sein?

***

„Haben Sie mit Frau Pfanner gesprochen?“ Am nächsten Tag begegnete Dr. Rendra dem Psychiater in der Kantine.

„Es war ein sehr ungewöhnliches Gespräch“, sagte er, nachdem sie sich gemeinsam mit ihren Tabletts an einen freien Tisch gesetzt hatten.

„Inwiefern?“

„Nun. Die Frau wirkte wie jemand, der gerade eine Wallfahrt unternommen hat oder wie jemand, der durch tiefe Meditation zu einer Erkenntnis gelangt ist.“

„Eine Erkenntnis?“ Dr. Rendra ließ ihre Gabel sinken. „Wie meinst du das?“

„Na, du hast doch gesagt, dass die Frau nicht religiös ist.“

„Das hat sie mir selbst gesagt.“

„Sie strahlte eine Ruhe aus, wie der Dalai Lama. Es war wie ein innerer Frieden. Sie sagte, sie wüsste mit Sicherheit, dass Lora nun bei ihrer Familie ist. Sehr ungewöhnlich für jemanden, der trauert und nicht gläubig ist.“

„Hmmm“, machte Rana und schob sich etwas Salat in den Mund.

„Ich hatte auf jeden Fall nicht den Eindruck, dass sie suizidgefährdet war.“

„Umso besser“, sagte Dr. Rendra kauend.

***

Rana Rendra war eine zutiefst rationale Person und der Tod der kleinen Lora setzte ihr zu. Es gab keine wissenschaftliche Erklärung für die plötzliche Verschlechterung ihrer Situation. Was war das nur für eine fiese Krankheit? Sie musste die Rendra-Kinder einfach noch besser erforschen und untersuchen.

Es gab eine logische Erklärung für dieses Phänomen. Dessen war sie sich sicher. Innerer Frieden? Vielleicht hing auch dies mit der ungewöhnlich grausamen Krankheit zusammen.

Aus einem Impuls heraus füllte Dr. Rendra einen Antrag auf Obduktion aus. Wenn sie das zu oft tat, wurden viele Fragen gestellt, aber in diesem Fall gab sie an, für ihre Studien weiterführende Ergebnisse zu benötigen. Der Antrag wurde genehmigt und offenbar hatte auch Frau Pfanner dem Gesuch zugestimmt.

Als sie einige Tage später das Ergebnis erhielt, hatte sie nicht weniger, sondern nur noch mehr Fragen. Sie musste den Obduktionsbericht zweimal lesen und rief sogar den zuständigen Arzt an, um sicherzugehen, dass kein Irrtum vorlag. Der kleine Körper war von ungewöhnlich aggressiven Krebszellen geradezu übersät gewesen. Lunge, Magen, Darm, Blut. Alles war voller Krebs. Und die einzige Hoffnung, die Dr. Rendra gehabt hatte, wurde durch den Obduktionsbericht zunichte gemacht. Die Milz, die bei den Rendra-Kindern nie von Krebs befallen gewesen war, fehlte Loras Leichnam.

1 Kommentare

  1. Ich glaube ich hab die Idee nicht verstanden. Was soll uns das sagen? Die Kinder gehen durch die Krankheit „nach Hause“ und weiter?
    Außerdem sieht Chemo leider anders aus, also nicht so gut recherchiert.

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