
Der Kuckuck und der Esel
Kälte und Nässe. Das waren zwei Sachen, die sich bei mir nicht vertrugen. Hier in Toulon an der Côte d’Azur gab es zwar jede Menge Wasser, aber das war so warm wie ein frisches Fougasse. Der plötzliche Temperatursturz, der sich über mich ergoss, kam daher wie ein Schock. Ich quittierte ihn mit einem lauten Aufschrei und zuckte so stark zusammen, dass ich beinah aus dem Liegestuhl fiel. Verärgert suchte ich nach der Ursache und tatsächlich stand nur ein paar Armlängen entfernt eine Frau mit einem Plastikeimer in der Hand. Sie beäugte mich streng und erweckte nicht den Eindruck von Reue. Ein paar Badegäste, die dem Schauspiel zugesehen hatten, lachten. Die Nachbarn zur rechten beäugten mich fragend, hielten sich aber zurück.
»Was zum …?«, fluchte ich schnappend und stoppte mich wieder, »Flittchen?«
»Das war für die Abschlussfahrt, Verona.«
Ich schluckte einen Großteil meines Ärgers runter und zupfte meinen Bikini zurecht.
»Das war vor sechs Jahren!«
»Ich bin halt nachtragend.«
Grummelnd stand ich auf und griff unter die Liege. Mit einer Hand holte ich ein trockenes Badetuch aus der Tasche, ließ die ehemalige Klassenkameradin aber nicht aus den Augen.
»Sechs. Jahre.« Ich betonte die zwei Worte und rubbelte mich trocken. Ein Stoß im Bauch ließ mich zusammenfahren. »Au! Jetzt hast du das Baby aufgeweckt!«
Die Schlampe lachte unverschämt und zähneknirschend ließ ich es geschehen. Sie mag zwar kleiner als ich sein, aber in meinen Umständen wollte ich mich nicht in einen Kampf verwickeln lassen. Sie würde meine Ohrfeige sofort vergelten, egal ob ich schwanger wäre oder nicht. Dafür kannte ich sie zu gut. Zumal sie tatsächlich noch ein paar Muskeln zugelegt hatte, was ich für unmöglich hielt. Sie sah aus wie eine Profi-Bodybuilderin.
»Na? Wo ist deine bessere Hälfte?«, sie deutete auf meinen Bauch, der mittlerweile deutlich erkennbar war.
»Was geht das dich an? Verschwinde endlich! Du hattest deine Rache«, giftete ich pampig zurück.
»Ahja, so kindisch wie eh und je«, kommentierte die Schlampe nur. Sie kam näher und ich wich vorsichtig vor ihr zurück.
»Keine Sorge«, sagte das Biest und setzte sich auf die eigentlich besetzte Liege neben mir, »ich will noch eine Sache erledigt wissen. Setz dich!«
Ich hängte das Badetuch über meinen Rücken und kam der Aufforderung widerwillig nach.
»Was willst du noch?«, fragte ich wütend.
»Warum nennst du mich immer noch Flittchen, Verona?«
»Weil du eins bist«, stellte ich kategorisch fest. Außerdem wollte ich ihr nicht auf die Nase binden, dass ich ihren Namen vergessen hatte.
»Weißt du ... die Jungs, die mich so genannt haben, hab ich krankenhausreif geschlagen.« Sie spielte mit ihren beeindruckenden Muskeln und meine vergangene Faszination flackerte auf. Boxen, Bodybuilding, Budo. Das waren die drei Bs, die sie früher und anscheinend immer noch gerne machte. Anscheinend bemerkte sie meinen Blick und posierte für mich, ihr Sixpack wurde deutlicher und die großen Bizeps ihrer an die Hüfte angewinkelten Arme strafften sich.
»Was hatte sich geändert? Du wurdest von heut’ auf morgen biestig und hast mich gedisst«, klagte die Muskelfrau.
»Jeder in der Klasse wusste, dass du mit jedem im Bett warst, sogar die in der Parallelklasse tuschelten über dich. Und nach dem Vorfall mit Achim hatte jeder Angst vor dir.«
Als würde das alles erklären, ließ ich die Pause länger werden. Mein Gegenüber betrachtete mich gespannt. Sie wartete anscheinend, dass ich weiter redete. Sie war noch nie jemand gewesen, die sich mit halben Sachen zufrieden zeigte. Die beste Chance, sie schnell loszuwerden, war ihr zu sagen, was sie wissen wollte.
»Wenn du nicht da warst, haben die Jungs geprahlt«, erklärte ich weiter. »Eklige Geschichten, wie eng du seist und so.« Ich verzog das Gesicht, als die Erinnerungen zurückkamen, zusammen mit der Enttäuschung und den anderen Emotionen, vergraben in der Vergangenheit.
»»Männer...«, sie verzog abfällig ihr Gesicht, stützte ihre Arme auf die Knie und ihren Kopf auf ihre Handflächen. Sie schaute mich durchdringend an, als ob ich noch was ergänzen würde. Ich bewunderte ein wenig ihren kühlen Kopf, ich wäre fuchsteufelswild geworden, hätte ich solche Geschichten über mich gehört. Aber ich war ja nicht der Freak der Klasse, das war sie gewesen. In dem Moment entdeckte ich meine bessere Hälfte mit schnellem Schritt auf uns zugehen. Ich winkte der Verstärkung zu. Die Modellathletin blickte in die ungefähre Richtung, drehte sich aber schnell wieder zu mir zurück. Als ob sie glaubte, ich würde sie ablenken wollen. Ich ließ sie zappeln und wartete mit meiner Antwort. Ich schenkte ihr mein bestes Lächeln und sie zog fragend eine Augenbraue hoch. Geduld hatte sie ja, das musste ich ihr lassen.
»E pensavi ja que tu anavias prene las cornàs d'un taur.«, lachte meine bessere Hälfte. Ich wusste, dass das Flittchen kein Französisch in der Schule belegt hatte und hoffte, dass sich das nicht geändert hatte – zumal der provinziale Dialekt schwieriger zu verstehen war.
»Non, non, Océane. Te n'ai ben parlat de mon premier amor. És ela.«, antwortete ich und genoss den verständnislosen Blick der Schlampe.
»Ella? Vèst? Pensavi que tu aviás un meillhor gost.«
Ich lachte und küsste Océane leidenschaftlich. Dann blickte ich meine alte Liebe an. »Noch Fragen?«
Ihr verständnisloser Blick wechselte zwischen meiner Partnerin und meinen Bauch hin und her.
»I.V.«, sah ich mich genötigt zu erklären und war genervt. Ich wollte jetzt mit meiner Partnerin allein sein. »Kannst du jetzt endlich verschwinden?«
»Du …«, fing sie an unterbrach sich abrupt. Ihr Blick schweifte mehrmals zu mir und Océane. Wen meinte sie jetzt? Mich oder meine Partnerin? Ihr Gesichtsausdruck entgleitete als sie plötzlich Eins und Eins zusammenzählte. Hatte sie jetzt erst begriffen, dass ich sie geliebt hatte? Sie schluckte schwer und wippte mit dem Fuß, blickte auf den Sand und errötete tatsächlich. Ihr Blick wanderte überall hin nur nicht auf mich. Aber zu oft landete er auf meiner Angebeteten. Schließlich schien sie zu einem Entschluss gekommen zu sein und schaute mich an.
»Jeder wollte irgendwann Sex, da hab ich Nein gesagt. Bei ein paar musste ich handgreiflich werden. Und bei Achim ist es eskaliert«, sie pustete in die Luft, atmete tief ein und errötete wieder. »Ich bin asexuell. So, jetzt ist es raus.«
»Störe ich euch gerade bei eure Outing?«, fragte Océane und schaute uns abwechselnd an. Das fröhliche Glucksen in ihrem südfranzösischen Akzent war deutlich zu hören. Schön, dass sie es mit Humor nahm. Zumal ich meiner alten Liebe eben eine deutliche Abfuhr gegeben hatte. Aber die zwei taxierten sich mittlerweile gegenseitig. Sie kannten sich, so viel war klar.
»Océane«, sagte das asexuelle Flittchen, das keines war. Ich überlegte krampfhaft, wie sie hieß. Mir hatte es damals geholfen, ihren Namen mit einem Schimpfwort zu ersetzen, um über sie hinwegzukommen. Irgendwas mit M. Martina? Marina? Moment mal, woher kannte sie meine Partnerin?
»Hi«, antwortete Océane kurz angebunden und ihr Blick wanderte zu mir.
»Wir kennen uns. Rein beruflich«, eröffnete sie mir.
Ich glaubte mich zu verhören.
»Beruflich? Du bist Architektin!«
»Ich auch«, sagte die Muskelfrau, »wir haben uns in Straßburg kennengelernt.«
»Du? Architektin?«
Ich blickte zuerst meine alte Flamme argwöhnisch an, dann Océane. Irgendwas war faul, aber ich konnte nicht den Daumen draufhalten.
»Du bist wie die anderen, du siehst nur meinen Körper!«, hielt mir das Flittchen vor. In meinem Kopf war sie es immer noch. Die Enttäuschung aus der Vergangenheit verfolgte mich immer noch. Und jetzt erfahre ich auch noch, dass sie asexuell war! Auf der einen Seite wollte ich dieses Biest endlich loswerden, auf der anderen wollte ich auch nicht fortlaufen und sie mit Océane allein lassen. Meine Intuition sagte mir, dass die zwei sich mehr zu erzählen hatten. Ich spürte eine unbestimmte Gefahr. Mein innerer Alarm war hin- und hergerissen. Océane spürte wohl meine Verunsicherung, beugte sich zu mir runter und umarmte mich. Dann begann sie unsere Sachen zu packen.
»Wir sehen uns bestimmt nochmal in Strasbourg, Matilda, ich kümmere mich jetzt um meine Ehefrau«, sagte sie beiläufig betonte aber das letzte Wort seltsam. Aus ihrem Mund den alten Namen zu hören, war wie ein Dammbruch. Zähneknirschend und mit verschränkten Armen saß ich in der Liege. Sollte ich es dabei belassen? Ich überlegte. Es wäre eine Chance, die Vergangenheit aufzuarbeiten, vielleicht sogar mehr zu erfahren. Über Océane und Matilda. Ich hatte das Gefühl, meine Partnerin war die Situation genauso unangenehm wie mir. Aber warum? Trotz meines Gefühls der Gefahr siegte die Neugier.
»Lass uns heute Abend doch was essen gehen«, hörte ich mich sagen. Ich versuchte mich an einem ungezwungenen Lächeln. Am liebsten hätte ich meiner Laune klein beigegeben, aber ich liebte Océane zu sehr. Ich wollte ihr zeigen, dass ich über den kleinlichen Dingen im Leben stehe. »Bis dahin hab ich mich weiter abgekühlt, Matilda.«
Ich schaute sie herausfordernd an, als ich sie zum ersten Mal beim Namen nannte.
»Ich kenne da ein Restaurant, ben charmant und es gibt immer eine Platz«, sagte Océane und beschrieb den Weg, »Du kannst es nicht verfehlen. Um sechs Uhr, d'accord?«
Der Wein setzte Matilda mehr zu als Océane. Ich gönnte mir zum Anstoßen einen alkoholfreien Cocktail, blieb aber ansonsten bei Wasser. Aktuell lachten sie über meinen Streich bei der Abschlussfahrt, den ich möglichst locker erzählte. Dabei hatte ich das Gefühl, die zwei behandelten sich eher wie verloren gegangene Schwestern, nicht wie Arbeitskollegen. Matilda saß rechts auf der Bank, Océane mir gegenüber auf einem Stuhl.
»Mein FSJ hab’ isch bei de’ Feuerwehr gemacht, weissu?«, grätschte die Muskelfrau ein, als ich an die Stelle meiner Geschichte kam, in der die Feuerwehr anrollte. Sie trank noch einen Schluck Wein.
»Vèst? Oh, entschuldige: Wirklich?«, fragte Océane erheitert und musterte mich. »Habt ihr beide euch da nicht weiter gestritten?«
»Da war ich bereits nach Frankreich abgehauen, Schatz.«
Ich war enttäuscht, seit fünf Jahren arbeite ich bei den Pompiers de Marseille. Wie konnte sie das vergessen?
»Ahahaha«, lachte Matilda, «deschwegen hatte isch Probleme disch wiederschufi … Ups.«
Als sie sich fast damenhaft die Hand vor den Mund hielt und weiter kicherte, wusste ich, dass sie betrunken war. Aber sie hatte meine Neugier geweckt.
»Warum wolltest du mich wiederfinden?«, hakte ich nach.
In einem Moment der Klarheit blickte sie mich wie ein Adler an.
»Rache«, nuschelte sie.
Ich bereute es, den Restaurant-Vorschlag gemacht zu haben.
»Trink noch was«, forderte ich sie auf und plante bereits eine Revanche.
Der Alkohol wirkte zu gut bei ihr, und das hatte ich auch auf der Abschlussfahrt ausgenutzt. Als ob Océane meine Gedanken lesen konnte, trank sie kurzerhand Matildas Glas leer, bevor sie es wieder ergreifen konnte. Verärgert lehnte ich mich zurück und blickte sie an.
»Weizt du«, meine Partnerin war schon immer trinkfest, aber ihr provenzialischer Akzent wurde breiter, »Ich war genauzo borrut, äh, betrunken, weil ich meine damalige Freundin verlazen muzte. Meine Mère 'atte mich damalz in Strasbourg aufgegriffen.«
Die Geschichte hörte ich zum ersten Mal; auch erstaunte mich, dass sie sich vorsätzlich besoffen hatte. So kannte ich sie nicht. Bevor ich nachfragen konnte, was der letzte Satz bedeutete, unterbrach mich Matilda in meinen Gedanken.
»Isch hab ein paar Jahre bei meiner Ma gelebt, weissu?«, Matilda stocherte ein wenig in ihrem Brousse herum. »War total langweilisch.«
»Ja, daz ging mir genauzo«, Océane lächelte mich an. »Das Leben 'ier izt wezentlich… äh… vielzeitiger.«
Wieder konnte ich den Daumen nicht drauflegen, aber ich bekam das Gefühl, dass sich die zwei mehr erzählten. Schon heute Vormittag beschlich mich die Gewissheit, dass sie mehr gemeinsam hatten. Jetzt erhärtete sie sich. Ich wiederholte den letzten Satz in meinen Gedanken; er klang distanziert.
»Hier?«, fragte ich als einzige Nüchterne in die Runde.
»Ja, wir … Au!« Océane hatte gegen Matildas Bein getreten, lächelte mich an und bemerkte: »Wie meine Mère schon zagte: Daz 'ier izt dort wo deine Liebzten wohnen.«
Langsam hatte ich es satt. Mein Gefühl sagte mir, irgendwo war ein geheimes Beziehungsdreieck. Océane wich meinen Fragen aus, vielleicht war Matilda mittlerweile betrunken genug.
»Wohnen deine Eltern immer noch in Heilbronn, Matilda?«
»Nee, in Straschbu... Au! Hör auf misch schu treten, Oscheean!«
Sie schlug nach ihr, verfehlte sie aber. Was war hier los?
»Warum machst du das, Océane?«
»Ich ’elfe zie nüchte’n zu machen«, erklärte sie, »wuzte nicht, dass zie zo wenig ve’t’ägt!«
Bisher hatte mir meine Partnerin keinen Grund gegeben argwöhnisch zu werden. Aber die Antwort genügte mir nicht.
»Alors, Matilda«, rief Océane unvermittelt. Sie legte beide Hände links und rechts auf die Backen und blickte ihr direkt in die Augen. »Konzentrier’ disch!«
Was soll denn das? Mir wurde es zu bunt.
»Was habt ihr beide gemeinsam?«, fragte ich und blickte beide abwechselnd an.
»Wll schlll Osche...ihrchechen«, lallte Matilda durch ihre Lippen, obwohl Océane sie fast wie ein Schraubstock festhielt. Die Vokale und Konsonanten verschluckten sich gegenseitig und ich hatte keine Ahnung, was sie gerade gesagt hatte. Meine Partnerin wendete ihr Gesicht von Matilda ab und schwenkte langsam auf mich. Ihre Lippern zitterten und ihre Augen waren vor Schreck geweitet.
»Océane, was ist los?« Und als sekundenlang nichts passierte: »Bitte, Du machst mir Angst!«
Sie ließ Matilda unvermittelt los und sackte auf dem Stuhl zusammen.
»Ich …«, sie rang deutlich mit ihrer Fassung, »… 'abe wieder eine Fehler gemacht.«
Damit stand sie auf und ging zur Bedienung. Aus der Entfernung hörte ich, wie sie um die Rechnung bat. Ich setzte mich neben Matilda auf die Bank und legte zögerlich meine Hand auf ihre breite Schulter.
»Wiederhol’ noch mal, was du gesagt hast«, forderte ich.
»Nein«, sie schien etwas nüchterner zu sein und grinste mich an, »Isch wünschde ich hätte esch gemachd.«
Was sollte das jetzt heißen? Verwirrt suchte ich im Restaurant nach Océane. Ratlos stand ich auf und eilte zum Garçon, der mir nur sagte, dass unsere Rechnung bezahlt wäre. Ich verließ das Etablissement so schnell ich konnte.
Die Polizei griff mich in den Parkanlagen mitten in Toulon auf. Meine Lider waren gerötet und geschwollen von den vielen Tränen. Meine Stimme krächzte und meine Hoffnung war am Tiefpunkt. Ich hatte die Zeit vergessen, und vermutlich hatte irgendein Jogger lieber die Gendarmerie alarmiert als mich anzusprechen. Der Akku meines Smartphone war leer von den vielen Versuchen, Océane zu erreichen. Ich heulte weitere Tränen, die aus meinem schmerzenden Herz tropften. Die Ordnungshüter fragten, wo ich wohnte, aber mein Französisch weigerte sich. »Océane«, stammelte ich – der Name, der mir geblieben ist. Sie versuchten mich zu beruhigen, damit ich zusammenhängende Sätze bildete. Aber die Erinnerung zerlief, der Schmerz, der mich noch aufrecht hielt, wollte mit aller Kraft die andere Hälfte meines Herzens zurück und die Polizisten sahen ein, dass ich in einem Ausnahmezustand sei. Sie brachten mich ins Krankenhaus. Ein Arzt gab mir Beruhigungsmittel, prüfte meine Werte, die Gesundheit meines Kindes und ich konnte endlich die Fragen der Polizei beantworten. Unverrichteter Dinge fuhren sie wieder. Eine Krankenschwester holte ein Ladegerät und ich rief sofort meine Schwiegereltern in Aubagne an – hoffte, dass Océane dort war – und es klingelte und klingelte, bis sich schließlich eine verschlafene Stimme meldete. Océane? Wer wäre das? Und wer war ich? Ich müsse mich verwählt haben. Ich hörte meine Sogra noch abfällig über den nächtlichen Telefon-Terror einer Irren schimpfen, bevor sie auflegte. Verständnislos ließ ich mein Smartphone los und nur das Ladekabel verhinderte, dass es auf dem Boden aufschlug. Ich griff nochmals zu und wählte die Nummer meiner Eltern in Deutschland. Aber niemand hob ab.
An Träume konnte ich mich noch nie erinnern, aber mit meinem Erwachen wehten Traumfetzen eines Zuspätkommens in die Wirklichkeit. Ich wusste erst gar nicht, wo ich war, als mir auffiel, dass ich nicht in meinem Bett lag. Ich blieb liegen und weinte, bis jemand hereinkam, um das Frühstück zu reichen. Als wenig später mein Handy klingelte bemerkte ich, dass es voll und eingeschaltet war. Ich nahm ab, meine Mama war dran. Ob alles in Ordnung wäre, fragte sie. Mir und meinem Kind ginge es soweit gut, antwortete ich. Sie erwarteten einen Enkel? Ja, erzählte ich, das wüssten sie doch seit Monaten und verwirrt verneinte sie. Würde das heißen, dass sie jetzt heiratete? Ich war entsetzt. Sie waren doch Anfang des Jahres auf meiner Hochzeit gewesen, hielt ich ihr vor. Wie konnte sie das vergessen? Wie hieß nochmal ihr Mann? Ich war lesbisch, das wüsste sie doch. Sie entschuldigte sich. Ängstlich fragte sie sich, ob das Alzheimer sein könnte. Sie wollte, dass ich sie noch mal besuchen komme. Frustriert beendete ich das Gespräch und legte auf. Ich war doch über Ostern, also vor knapp zwei Wochen, mit Océane bei ihnen gewesen? Bei den Gedanken öffnete ich die Galerie auf meinem Smartphone, und stellte fest, dass alle Bilder mit ihr verschwunden waren. Meine Traurigkeit wandelte sich allmählich in Zorn.
Ich entließ mich mittags aus dem Krankenhaus und fuhr mit dem Zug nach Marseille zurück. Die Wohnung fand ich sehr aufgeräumt vor, was für mich typisch war. Ich durchsuchte sie nach Océane, und vermisste ihren Geruch und ihre Nähe aufs schmerzlichste. Aber es gab keine Fotos, keine Erinnerungen mehr, nur die Leere, die mich langsam von innen auffraß. Die Wohnung war gefühlt zu groß für mich. Es war, als ob etwas fehlen würde und ich machte mir Sorgen, dass ich mir Océane nur eingebildet hätte. Meine Hände fühlten über meinen Bauch, als sich das Baby wieder meldete. Nein, sie war da gewesen! In Gedanken verloren nahm ich mit leiser Wut ein Taxi zu meiner Arbeitsstelle. Seit meiner Schwangerschaft war ich nicht mehr im aktiven Dienst und kümmerte mich um Brandschutz- und Genehmigungsdokumente. Als meine Kollegen und Kolleginnen mich sahen, verwickelten sie mich in Smalltalk. Dabei wollte ich nur zu meinem Schreibtisch. Als ich ihn erreichte, hoffte ich den einzigen Beweis vorzufinden, der nicht so einfach verschwinden konnte: Meine Hochzeitsreise nach Seoul. Aber das Foto von mir zeigte mich mit Freundinnen am Namsan-Turm. Das Datum: Vor drei Jahren. In einem Heulkrampf brach ich zusammen, meine Kollegen fuhren mich besorgt ins Krankenhaus.
Mal wieder wachte ich in einem mir unbekannten Zimmer auf und Océane saß an meiner Seite. Ich wusste, das war meine letzte Chance.
»Bleib bei mir!«, flehte ich sie an, »ich liebe dich!«
»Mein Stern«, sagte sie liebevoll und streichelte mir durchs Haar.
Und sie streichelte mir über den Kopf, wie sie es immer gemacht hatte.
»Ich liebe dich!«, rief ich, und leiser: »Nur dich.«
»Nein«, antwortete sie sanft, »ich bin ein Blender.«
Ich schaute sie verständnislos an.
»Vergiss mich, du Sturkopf«, flüsterte sie. »Ich hab alles falsch gemacht. Und habe dich dabei verletzt.«
Das war keine Entschuldigung. Mir fiel auf, wie gut plötzlich ihr Deutsch war. Waren das Tränen in ihren Augenwinkeln? Sie beugte sich zu mir und küsste mir die Stirn. Ich suchte ihre Hände und hielt sie fest. Océane ließ es geschehen.
»Warum?«, fragte ich vorwurfsvoll.
»Familie«, erklärte sie als ob es alles bedeutete. Ich umfasste ihre Hand und fuhr zärtlich mit meinem Daumen über ihre Finger. Sie hatte noch meinen Ring an.
»Aber … wir sind verheiratet, wir sind Familie!«
»Nein«, sagte sie leise und ich spürte die Traurigkeit in dem einzelnen Wort. Sie zog den Ring ab. »Für mich gelten andere Regeln.«
»Warum?«, fragte ich erneut. Ich wollte verstehen, was gerade passiert.
»Weil ich meine Mutter bin ...«, sie biss sich auf die Lippe und setzte erneut an. »Weil ich kein Mensch bin.«
Die Bitterkeit in ihrer Stimme war unüberhörbar, ihr Blick fiel prüfend auf die anderen Betten. Océane seufzte tief und drehte den Ring in ihren Fingern.
»Die Erde ist nur eine Tankstation für die … uns.« Resigniert ließ Océane ihren Kopf fallen, als sie ihren Fehler korrigierte. »Ich bin ein verdammter Klon, und von mir wird erwartet, weitere Klone von mir zu erschaffen. Für das nächste Schiff, das ‚frische Besatzung‘ braucht.«
Sie gab mir den Ring zurück.
»Wir sind Baumeister, Architekten. Wir erschaffen Soldaten wie Matilda, Ingenieure, Wissenschaftler, Mediziner und so weiter. Wir alle sind vorgefertigte Ware. Aber ihr Menschen nicht. Ich beneide euch so.«
Sie seufzte wieder.
»Man sagt, alle Wege führen nach Rom. Für uns führen sie nach Straßburg.«
Der Sarkasmus stand Océane nicht. Aber ich ließ sie weiterreden, damit ich noch ein paar Minuten mit ihr genießen kann.
»Wir setzen unsere Eizellen in Menschen, und holen die Ware später ab. Beziehungen … sind dabei kontraproduktiv.«
»Weil ihr nur Frauen seid?«, fragte ich vorsichtig.
»Das auch, nicht überall wird das respektiert.«
»Selbst wenn du tausend Kinder zeugst, ich liebe dich.«
»Liebe gibt es bei uns nicht… Aber du hast mich eine Zeitlang sehr glücklich gemacht.«
»Das ist eine Definition von Liebe«, setzte ich nach.
»Es tut …«, sie unterbrach sich, straffte ihre Schultern. »Wenn ich dir nachgebe, wird man meine Baureihe auf alle möglichen Arten untersuchen. Das will ich nicht.«
Damit befreite Océane mit neuer Energie ihre Hände und legte sie auf meine Backen, wie sie es bereits bei Matilda gemacht hatte. Ich spürte wie ihr Wesen meinen Verstand erfüllte.
»Nenn unsere Tochter Océane.«
Und der Name brannte in meiner Kehle, meinem Kopf und meinem Herz. Woher wusste sie, dass ich eine Tochter bekäme? Was für ein hübscher Name!
Das Gesicht vor mir entfernte sich und ich fragte mich, warum ich im Bett eines Krankenhauses lag. Ich heulte und wusste nicht weshalb. Es war, als hätte ich etwas Wichtiges verloren.
Leicht benommen blickte ich zur Schwester auf, die neben meinem Bett stand und ihre Händinnenflächen besorgt anschaute. Sie weckte ein Gefühl in mir, das ich zuerst nicht benennen konnte. Es schmeichelte mich mit Plusch und Samt. Und als ich ihr Gesicht sah, kamen Ewigkeiten und vergingen wieder. Ich ergriff ihren Arm und stellte mir vor, wie ich mit ihr in einem blauen Himmel in die Unendlichkeit entfliehen würde. Meine Begierde wuchs, ich wollte sie haben. Die Fremde befreite ihren Arm aus meiner Umklammerung und trat mit einem schnellen Schritt zurück.
»Du wirst immer mein Lieblingsmensch sein«, sagte die Schwester zu mir. Ich streckte meinen Arm aus – wollte sie wieder berühren – aber sie drehte sich um und ging mit flotten Schritt zur Tür, die sich gerade mit Schwung öffnete. Ein Arzt betrat das Zimmer und die beiden stießen aufeinander. Die Krankenschwester entschuldigte sich und reichte ihm die heruntergefallene Patientenakte.
»Sie ist noch etwas verwirrt, aber stabil«, hörte ich sie in einwandfreiem Französisch sagen. »Ich denke, wir können sie morgen entlassen.«
