Zuhause in den Sternen
KURZGESCHICHTE
35.353 Zeichen
5.578 Wörter
Als kleiner Junge erzählte ich jedem, der nicht schnell genug weghören konnte, großspurig von meinen Plänen, als Astronaut das ganze Weltall zu erkunden. Was diesen Traum in mir heraufbeschworen hatte, wusste ich nicht mehr und als ich sie frage, waren meine Eltern genauso ratlos. Einst hatten sie sich dieses Fernweh zunutze gemacht, um mich zu den »dafür nötigen schulischen Leistungen« zu motivieren. Allerdings überraschte es sie sicherlich selbst, ihren Sohn eines Tages tatsächlich im Studium der Astrophysik wiederzufinden.
Dabei war es am Weltall nie das Wissen gewesen, zu dem ich mich so hingezogen gefühlt hatte, sondern vielmehr das Gefühl, das ein Blick in die Sterne in mir auszulösen vermochte. Der Kosmos war so unvorstellbar groß, dass in seiner Gegenwart all meine Probleme völlig unwichtig waren. Die Sterne und ich, wir verstanden uns auf eine besondere Weise. Die meisten Menschen hingegen, schienen so weit entfernt von mir wie unsere Erde von der Sonne.
Hätte nicht ein außergewöhnliches Aufeinandertreffen mein Leben aus der Bahn geworfen, hinge ich wohl heute noch in dieser elliptisch-taumelnden, doch immer-gleichen Umlaufbahn fest.
Das Letzte, an das ich mich erinnerte, war der Vorabend meines 21. Geburtstages. Wie jedes Wochenende hatte mein engster Freund und Wohnheim-Mitbewohner mich überredet, ihn bei seinen Expeditionen in das Nachtleben der Großstadt zu begleiten. Sätze wie »Wenn du dich nur in deinen Lehrbüchern vergräbst, lernst du nie jemanden kennen!«, knallte Yannik mir jeden Samstagabend in den unterschiedlichsten Variationen um die Ohren, und wie jeden Samstagabend war ich auch dieses Mal darauf hereingefallen.
Er hatte ein gewisses Charisma, dem sich nur wenige Menschen entziehen konnten. Mit seinem treuherzigen Retriever-Lächeln wollte man ihn einfach gernhaben, und ebenso von ihm gerngehabt werden. Warum er ausgerechnet einen Sonderling wie mich in seinen engsten Vertrautenkreis adoptiert hatte, gehörte genauso zu den Rätseln, die ich noch nicht gelöst hatte, wie seine Gabe der zwischenmenschlichen Interaktion selbst.
Eigentlich war es ziemlich praktisch, mit ihm befreundet zu sein. In jedem Club und jeder Bar fand er neue Freunde. Teils schleppte er im Viertelstundentakt Mädchen an, die er mir unbedingt vorstellen musste. Mehr aus Höflichkeit, als aus wahrem Interesse entstanden ein paar affektierte Gespräche. Eins nach dem anderen verebbte allerdings schnell wieder, sobald seine treibende Kraft zu den nächsten Abenteuern aufgebrochen war, die er hinter dem Horizont bereits witterte.
Letztendlich kam auch dieser Abend im Spätsommer wie jedes Mal zuvor zu seinem jähen Ende: Ich stand mit einem Getränk auf der Tanzfläche, das ich lediglich als Vorwand für meine Zurückhaltung noch nicht ganz leer getrunken hatte. Yannik schunkelte vor mir, eng umschlungen mit einer – so wie ich mir aus ihren Gesprächsfetzen abgeleitete – Medizinstudentin. Ihren Namen hatte ich nicht verstanden – oder ihn wieder vergessen –, aber meinte mich zu erinnern, dass er mit A begann.
Er näherte sich ihr allmählich zu einem Kuss, aus dem sie sich verschüchtert herausdrehte. Mit großen Rehaugen sah sie zu mir, als wäre sie in der Form eben jenes Tieres auf einer nächtlichen Straße im Scheinwerferlicht meines Wagens zum Stehen gekommen. Ich machte beinahe erneut den Fehler, mir einzubilden, dass sie mir mit diesem allzu vielsagenden Blick zu vermitteln versuchte, diesen Kuss eigentlich für mich bestimmt zu haben. Allerdings erschien mir unter Berücksichtigung vergangener Erlebnisse die Deutung wahrscheinlicher, dass sie vielmehr dem Gefühl der Störung meiner Gegenwart in jenem sehr innigen Moment der Zweisamkeit Ausdruck verleihen wollte.
Ich murmelte etwas, das sie in der Lautstärke unmöglich verstanden hätten, und überließ es ihnen, die Worte als Entschuldigung oder Verabschiedung zu deuten.
In Zeitlupe – so schien es – zwängte ich mich durch die feiernde Menge und brach durch die Wand aus kaltem Qualm all jener, die draußen ihre Sucht befriedigen mussten. Es war, als tauchte ich an die Oberfläche eines eisigen Meeres. Die kühle Luft erfüllte meine hungrigen Lungen und erinnerte mich, unbewusst den Atem angehalten zu haben. Ich wandte instinktiv den Blick in Richtung Himmel – doch die Stadt blendete in ihrem grellen Glanz. Sie erstickte alle Sterne, und einzig mein unbeugsamer Glaube, überzeugte mich ihres Leuchtens, das ich einfach nur nicht sehen konnte.
Am folgenden Morgen fühlten sich die 80 Zentimeter meiner Wohnheim-Koje erneut viel zu groß für mich alleine an. Es war mein Geburtstag, und ich hatte nicht mehr gehört, ob Yannik mit oder ohne Begleitung heimgekommen war. Wahrscheinlich war das auch besser so. Mein Blick fiel auf eine kleine Uhr auf dem Nachttisch, die zwischen aufgestapelten Büchern aus der Unibibliothek hervorlugte. Ich quälte mich langsam aus dem Bett und verschob die Überprüfung ihrer Ablauffristen auf einen späteren Zeitpunkt. Es war gerade noch morgen, und wenn ich trödelte, würde ich nicht rechtzeitig bei meinen Eltern eintreffen, die mich zum Anlass des Tages zu sich eingeladen hatten.
Nach einer kurzen Dusche trottete ich in die Küche der Wohnung, und begann, die Kaffeemaschine mit mehrmaligem gutem Zureden zum Gehorsam zu bewegen. Der Architekt des Wohnheim-Komplexes war offensichtlich der Meinung gewesen, dass ein Gemeinschaftsbereich mit der Grundfläche eines Badetuchs genau die richtige Größe hatte, um den Kontakt zwischen den Studierenden zu fördern. Trat ich aus der Küche einen Schritt zu weit zurück, stieß ich schon gegen den mickrigen Esstisch, hinter dem eine Sitzbank ihres eingeklemmten Daseins fristete.
Etwas gedankenverloren wanderte mein Blick zu Yanniks verschlossener Tür. Im Gegensatz zu mir konnte er ein echter Langschläfer sein, zumal er nach seiner Rückkehr aus nicht näher genannten Gründen meist längere Zeit nicht zum Schlafen kam.
Mit einer Toastscheibe im Mund brach ich schließlich zur Bahn auf. Den Weg war ich so oft gefahren, dass jedes weitere Mal schon in einer undefinierbaren Masse aus Erlebnissen verfloss. Die Achsen ratterten matt über die Gleise, während meine Augen möglichst unverfänglich Ausschau hielten. Abgesehen von der unauffällig hübschen Studentin mit absurd großer Rundbrille, auf dem Viererplatz eine Reihe vor mir, gab es kein Augenpaar, das mein Interesse geweckt hätte. Mir fehlte der Mut, sie anzusprechen, doch hegte ich die leise Hoffnung, sie könnte den Blick erwidern – ein Privileg, das nur dem Bildschirm ihres Smartphones zuteilwurde.
Leicht enttäuscht, aber wenig überrascht wandte ich mich schon bald dem Fenster zu, hinter dem die vorbeiziehende Landschaft vom Licht der Sonne in brodelndes Gold getaucht wurde. Der Sommer näherte sich seinem unausweichlichen Ende und mit den kürzer-werdenden Tagen senkte sich die Melancholie einer sanften Wehmut auf mein Herz.
Bevor ich um die Ecke zum Haus meiner Eltern bog, war mir, als stünde ein fremdes Auto in der Einfahrt – das ich jedoch einen Moment später nicht vorfand. Ich öffnete die Tür und merkte auch dort direkt, dass etwas nicht stimmte. Kein Geruch von Essen war zu vernehmen und es lag eine geisterhafte Stille über den Wänden, in denen ich meine Jugend verbracht hatte.
Ich zog die Schuhe aus und hing die Jacke an der Garderobe auf. Als ich in den Wohn- und Essbereich trat, rechnete ich schon halb damit, dass eine Reihe von Freunden aus den Ecken sprangen, und mich mit einem »Überraschung!« in ihrer Mitte willkommen hießen – doch nichts dergleichen passierte. Der Esstisch war leer, und als ich zur offenen Küche schaute, fand ich niemanden vor. Normalerweise waren dort meine Eltern. Mit einem warmen Lächeln hätte Mama sich zu mir gedreht, nachdem sie den Verschnitt vom Gemüse in einen kleinen Bio-Mülleimer geschoben hatte, der immer auf der Arbeitsplatte stand.
Stattdessen bemerkte ich den steril-bitteren Geruch von Ozon, der auf einmal stärker geworden war, und als ich mich zum Wohnzimmer drehte, sah ich sie das erste Mal.
Ein fremder Mann und eine Frau, vielleicht Mitte Ihrer Vierziger und ein Mädchen, das in etwa mein Alter haben musste. Sie hatten sich nebeneinander aufgereiht, als posierten sie für ein Foto und warteten nur darauf, dass der Fotograf endlich eintraf.
»Adrian«, nannte die Frau mich beim Namen und schien so, als wollte sie mich aus einem mir schleierhaften Grund beschwichtigen. Mit ihren langen, unnatürlich blonden, unnatürlich glatten Haaren schien eine schwerelose Leichtigkeit sie zu umspielen.
»Kennen wir uns?«, fragte ich.
»Nein, noch nicht.«
»Ist etwas passiert? Wo sind meine Eltern?«
Sie versicherte sich eines Blickes bei dem Mann, der ihr mit einem bestimmten Nicken das ersehnte Rettungsseil zuwarf. »Sie sind nicht hier«, erklärte er mit kräftiger, doch sanfter Stimme und schob schnell hinterher: »Aber es geht ihnen gut. Hab keine Angst.«
»Wir sind uns bewusst, das du viele Fragen haben wirst«, fügte die Frau hinzu. »Wir haben diesen Ort ausgewählt, weil wir dachten, dass ein vertrautes Umfeld es für dich einfacher machen würde. In Wirklichkeit ... ist das hier allerdings gar nicht dein Elternhaus.«
Ich verstand nicht, worauf sie hinaus wollten. Vor einem Moment war ich zur Tür hineingelaufen und sie versuchten mir zu erzählen, dass das hier nicht das Haus war, in dem ich 19 Jahre lang gelebt hatte? Ich schien unbewusst einen Schritt zurückgetreten zu sein, weil die Frau plötzlich die Hände beschwichtigend anhob. »Na los, zeig es ihm schon!«, sagte sie zum Mann.
Er entgegnete einen kurzen Ausruf, wie »Ist ja gut!« oder »Bin schon dabei!«, den ich allerdings nicht verstand, weil er eine mir fremde Sprache verwendete. Ich warf einen flüchtigen Blick zur jungen Frau, die sich leicht hinter den beiden zu verstecken schien und so nervös wirkte, dass sie bislang kein einziges Wort herausgebracht hatte. Jedoch konnte ich sie nicht weiter mustern, weil etwas anderes mir die Sprache verschlug. Mit einem Schritt war der Mann zur Wand neben sich getreten und hatte wie bei einem Touchscreen einige Male darauf herumgetippt.
Als wären alle Farben aus dem hölzernen Parkett des Bodens entwichen, nahm unser Untergrund die Gestalt von transparentem Glas an und enthüllte den Blick auf die Landschaft von Zentraleuropa unter uns. Wie Eisschollen trieben die Ausläufer von Wolken im Strudel eines gigantischen Wirbels, dessen Zentrum sich über dem Ozean irgendwo zwischen Großbritannien und Island entladen musste.
Ein panischer Laut entglitt meiner Kehle und ich stolperte zurück. Meine Beine hatte offensichtlich ihre Kraft verlassen, denn ich fiel nach hinten um. Die beiden sprangen einen Schritt auf mich zu, doch verweilten in gebührendem Abstand. Ich sah erneut herunter. Das war kein Bildschirm, kein fauler Trick, und eine optische Täuschung konnte es ebenfalls nicht sein. Ich hatte durch mein Studium genug Bilder der Erde aus dem geostationären Orbit gesehen. Auch wenn es unglaublich schien, so blieb nur eine einzige Erklärung übrig.
»Ihr seid ...!« Mir blieb die Luft weg.
»Wir stammen nicht von der Erde, Adrian«, erklärte der Mann.
»Und die Wahrheit ist«, fügte die Frau hinzu, als hätten sie dieses Gespräch wie ein Bühnenstück auswendig gelernt, »dass auch du nicht von der Erde stammst.«
Ich sah sie mit offenem Mund an und sie begann zu erklären – ja sich regelrecht rechtzufertigen: Es sei in der Gesellschaft der Aliens ein Brauch – oder vielmehr eine Notwendigkeit –, dass ihre Kinder von fremden humanoiden Spezies geboren und aufgezogen würden.
Von ihren Ausschweifungen bekam ich in jenem Moment jedoch bestenfalls die Hälfte mit. Den Rest musste ich mir im Nachhinein zusammenreimen. Ihre Worte glichen dem Fluss eines Wasserfalls; nur war dessen Quelle so weit über mir, dass mich lediglich ein lauwarmer Sprühnebel erreichte.
Erst als der Mann merkte, dass ich nicht zu folgen schien, blendete er an der Konsole den ursprünglichen Boden des Raums wieder ein und bremste sie sanft. »Liebling«, sagte er und legte eine Hand auf ihre Schulter, »ich denke, Adrian braucht noch einen Moment.«
Sie sah uns stolpernd an. »Oh, ja ... natürlich.«
Es hätte sich wie die eine Erklärung anfühlen sollen, die endlich alles ordnete; und irgendwie tat sie das auch. Doch mehr als Erleichterung, dass mit mir nichts falsch war, umkreisten meinen Kopf völlig ziellos die Gedanken, bis sie in die Atmosphäre fielen und als Sternenschauer über den Polkappen meines Geistes niedergingen.
Ich sah zu ihnen auf und wollte etwas sagen – brachte aber nur ein heiseres Krächzen heraus. »Das ... kann nicht sein.«
Da fiel mein Blick zum ersten Mal auf das Mädchen, das bislang kein einziges Wort gesagt hatte. Neben ihrer Nervosität, die sie auch durch angestrengtes Kauen auf ihrer Lippe nur schwer verbarg, lag etwas seltsam Durchdringliches, zugleich Tieftrauriges in ihren Augen. Wie von einem verschreckten Tier funkelten sie mich aus dem Schutz der Dunkelheit ihres Ponys an. Obwohl ich sie nicht ganz erkannte, konnte ich nicht wegsehen. Ich war nur sehr selten so angeschaut worden – ungeteilt, von so völlig entwaffnender Tiefe. Allein mit diesem Blick fing sie, ohne je ein Wort gesagt zu haben, all meine Gedanken auf einen Schlag wieder ein.
»Wir mussten lange auf dieses Treffen warten«, führte der Mann fort. »Es ist kein Tag vergangen, an dem wir nicht an dich gedacht haben. Obwohl wir alle physischen Merkmale übernehmen, fügen sich unsere Kinder nie vollständig in andere, interplanetare Völker ein. Doch darüber brauchst du dir jetzt keine Gedanken mehr zu machen.«
Sie nannten es nicht beim Namen, aber die Art wie sie ihre Hintergründe und wahren Absichten geschickt umrissen, ließ nur einen Bereich übrig, den sie noch nicht betreten hatten. Sie würden mir all das nicht erzählen, wenn sie nicht gekommen wären, um mich abzuholen, und wer außer meiner Familie – meiner leiblichen Familie – würde das schon tun?
Doch der Freude der Wiedervereinigung haftete ein übler Beigeschmack an. Was war mit meinen richtigen Eltern – den Menschen, die mich all die Jahre aufgezogen hatten?
Ich musste elendig ausgesehen haben, wie ich dort immer noch lethargisch am Boden saß. Tränen schossen mir in die Augen. Sie schienen die Frau, die ich inzwischen für meine Mutter hielt, mutig genug zu stimmen, um sich neben mich zu hocken. Mit beiden Armen schloss sie mich etwas unbeholfen in eine Umarmung. »Keine Angst. Jetzt kann dir nichts mehr passieren«, flüsterte sie und es brach eine verletzliche Trauer in ihre Stimme, als sie sagte: »Ich bin auch auf der Erde geboren worden.«
»Aber ... was ist mit meiner Familie?«
Sie öffnete die Umarmung und wies auf das Mädchen – meine vermeintliche Schwester. »Ich ... habe im Austausch die Tochter deiner Zieheltern geboren und sie ist bei uns aufgewachsen. Wir tauschen nun wieder zurück. Klara wird ihren ursprünglichen Platz hier auf der Erde einnehmen, und du deinen bei uns.«
Die Blicke von meiner Tausch-Schwester und mir trafen sich ein zweites Mal. Dann musste sie ein Mensch sein, wobei ich bislang keinen merklichen Unterschied festgestellt hatte. Klara konnte den aufkeimenden Drang, auch an dem Gespräch teilhaben zu wollen, nicht vollkommen hinter ihrem Unbehagen verstecken. Sie hob leicht das Kinn, strich ihren Pony seitlich aus dem Gesicht und ich erkannte, dass ihre Züge eine geradlinige Klarheit umspielte. Ihr Körper war von zierlicher Statur; die fast schwarzen Haare fielen in langen Fransen bis knapp unter das Kinn und mündeten am Hinterkopf in ein borstiges Büschel – zweckmäßig gebändigt, wie ihre ganze Natur es zu sein schien. Nur ihre Augen brachen aus dem Bild heraus: scharf, leicht verstohlen und unnachgiebig wachsam, als würden sie jede noch so kleine meiner Bewegungen verfolgen, intensiv abwägen und bewerten.
»Möchtest du Adrian nicht auch begrüßen, Liebes?«
Klara zuckte unmerklich auf die indirekte Aufforderung ihrer Mutter. Sie blickte etwas ertappt umher und schließlich zu mir. »Doch, schon ... also–« Sie blinzelte und wischte die Strähne erneut aus dem Gesicht. »Freut mich.«
Ich bedachte sie mit einem freundlichen, aber leicht zurückhaltenden Nicken, bevor mein Vater wieder sanft in das Gespräch einstieg. »In Ordnung, wir würden dann alles für den Austausch vorbereiten.«
»Nein.« Das kleine Wort war mir fast beiläufig entglitten, doch nun stand es wie ein unumstößlicher Monolith im Raum zwischen uns. Ich driftete in Gedanken ab. Etwas in meinem Inneren war noch nicht sortiert. Eigentlich hätte es sich gut anfühlen sollen – wie die Rettung aus einer mir lebensfeindlichen Umgebung –, doch tief in mir verweilte etwas an diesem fremden Ort, den ich mein Leben lang ›Zuhause‹ genannt hatte.
Die beiden Eltern tauschen ein paar irritiert-verständnisvolle Blicke aus. »Aber«, begann mein Vater, »Du gehörst nicht hierher. Du spürst doch, dass du–«
»Ich ...!«, rief ich noch immer halb verloren in Gedanken und stand allmählich wieder auf. »Ich muss nachdenken.«
Ich wusste nicht genau, was mich schnellen Schrittes aus dem Raum trug, doch ich brauchte diesen Moment. Sie warfen mir ein »Adrian!« hinterher, aber ich fand mich auf der Flucht an einen Ort, der sich immer am meisten nach Heimat angefühlt hatte.
Mein Zimmer lag im Dachgeschoss, links und rechts umrahmt von Dachschrägen. Ich wusste, dass es lediglich Teil der holografischen Kopie war, welche die Aliens von meinem Elternhaus angefertigt hatten, und doch war es das Beste, das ich momentan finden konnte. Die Staubkörner tanzten freudig im Lichtstrahl des Gaubenfensters, als hätten sie meine Rückkehr sehnlichst erwartet.
Ich trat mit stiller Ehrfurcht ein und schloss die Tür zur Zeitkapsel meiner Jugend hinter mir. Dort hing die Sternentapete, die in der Dunkelheit grünlich glühte, die Poster von Astronauten, das Zertifikat über den nach mir benannten Stern und mein alter Sternenprojektor. Es war viel Zeit vergangen, seit ich sie zuletzt gesehen hatte. Einst waren all diese Dinge für mich der Quell einer Begeisterung gewesen, die mir ebenso endlos geschienen hatte wie das Universum selbst.
Was hätte ich früher nicht gegeben für diese Chance, die sich mir nun so bereitwillig anbot? Ein Leben unter fremden Himmeln – unter Aliens – unter meinesgleichen! Vielleicht sahen auch sie in den Himmel auf – vielleicht würde ich dort finden, wonach ich auf der Erde vergeblich suchte.
Es klopfte sanft an der Zimmertür. »Hier ... ist Klara«, hörte ich die Stimme des Mädchens. »Darf ich eintreten?«
Es war eine einfache Frage, doch etwas an ihr ließ mich verharren. Ich trat langsam näher zur Tür und antwortete, halb verloren in Gedanken: »Weiß ich noch nicht ...«
Sie schien einen Moment lang zu überlegen, wie sie auf meine recht unkonventionelle Antwort am besten reagieren konnte. Doch ich hörte, wie sie sich umdrehte und langsam mit dem Rücken gegen die Tür gelehnt zu Boden sank. Ich verharrte weiterer Geräusche, die für mehrere Sekunden ausblieben.
»Tut mir leid, dass ich nichts–«, begann sie, brach dann wieder abrupt ab. »Ich hab dich mir ganz anders vorgestellt.«
Ich senkte den Kopf im Versuch, ihrer Stimme zu lauschen. Sie klang zerbrechlich, wie feines Glas, das bei der kleinsten Bewegung zu zerspringen drohte – und doch schwang darunter eine kaum greifbare Kraft mit, die es ihr erlaubte, diesen Moment würdevoll zu tragen.
»Es ... ist schwer ...«, sagte sie weiter, obgleich ich merkte, welche Anstrengungen es sie kostete, sich mit sich selbst zu unterhalten. »... sich vorzustellen, dass dieser Ort hier nun mein Zuhause werden soll, meine ich. Ich wusste zwar ..., aber es zu erleben ist etwas völlig anderes.«
Ich trat vorsichtig noch näher an die Tür, während ich ihren Worten wie hypnotisiert lauschte. Es waren nur Oberflächlichkeiten, die sie von sich gab, aber etwas daran fühlte sich so unsagbar ... vertraut an.
»Aber was ist überhaupt ein Zuhause? Was ist, wenn ich mich hier so leer fühle wie schon auf Therakcon? Und wenn nicht auf der Erde, und auch nicht auf Therakcon ... wohin gehöre ich dann?« Sie seufzte die Spannung in ihrer Stimme fort. »Du kennst diese Leere auch, nicht wahr? Ich sehe das – in deinen Augen.«
Ich kannte sie ... sehr gut sogar. Ich wusste, was es hieß, von Allen missverstanden zu werden. Auf sonderbare Weise waren wir uns gar nicht so unähnlich. Sie zweifelte genauso am Tausch, der ihr sicherlich ebenso auferlegt worden war – und ich war die einzige unbefangene Partei in diesem Urteil. »Du wusstest also die ganze Zeit von mir?«, fragte ich.
»Solange ich denken kann!«, antwortete sie hastig, als hätte sie Angst, ich würde andernfalls wieder aus dem Gespräch fliehen. »Mama und Papa haben sehr lange nach einer passenden Familie für dich gesucht.«
»Und mich selbst großzuziehen, war keine Option? Stattdessen vertauschen sie–«
»Das ist für deine Spezies nicht so einfach. Ihr habt keine eigene Identität. Früher wart ihr alle ein und dasselbe – alle gleich, wie eine Einheit, oder ... ein großes Bewusstsein.«
Ich hob eine Braue. »Ein großes Bewusstsein?«
Klara stieß frustriert Luft aus. »Das trifft es auch nicht so ganz.«
»Also hätte ich vor meiner Mutter stehen und glauben können, sie wäre mein Onkel, oder wie?«
»Das Konzept von relationalen Beziehungen hat in einer Gesellschaft ohne Individuen keine Bedeutung. Es gab keine Mütter, keine Väter oder Onkel. Jeder sieht gleich aus, denkt gleich und fühlt gleich.«
»Muss ziemlich harmonisch gewesen sein«, sagte ich – bewusst etwas bissig. »Wenn jeder gleich denkt, ist auch niemand ausgeschlossen.«
Sie gab ein Geräusch von sich, dass ich nicht ganz zuordnen konnte – ein Schluchzen vielleicht, ein Seufzen oder etwas dazwischen. »Adrian, ich – darf ich ... nicht doch reinkommen?«
Ich hatte meine Hand bereits auf die Klinke gelegt, weit bevor sie überhaupt gefragt hatte, und drückte sie nun einfach wortlos herunter. Mit der sich öffnenden Tür trat Klara in den Raum, und hüllte mich augenblicklich in eine Umarmung. Erst jetzt bemerkte ich, dass wahrscheinlich nur noch ein kleiner Tropfen fehlte, um sie bitterlich zum Weinen zu bringen – und ich fühlte mich schuldig.
Ungeübt und leicht verlegen erwiderte ich die Umarmung. Sie war eine Fremde für mich, und doch kam es mir vor, als kannte ich sie so gut wie niemanden sonst. Zum ersten Mal schaute ich sie wirklich an: die junge Frau mit den blassen Sommersprossen, einem kleinen Muttermal hinter der linken Augenbraue und langen Wimpern. Ihre Lippen waren trocken und brüchig. Sie hatte Angst – nicht vor mir, sondern vor einer Sache, die sie mir noch nicht offenbart hatte.
»Du kennst dieses Gefühl auch ...«, sagte sie leise, mehr zu sich selbst als zu mir. »Ich hab es in deinen Augen gesehen.«
Stumm nickte ich. Früher, als Kind, hatte sich die Welt so viel grenzenloser und bunter angefühlt. Damals – als wir noch nicht über sie nachdachten. Vielleicht war es ein falscher Schluss, aber es kam mir vor, als konnte niemand verstehen, wie es war, nirgends so wirklich dazuzugehören. Nur Klara, deren Nähe sich schon gar nicht mehr so unangenehm anfühlte, schien die einzige Ausnahme zu sein.
Sie löste sich aus der Umarmung und schaute zu mir auf. »Dein Volk hat dieses Gift freiwillig gewählt, denn Einsamkeit ist der Preis für unsere Individualität.« Sie schenkte mir ein schmales Lächeln. »Mama sagt immer, dass dieser Schmerz zeigt, wie einzigartig wir sind. Es tut weh, ja – aber ohne ihn hätten wir weder Kompass noch Ziel.«
Das Gewicht jener Worte musste wie Dornen auf den Narben lasten, die einst das Lehrgeld ihrer Erkenntnis war.
»Wissen meine Eltern von dem Tausch?«, fragte ich, inzwischen viel ruhiger.
Sie machte eine Pause, bis sie sich zu einer überraschend entschlossenen Antwort durchrang. »Nein, und sie werden es auch nicht erfahren. Du wurdest an meiner Stelle geboren und hast damit das Gegenstück meiner biologischen Identität angenommen. Kein Mensch wird in der Lage sein, dich und mich auseinanderzuhalten, ganz gleich, ob wir anders aussehen.«
Ich sah sie ungläubig an. Nur ein stimmloses »Was?« kam mir über die Lippen.
Sie wich meinen Augen genauso schnell wieder aus. »Jetzt verstehst du, warum ich solche Angst hatte, dich zu treffen.«
Mein ganzes Leben – alles, was ich war – sollte allein durch ihre Anwesenheit austauschbar sein? »Das kann nicht sein!«, sagte ich.
Sie presste nur stumm ihre Lippen aufeinander.
»Auch meine Eltern? Sie werden doch ...«
Klara schüttelte weiter sanft den Kopf. »Es mag schwer für dich vorzustellen sein, weil du ein Mann bist und ich eine Frau, aber es liegt in deiner Genetik.«
»Du ... du bist doch ganz anders!«, begann ich, und noch während ich meine Argumente im Kopf formulierte, entkräftete eine innere Stimme sie – still und einfach mit der simplen Tatsache, dass ich kein Mensch war, und meine Spezies völlig anders funktionierte. Dennoch wehrte sich eine fest verwurzelte Überzeugung in mir gegen diese Einsicht. Ich wusste, dass sie falschliegen musste. Ich wusste es einfach!
»Es tut mir so leid«, sagte Klara.
»Ich glaube das nicht!«
Sie blinzelte. »Adrian–«
»Meine Eltern werden es bemerken. Komm mit und ich zeig es dir!«
Sie sah mich mit großen Augen an. »Das ... das geht nicht. Das ist–« Sie stockte. »Wir müssten dazu beide runter, und das Risiko, dass uns irgendwer zusammen sieht, ist einfach zu hoch.«
»Ich glaube dir! Ich glaube dir wirklich, dass du überzeugt davon bist, aber ich weiß einfach, dass es nicht sein kann.«
Sie schaute sich um. »Ich ... würde es dir gerne beweisen, aber es gibt ein Protokoll und–«
»Liebes!«, klang es da auf einmal hinter ihr, und Klaras Mutter trat seitlich vor die Tür. »Nimm ihn doch zu deinem Erstkontakt mit!«
»Meredith!«, zischte es leise. Ihr Mann versuchte, etwas unbeholfen, den instinktiven Griff nach ihrem Arm zu überspielen, bis er merkte, dass wir auch ihn bereits gesehen hatten, und er sich nur noch in sein Schicksal ergeben konnte.
»Habt ihr uns belauscht?«, frage Klara und bedachte die beiden mit einem bösen Blick.
Ihre Ziehmutter überging die Entrüstung ihrer Tochter gekonnt und wandte sich direkt an mich. »Als ich abgeholt wurde, wollte ich es auch erst nicht wahrhaben. Deine Eltern so mit Klara zu sehen, wird wahrscheinlich eine schmerzhafte Erfahrung«, warnte sie. »Doch wenn es dir hilft, dich zu verabschieden ...«
Auch sie schien den Kern meiner Überzeugung nicht zu verstehen, wobei ich ihn ja selbst nicht ganz verstand.
»Wir romantisieren die Bedeutungen unserer Beziehungen gern«, sagte sie weiter, »die Realität ist oft ernüchternder.«
»Schatz«, versuchte ihr Mann sie zu unterbrechen. »Er kann nicht mitgehen. Im Protokoll steht–«
»Im Protokoll steht nur, was du auch hineinschreibst.«
Er seufzte entwaffnet, während sie auf uns beide zutrat, um nun Klara in eine Umarmung zu hüllen. »Ihr müsst aufbrechen, nicht wahr?«
Ihre Tochter nickte. »Ich komme sonst zu spät zur Geburtstagsparty.«
Ich musste ein abfälliges Schnauben unterdrücken. Noch war es meine Party ... doch die Überzeugung, mit der sie mir beide nun erklärt hatten, dass Klara und ich trotz offensichtlicher Unterschiede nicht für einen Menschen unterscheidbar waren, hatte das Fundament meiner Entschlossenheit etwas unterspült.
Ich stand daneben, wie sich meine leiblichen Eltern von dem Mädchen verabschiedeten, das über zwei Jahrzehnte wie eine Tochter für sie gewesen war. »Wir werden dich schrecklich vermissen, Liebes«, sagte meine Mutter und mein Vater stimmte mit ein: »Pass auf dich auf, Klara. Schau in den Himmel, wenn du dich einsam fühlst, und denk daran: Es ist nicht wichtig, woher wir kommen ...«
Sie nickte und mit einem Lächeln kullerte eine dicke Träne ihre Wange herab. »... sondern wohin wir gehen.«
Als ich die Verabschiedung der kleinen Familie beobachtete, wurde mir allmählich bewusst, dass ich einen solchen Abschied nie haben würde. Es war ein Abschied auf Lebenszeit – wie sollte man so etwas überhaupt angemessen würdigen? Auf seltsame Weise beruhigte mich die Vorstellung, denn ich wusste nicht, was ich an ihrer Stelle getan hätte. Sicherlich gab es genug Verabschiedungen von geliebten Menschen, die nicht wussten, dass sie einander zum letzten Mal sehen würden. Sie wählten ihre Worte vermutlich ohne Bedacht, wägten sie nicht ausführlich ab, bis sie zum Schlusswort wurden, das auf dem abgeschlossenen Stapel ihrer gemeinsamen Verbindung türmte.
Über dieselbe Konsole schickte mein zukünftiger Vater uns herunter in mein echtes Zimmer. Die Welt um uns zog sich in lange Streifen, und plötzlich waren die beiden verschwunden. Das Wetter vor dem Fenster hatte sich in einen durchwachsenen Vormittag verändert.
Klara flüsterte nur noch. »Kein Wort«, schien sie mit deutlichen Mundbewegungen anzudeuten.
Ich merkte ihr Zittern und nickte nur stumm. Zu sehen, wie meine Eltern sie mit meinem Namen ansprechen würden, wie sie ihnen erklären würde, dass sie eigentlich Klara hieß und sie beide den Namen, den sie einst für mich ausgewählt hatten, als Hirngespinst abtun würden – etwas in mir wehrte sich noch immer gegen diese Vorstellung.
Wir schlichen die Treppe herunter und diesmal hörte ich tatsächlich Geräusche in der Küche, und roch wohlduftenden Bratkartoffeln, die es wohl zum Mittagessen geben würde. Klara wies mich an, im Flur zu warten und dem Gespräch lediglich zu lauschen. Ein letztes Mal schaute sie zu mir. »Möchtest du das wirklich?«, schien ihr Nicken zu fragen.
Ich spürte noch einmal in mich hinein. Mein ›Wissen‹, dass sie ich nicht so einfach zu überschreiben war, hatte begonnen, leicht zu bröckeln. Es konnte mir womöglich das Herz brechen, doch ich nickte zustimmend ein stummes »Ja«.
Der letzte Gesichtsausdruck, mit dem sie mich bedachte, war ein ermutigendes Lächeln. Sie wandte sich um und atmete tief durch, bevor sie in den Türrahmen und ihrer neuen Familie entgegenschritt. Doch so weit kam es nicht.
»Oh, Adrian! Da bist du ja!« Der kalte Schweiß stieg mir in den Nacken, als ich mich zur Eingangstür drehte. Es war die Stimme meiner Mutter – und damit bezog ich mich auf die Frau, die mich aufgezogen hatte. Der Toast vom Morgen meldete sich mit saurem Gefühl in meinem Rachen.
Sie streifte ihre Schuhe ab und zog Hausschuhe wieder an. In der Hand trug sie den kleinen Biomülleimer, den sie vor dem Haus geleert haben musste. Ich war in eine Schockstarre verfallen und merkte, dass ich mir gar keine Gedanken darüber gemacht hatte, was ich tun sollte, wenn ich bereits gesehen und erkannt worden war. Nun konnte ich nicht mehr auf die kleine Fernbedienung drücken, die mich augenblicklich wieder auf das Raumschiff transportieren würde.
Mit langsamen Schritten kam Mama auf mich zu und bemerkte erst, als sie bei mir angekommen war Klara, die noch immer – ebenfalls erstarrt – an der Tür zur Küche stand.
»Oh«, entglitt es ihr beinahe beiläufig.
Ich fragte mich, wie wir beide vor ihrem inneren Auge aussehen mussten: Wie geklonte Zwillinge? Sah ich für sie dann aus wie Klara, oder sah Klara aus wie ich, oder war das Erscheinungsbild und die Assoziation mit einer Person etwas völlig Separates?
»Du hast ja gar nicht erzählt, dass du noch jemanden mitbringst – und dann so ein hübsches Mädchen!«
Mein Blick traf auf Klaras, und ich sah, dass es auch in ihrem Kopf so laut zu rattern begann, dass ich es fast bis hierhin hören konnte. Wäre ich nicht viel zu perplex gewesen, hätte ich wohl ein triumphales Lächeln aufgesetzt und zufrieden »Ich hab es dir ja gesagt!« gerufen. Doch in dem Moment war ich auf seltsame Weise beruhigt – beinahe stolz auf meine Mutter –, dass sie ihren Sohn nicht mit irgendwem verwechselt hatte. Klara hingegen sah die Frau neben mir mit blankem Entsetzen an.
Um das betretene Schweigen zumindest etwas zu überspielen, improvisierte ich. »Äh, Mama ... das ist Klara.«
»Es freut mich!« Sie machte einen Schritt auf das Mädchen zu, und erst da bemerkte ich, dass sie beinahe dasselbe Haar besaßen. Mama stoppte kurz, bevor sie Klaras Hand schüttelte.
Diese schaute sie mit großen Augen an. »Ja ... es freut mich ...«, brachte sie ungelenk heraus und fragte dann: »Entschuldigen Sie, aber ... kann es sein, dass Adrian nicht ihr Sohn ist?«
Auf mich wirkte die Frage in jenem Moment so durch und durch abwegig, dass ich überhaupt nicht verstand, wie sie darauf gekommen sein konnte. Ich hatte gerade eben bewiesen, dass wir sehr wohl unterschieden werden konnten. Vielleicht hatten die Aliens diesen Mythos immer nur weitergeplaudert – eine Verifizierung hätte schließlich den Bruch ihres ›Protokolls‹ bedeutet.
Ich hatte damit gerechnet, dass Mama sie ebenso verwundert anstarrte, wie ich es in jenem Moment getan haben musste – doch sie tat es nicht. Stattdessen trat sie wie benommen einen Schritt von dem Mädchen zurück, legte ihre Hand vor den Mund und murmelte: »Ja ist das denn ...!«
Ihre Augen rauschten ohne Halt zwischen uns hin- und her, und ein Zittern erfüllte ihre Hände, als sie vorsichtig über Klaras Augenbraue, oder vielmehr das kleine Muttermal strich, dass sich halb hinter dieser versteckte.
Es sollte noch fast vier Tage dauern, bis das Missverständnis vollständig entwirrt werden konnte. Aus der Überraschung aller Beteiligten wurde schnell klar, dass keine bösen Absichten im Spiel gewesen waren. Vielmehr hatten die Aliens, nachdem sie ihren eigenen Sohn mit dem Erdenmädchen Klara ausgetauscht hatten, nicht damit gerechnet, dass es kurz nach der Geburt einen weiteren – diesmal unbeabsichtigten – Austausch geben würde, und zwar mit mir.
Klara erzählte mir nicht viel vom richtigen Sohn der Aliens. Sobald sie ihren Eltern berichtet und diese ihn irgendwie ausfindig gemacht hatten, nahm sie seinen Platz ein und es war nur noch die Rede vom ›Mädchen‹, mit dem ich kurz nach der Geburt vertauscht worden war. Meinen Eltern mussten wir durch Klaras spontanes Erscheinen erzählen, dass wir uns zufällig getroffen und bei den Parallelen, die weit über unser Geburtsdatum hinausreichten, hellhörig geworden waren.
Als ich sie bei einem daraufhin arrangierten Treffen zum ersten Mal zusammen mit meinen leiblichen Eltern traf, war es erschreckend, wie nahtlos sie sich als die ›einzige Tochter‹ in die fremde Familie einfügte. Wir behielten unsere ursprünglichen Konstellationen bei, versicherten einander allerdings, in engem Kontakt zu bleiben.
Der Gedanke, letztlich doch kein Außerirdischer zu sein, beschäftigte mich noch eine ganze Weile. Die Idee hatte etwas Charmantes – begründete sie doch so überaus passend all meine Probleme. Vermutlich hatte ich sie aus exakt diesem Grund so bereitwillig als wahr akzeptiert.
Die wenigsten von uns waren Aliens. Vielleicht waren wir einfach nur anders, besonders, sonderbar oder einzigartig. Womöglich war es unsere Aufgabe, genau dieses ungreifbare Mysterium zu sein, zu dem uns die Geburt in diese unwegsame Welt auserkoren hatte. Wir waren wie ein Werk, das man nicht sehen; ein Lied, das man nicht hören; ein Wunder, das man nur mit geschlossenen Augen fühlen konnte. Es brauchte Geduld und die Aufmerksamkeit einer unerschrockenen Seele, um diesen Pfad jenseits der ausgebauten Straßen zu entdecken. Dennoch lag etwas Versöhnliches in der Vorstellung, dass vielleicht eines Tages jemand bewusst den Nebel durchschreiten würde, in der Hoffnung das Wunder zu finden, das sich so geschickt vor dem unruhigen Auge verbarg.
Ich hatte lange genug in den Himmel geschaut – hoffnungsvoll, dass jemand auf dieselbe Weise zu den Sternen aufblickte. Doch im Wesentlichen zeichneten sich Wunder dadurch aus, dass niemand sie für möglich hielt ... und so hatte auch ich zu keinem Moment erwartet, dass mein Blick all die Zeit bereits direkt auf sie gerichtet war.
Mir hat die art gefallen wie Situationen und Gefühle beschrieben werden. Das Gefühl nicht dazuzugehören, ich habe nicht gedacht, dass jemand mir so sehr aus der Seele spricht. Echt klasse. Ach auch die Stimme hat da ordentlich was beigetragen 😎🙌🏼 liebs
AntwortenLöschenDiese Wasserfall-Metapher! Tolles Bild! Und noch ein unerwartetes Ende. Hat mir gut gefallen!
AntwortenLöschenGute Idee. Am Ende wurde ich allerdings etwas abgehängt. Wer war nochmal mit wem verwechselt worden? Das ging mir zu schnell.
AntwortenLöschenSchön geschrieben. Literarische Qualität. Aber wie der vorherige Kommentator habe ich den Schluß nicht kapiert. Habe das letzte Drittel jetzt 3 Mal gelesen. Wo ist denn jetzt der Aliensohn? Und die Menscheneltern haben den mit Adrian vertauscht und das Mädchen irgendwie vergessen?
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