Die Anomalie
Der Tag, an dem Melinda Maibaum zum ersten Mal die neue Grundschule betrat, sollte der erste einer Reihe von merkwürdigen Tagen werden. Das Mädchen mit rostroten Haaren und dem Gesicht voll ungleicher Flecken, als hätte ihr jemand einen Pinsel mit Farbe entgegen gewedelt, blieb im Türrahmen des Klassenzimmers stehen und beobachte das Chaos. Zwei Jungen im hinteren Teil des Raumes spielten etwas auf kleinen Bildschirmen und in der vordersten Reihe bemalte eine Schülerin ihre Fingernägel. Dazwischen quer durch die Bänke geführte Gespräche und Gelächter, Taschen in denen gekramt wurde und Stifte, die über Papier schabten. Die frische Luft hatte diesem Raum schon lange keinen Besuch mehr abgestattet. Ein Tafelschwamm wurde durch den Raum geworfen und landete vor Melindas Füßen. Das Klassenzimmer verstummte, während sie sich bückte, um ihn vom Boden aufzuheben. Immer noch Totenstille, als sie den Schwamm unter die Tafel schob – wo er ihrer Vermutung nach hingehörte – und sich auf den freien Stuhl neben die pinken Fingernägel setzte. Unangenehm langsam nahmen die Mitschüler ihre Gespräche wieder auf. „Wie heißt du?“, fragte Melinda. Das Mädchen antwortete nicht. Mit schnellem Griff zog sie das aus Papier gefaltete Namensschild zu sich, drehte es um und hielt es ihrem Gegenüber vor die Nase. „Du Dummerchen, hier steht er doch.“ Susi hob eine Augenbraue und nahm ihr das Schild wieder aus der Hand. „Ich vergesse auch oft Dinge…“, fuhr Melinda fort, „…aber meinen Namen habe ich noch nie vergessen.“ Die Tür des Klassenzimmers flog auf und ein weißhaariger Zwerg mit Aktentasche tauchte vor der Tafel auf. Sein Blick blieb an dem neuen Gesicht hängen. „Du“, er nickte ihr zu, während seine Hand sie zur Tafel herbeiwinkte. Melinda schluckte ihre Aufregung herunter wie einen Kaugummi – Im Unterricht durfte man ihrer Erfahrung nach nichts im Mund haben, egal was. Vorsichtig schlich sie nach vorne, nahm ein Stück Kreide und begann ihren Namen zu schreiben. Sie schaffte es bis zu einem krakeligen L, dann brach die Kreide ab. Kurz überlegte sie, sich danach zu bücken, aber es war ihr peinlich. „Prima, setz dich!“ Susi starrte noch immer auf die Tafelanschrift, als Mel sich wieder auf den Stuhl fallen ließ, erleichtert, dass das Scheinwerferlicht sie nicht mehr verfolgte. „Ein komischer Name“, murmelte Susi, während sie mit der Fingerkuppe testete, ob der Nagellack getrocknet war. Kurz überlegte Melinda, das Missverständnis zu korrigieren, aber vielleicht war ein neuer Spitzname gar kein so schlechter Start für diesen Neuanfang, also lächelte sie nur.
Nach der Schule hatte sie mit Mama Nudeln gegessen und in einigen kurzen Worten den ersten Tag zusammengefasst. Nun bewegte sich der Zeiger der Küchenuhr bedrohlich schnell auf die Schlafenszeit zu. Diese war üblicherweise ein verschwommenes Zeitfenster zwischen 19:30 und 20:30 Uhr, das jedoch selten eingehalten wurde. Um kurz nach 9 lag Melinda mit geputzten Zähnen und gebürsteten Haaren im Bett und wartete auf ihre Geschichte. „Es war einmal ein Mädchen, das wusste schon immer, dass sie anders als die anderen Kinder war“, Mama setzte sich neben sie und strich ihr eine Locke aus der Stirn. Melinda hob eine Augenbraue. „Woher wusste sie, dass sie anders war?“ „Naja, sie hatte eine blühende Fantasie und ein Gespür für Dinge, die andere Menschen weder sehen noch hören konnten.“ Sie nickte nur, nicht sonderlich überzeugt. „Bin ich dieses Mädchen?“ „Willst du sie sein?“ Melinda schüttelte den Kopf. „Ich will normal sein.“ Sie klang plötzlich traurig. Ihre Mutter lächelte und sagte, was Mütter eben so sagen, dass sie so wie sie wäre gut sei und so weiter. Dann stand sie auf. „Den Rest der Geschichte gibt es morgen. Ich muss noch etwas arbeiten.“ Im Türrahmen blieb sie noch einmal stehen. „Hattest du heute Schmerzen?“ „Nein.“ „Dann schlaf gut.“ Als ihre Mutter das Zimmer verlassen hatte, schloss Melinda die Augen und stellte sich vor, woanders zu sein. Vielleicht auf einer Wiese, mit Blumen übersäht und von einem Fluss umgeben, der durch buntes Wasser gespeist wurde. Ein Pony trabte auf sie zu und hielt, um aus dem Fluss zu trinken, während sich mehrere Schmetterlinge auf seiner Mähne niederließen. Es war einmal ein Mädchen, das wollte normal sein, obwohl alles in ihrem Kopf schrie, dass sie es nicht war.
Als am nächsten Tag ihr Handy klingelte, erkannte Margarete die Nummer der Grundschule und musste schlucken. Dieser letzte Umzug war nicht nur ihrer Tochter, sondern auch ihr selbst verdammt schwer gefallen. Man könnte meinen, dass Neuanfänge mit jedem Mal leichter würden, aber dem war nicht so. Stattdessen wurde mit jedem Ortswechsel das Nomaden-Dasein mehr und mehr ein Teil ihrer DNA. Sie bemühte sich erst gar nicht Freundschaften aufzubauen oder gar einen Mann kennenzulernen. Die Dinge waren so schon kompliziert genug. Sie konnte es nicht verantworten, Außenstehende da mit hineinzuziehen. „Maibaum.“ Sie blieb neben einem Regal stehen, das von Salatköpfen überquoll. „Sind Sie die Mutter von Melinda?“ „Die bin ich. Was ist passiert?“ Ein tiefer Atemzug drang durch das Telefon. Dann Stille. „Nun sagen Sie schon!“ Margarete krallte sich an einem Salatkopf fest. „Ihre Tochter ist im Krankenhaus. Es geht ihr so weit gut, aber…“ Margarete fühlte ihre Brust zufrieren wie die Oberfläche eines Sees. Krankenhaus. Der eine Ort, wo Melinda nicht sein durfte. „Sind Sie noch dran? Hören Sie, wir hatten keine Wahl. Melinda hat…“ Die Frau am anderen Ende redete wie ein Wasserfall. Ein Wasserfall voll unnötiger Details, während sie die wichtigen Dinge unter Verschluss hielt. „Welches Krankenhaus?“ Margarete ließ den Salat wieder los. Ihre Fingernägel hatten das Plastik durchlöchert. Ruhig versuchte sie zu verarbeiten, was sie gerade gehört hatte. Erst jetzt schienen die Informationen ihr Hirn zu erreichen. Verdammt nochmal. „Sie hat WAS gemacht?“
Krankenhäuser sind kein Ort für Kinder, hatte ihre Mutter mal gesagt. Zu viele studierte Menschen, die an ihnen herumexperimentieren wollen. Anders als sie vermutet hatte, nahm Melinda diesen Ort nicht als bedrohlich war. Höchstens etwas hektisch. Die Gummiliege, auf der sie saß, war bequem und sogar die Nadel in ihrem Arm störte sie kein bisschen. „Tapferes Mädchen“, hatte die Krankenschwester gesagt und durch ihren Mundschutz gelächelt. Kurz darauf hatte sich eine Frau im weißen Kittel zu ihr gesetzt, auf ihrem Schoß ein Klemmbrett, an den ein Kugelschreiber geknotet war. Ihre nussbraunen Haare waren hochgesteckt und erinnerten Melinda an die Haare ihrer Schwester. „Wie fühlst du dich?“, fragte sie mit weicher Stimme. „Gut.“ „Erinnerst du dich noch daran, was passiert ist?“ Melinda las den Namen auf dem Anstecker, Dr. Lisa Bauer, dann sagte sie: „Es tut mir leid. Ich hätte das nicht tun dürfen.“ „Wieso hast du es denn gemacht? Du weißt, dass man Nagellack nicht trinken darf, oder?“ Melinda kaute auf ihrer Unterlippe herum. „Ich dachte, es wäre lustig.“ Sie zögerte. „Und ich mag rosa.“ Lisa notierte einige Worte auf dem Zettel, ehe sie wieder aufsah. „Deine Mutter ist auf dem Weg hier her. Ich muss dir noch ein paar Routine-Fragen stellen. Ist das in Ordnung?“ „Ja.“ „Bekommst du alle Impfungen vom Kinderarzt? Wirst du dort regelmäßig untersucht?“ Melinda schwieg. Sie konnte sich bei bestem Willen nicht erinnern, jemals bei einem Arzt gewesen zu sein, höchstens als kleines Baby vielleicht. Als müsste sie ein Geheimnis bewahren und wusste nicht einmal wieso. „Impfungen?“, fragte sie und sah auf ihre Füße. Lisa lächelte. „Du weißt schon, da gibt es einen kleinen Piks und dann ist es vorbei. Wer ist denn dein Kinderarzt?“ In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und vor ihr stand ihre Mutter. Die Ränder um ihre Augen verrieten, dass sie geweint hatte und auch jetzt wirkte sie außer sich. Langsam stand Lisa auf und drehte sich zur Tür. „Frau Maibaum?“ Es folgte ein hitziges Erwachsenengespräch, dem Melinda nicht zu folgen versuchte. Lisa erklärte etwas von „Intoxikation“ und „stationärer Aufnahme“. Keine Ahnung, was sie damit meinte, aber sie argumentierte es ziemlich gut. Melinda drehte den Kopf zum kleinen Fenster, wo sich in diesem Moment ein bläulicher Schmetterling niederließ, genau so einer wie sie ihn sich gestern Abend vorgestellt hatte. Sie winkte ihm zu und durch die Bewegung der Flügel sah es für einen Moment so aus, als würde er zurück winken. „Was machst du da?“ Ihre Mutter trat zu ihr ans Fenster. „Nimm deine Sachen. Wir gehen nach Hause.“ Am Fußende der Liege stand Lisa und spielte am Klemmbrett herum. „Ich empfehle Ihnen wirklich ausdrücklich, ihre Tochter weiter untersuchen zu lassen.“ Ihre Mutter warf der Ärztin einen genervten Blick zu, bevor sie, ihre Tochter an der Hand aus dem Zimmer stürmte.
„Was hast du dir nur dabei gedacht?“ Margaretes Stimme triefte vor Enttäuschung. Ihre Finger umklammerten das Lenkrad wie einen Rettungsring. Melinda zeigte keine Reaktion, stattdessen starrte sie auf das Pflaster in ihrer Ellenbeuge. „Mama, was sind Impfungen?“ Margarete fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Ich habe dir schon hundert Mal gesagt, wir beide haben unsere eigenen Regeln. Du und ich, hörst du? Wir sind ein Team. Das, was du heute gemacht hast, war nicht nur gefährlich für dich, sondern auch für die Ärztin und für alle anderen.“ Sie bemühte sich, sich das schlimmste aller Argumente zu verkneifen, aber es kam einfach hinterher und gesellte sich zu den restlichen Vorwürfen. „Du weißt doch, wie es mit Papa und deiner Schwester war. Wir dürfen auf keinen Fall riskieren, dass so etwas wieder passiert.“ Langsam beruhigte sie sich wieder. „Tut mir leid“, sagte Melinda. Außer Atem schloss Margarete die Haustür auf und winkte ihre Tochter zuerst hindurch. Ihr Blick schweifte über die Nachbarhäuser, überpflegte Gärten und geschlossene Jalousien hinweg und blieb schließlich am Briefkasten hängen, in dem eine Karte steckte. Darauf war in unsauberen Buchstaben Gute Besserung, deine Susi gekritzelt. „Du hast Post.“ Sie reichte Melinda die Karte, vorne drauf gedruckt war ein Teddybär mit einer Schleife um den dicken Bauch. Melindas Augen leuchteten auf wie zwei kleine Glühbirnen, die man ans Stromnetz angeschlossen hatte. Immer wieder las sie den einen Satz. „Ist Susi deine Freundin?“ „Meine beste Freundin!“ Stolz. Gerne hätte Margarete betont, dass Freundschaften ihr flüchtlingshaftes Leben bloß verkomplizierten, dass es so nur noch schwerer würde, wenn sie in einigen Monaten wieder umziehen mussten. Sie wollte ihrer Tochter den Schmerz ersparen, doch sie brachte es nicht übers Herz. Die kleinen Augen wieder erlischen zu sehen – Nein, dieser Preis war zu hoch.
Das Surren in ihrem Kopf war seit dem Besuch in der Notaufnahme unerträglich geworden. Mittlerweile plagten sie stechende Kopfschmerzen. Melinda saß auf ihrer Fensterbank, die Beine hatte sie gegen die Wand gelehnt, und starrte hinaus in die Dunkelheit. Vereinzelte Sterne erhellten den Nachthimmel und der Mond war nicht vielmehr ein trauriger Halbkreis. Auf ihrem Nachtschränkchen lehnte die Karte von Susi direkt neben ihrem Wecker, der 22:13 Uhr zeigte. Vorsichtig stieß sich Melinda von der Fensterbank ab und stand auf. Das schrille Quietschen ihrer Zimmertür kontrollierte sie mit einer sanften aber bestimmten Bewegung, sodass es kaum hörbar war. Sie lugte um die Ecke – etwa die Hälfte der Küche konnte sie von hier aus sehen, unter anderem Mama, wie sie in diesem Moment eine kleine Dose aufschraubte und sich zwei Kapseln in den Mund schob, die sie mit einem Glas Wasser herunter spülte. Erst als diese in ihrem Schlafzimmer verschwunden war, näherte sich Melinda der Küchenzeile, die ihr bis zu den Schultern reichte. Die Fliesen fühlten sich unter ihren Füßen betäubend an. Die vorige Wohnung hatte einen gemütlichen Holzboden gehabt, diese hier war glatt und kühl und viel zu sauber. Sie streckte ihre Hand neugierig nach der Tablettendose aus, aber sie stand zu weit weg. Daneben lagen ein paar gefaltete Blätter und Mamas Geldbeutel. Mit einer geschickten Handbewegung fischte sie einen Zettel von der Anrichte und begann zu lesen. Die Kenntnisse der zweiten Klasse reichten gerade, um ihren Namen, ihre Adresse und das Logo eines Krankenhauses zu entziffern. Das Dokument war alt. In dem Jahr, aus dem es stammte, war Melinda noch ein Baby gewesen. Enttäuscht seufzte sie auf. Sie konnte das Blatt nicht behalten, Mama würde merken, dass es fehlte. Sie beschloss, sich eins der dick gedruckten Wörter zu merken, um herauszufinden, was es bedeutete. Nach kurzem Überlegen entschied sie sich für Anomalie. Dann schlich sie wieder in ihr Zimmer, im Kopf wiederholte sie das Wort wieder und wieder. Voller Zuversicht schlief sie ein. Am nächsten Morgen jedoch konnte sie sich nicht mehr daran erinnern.
Ein wirrer Traum hatte Dr. Lisa Bauer die ganze Nacht wachgehalten. Gegen 05:30 Uhr hatte sie das Hin- und Herwälzen aufgegeben und war, mit einem Becher Kaffee bewaffnet eine Stunde früher in die Klinik gefahren. Nicht nur die Schlaflosigkeit zerrte an ihren Nerven, auch der Inhalt des Traumes waberte verschwommen durch ihren Frontallappen. Einer Laune folgend arbeitete sie sich durch die liegen gebliebenen Patientenakten der letzten Tage. Auf dem Stapel gegen ärztlichen Rat gegangen lagen G. Müller, L. Bruckner und M. Maibaum. Ah richtig! Das kleine Mädchen mit den roten Haaren, Intoxikation mit Nagellack, Impfschutz fraglich. Mit der Königin der Helikopter-Mütter. Lisa blätterte durch die Akte, viel war nicht gemacht worden, lediglich Blutwerte und ein Ultraschall. Die Blutgasanalyse war unauffällig, auch sonst hatte das Mädchen klinisch keine Atem- oder Schluckbeschwerden gezeigt. Leber- und Nierenwerte unauffällig. Sie blätterte weiter, Elektrolyte niedrig, Kalium sogar grenzwertig. Beim Blick auf das Blutbild wurde sie schlagartig hellwach. Ihre Finger packten den Kaffeebecher, während ihre Augen immer wieder die Werte scannten. Was soll das?“, sagte sie, so als würden die winzigen Ziffern sich auf Kommando korrigieren. In Sekundenschnelle griff sie nach dem Telefon und wählte die Nummer des Labors. Nehmt schon ab, ihr Trantüten, bewegt endlich euren A… „Hallo?“ „Ja ähm, Bauer aus der Pädiatrie. Ich muss einen Fehler in den Laborwerten einer 7-jährigen Patientin mit ihnen abgleichen!“ Sie gab Melindas Daten durch. Die Dame vom Labor beeilte sich nicht. Lisa schnappte nach Luft. „Ihre weißen Blutkörperchen sind viel zu hoch, dafür hat sie eine Form der Anämie, die ich so noch nie gesehen habe…“ „Wir checken das.“ Lina knallte den Hörer auf. Sie konnte nicht sagen, ob es am Koffein lag oder daran, dass sie mit einem Mal panische Angst bekam, bei Melinda etwas übersehen zu haben. Hätte ihre Mutter doch bloß ein bisschen mehr Einsicht gezeigt! Kaum überflog sie den Ultraschall-Befund, ereilte sie der nächste Schock. Die Sonographie war von ihrem Kollegen durchgeführt worden, er hatte alles brav dokumentiert, nur leider die Pathologie dahinter nicht erkannt. Auf niemanden konnte man sich hier verlassen! Lisa leerte ihren Kaffeebecher und observierte die wild verteilten Blätter vor ihr. Ein Schlachtfeld ihrer Unwissenheit. Irgendetwas stimmte mit dem Mädchen nicht. Und sie hatte es übersehen. Zwei Tage nach dem Vorfall wurde Melinda wieder in die Schule geschickt. Ohnehin hatte sie in ihrem Zimmer bloß gelangweilt auf der Fensterbank gesessen oder mit Kopfschmerzen im Bett gelegen. Je öfter sie die Schule besuchte, desto mehr wurde diese zu einem Ort, der sich vertraut anfühlte. Sie schob die störenden Gedanken, dass sie sich bald wieder verabschieden musste, einfach zur Seite. Nicht immer klappte das, denn diese Gedanken waren hinterlistig und überraschten sie aus dem nichts. So wie heute, als Susi von ihrer geplanten Geburtstagsparty im September erzählte. Im Garten mit all ihren Freunden, einem riesigen Buffet, Würstchen vom Grill und Eiscreme in allen erdenklichen Sorten. Zuerst war Melinda überglücklich über die Einladung, dann bohrte sich die Erkenntnis wie ein Pfeil tief in ihr Herz. Im Herbst würde sie schon wieder in einer ganz anderen Stadt wohnen. So ein blöder Mist. Warum war das Leben so unfair!? Ihre Augen füllten sich mit Tränen und sie schaute schnell zur Seite, sodass die anderen es nicht sahen. Tapferes Mädchen, murmelte sie in Gedanken, so wie es die Krankenschwester getan hatte, aber es half nicht. Als der Unterricht begann, war Melinda über die Ablenkung dankbar, auch wenn sie Mathe eigentlich hasste. Belangloses Rechnen half ihr, so zu tun, als würde dieses Leben für immer so weitergehen. In 2 Jahren würden Susi und sie noch immer in diesem Klassenzimmer an exakt demselben Tisch sitzen und über die Sache mit dem Nagellack lachen.
„Melinda, welches Ergebnis hast du denn raus?“ Die Stimme des Lehrers ließ sie aufschrecken. Um sie herum gespannte Augenpaare, vor ihr das karierte Blatt, auf das sie bis jetzt bloß das Datum geschrieben hatte. „Ich ähm …“ Doch der Lehrer hatte sich bereits abgewendet. Genervt zeigte er auf eine andere Schülerin, die ihm ihr Ergebnis vorlas. Melinda schluckte, da war es schon wieder, das Brennen in ihren Augen. Wieso war sie bloß für alle Erwachsenen eine Enttäuschung? Mit aller Gewalt versuchte sie die Tränen zurückzuhalten, aber sie schaffte es nicht. Schnell griff sie nach ihrer Tasche und der Jacke und stand auf. „Wo willst du hin?“ Melinda hörte den Lehrer nicht, sie ging schnurstracks zur Tür, verließ den Raum, begann zu rennen, die Treppe im Flur hinunter und aus dem Gebäude. Erst auf dem Schulhof atmete sie durch. Es war immer noch kalt für März, doch die feinen Sonnenstrahlen fühlten sich an wie eine vorsichtige Umarmung. Tränen liefen über ihre Wangen und ihr Kopf dröhnte so laut, dass sie kaum noch etwas von außen hörte. Sie konnte da nicht wieder rein. Und nach Hause konnte sie auch nicht.
Lisa war gerade dabei, fünf perfekte Minuten mit ihrem Sandwich zu verbringen, als sie die Nachricht bekam, dass eine Patientin sie sehen wolle. Ungeduldig inspizierte sie das Sandwich in ihren Händen. „Wer denn?“ Sie biss hinein. Ein in Remoulade getränktes Stück Gurke wurde posterior aus den Brothälften gequetscht und landete auf ihrer Hose, proximal des Knies. Shit. „Melinda Maibaum, sie ist ohne Eltern da.“ Oh verdammt. Sie schob das Brötchen zurück in die Papiertüte. „Setz sie in die 1, ich bin gleich da.“ „Hallo Melinda, ist alles in Ordnung?“ Das Mädchen presste sich die Hände vor das Gesicht. Lisa bückte sich zu ihr herunter. „Sollen wir deine Mama anrufen?“ Das Schluchzen verstummte. „Nein!“ „Magst du mir erzählen, wieso du weinst?“ Wenn ihre normale Stimmfarbe als sanft beschrieben wurde, war das hier Endstufe, Cashmere, weich wie ein Babypopo. Es dauerte ein paar Minuten, dann sprudelte es aus dem Mädchen heraus. Eine überschäumende Quelle ungeordneter Informationen. Sie erzählte, dass sie ständig umziehen mussten und von Susis Geburtstag, dass ihre Schwester und ihr Vater gestorben waren, als sie klein war. Dass irgendetwas nicht stimmte aber ihre Mutter ihr nicht die Wahrheit sagte. Sie habe ständig Kopfschmerzen und fühle sich merkwürdig, sie könne sich nicht an einen Kinderarzt erinnern – Ihre Mutter habe eigene Regeln aufgestellt. Lisa ließ das Mädchen erzählen, bis nichts weiter kam als Tränen. „Hör zu, Süße. Ich muss ganz kurz etwas mit meiner Kollegin besprechen, dann komme ich wieder und wir sehen weiter, okay?“
Durch den leicht geöffneten Türspalt konnte Melinda ein paar Worte aufschnappen. „Sozialdienst informieren“, hörte sie Lisa sagen, „und die Rechtsmedizin. Wir haben es mit dem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung zu tun.“ Melinda hatte es so satt, nicht zu verstehen, worum es eigentlich ging. Als würden die Erwachsenen eine fremde Sprache sprechen, deren Vokabeln sie absichtlich vor den Kindern unter Verschluss hielten. Als Lisa zurückkam, hatte sie Papierkram dabei und ein Armband, auf dem Melindas Name stand. „Du bekommst ein Zimmer hier im Krankenhaus. Wir machen noch weitere Tests, um herauszufinden, was dir fehlt. Ist das okay?“ Melinda nickte. Es war, als hätte jemand warmen Tee in ihren Bauch gegossen – Sogar ihr Kopf verstummte für einen Moment. „Danke“, sagte sie nur, obwohl sie gar nicht wusste wofür.
Was folgte, war eine Reihe verschiedener Untersuchungen. Zuerst wurde sie in einen Tunnel geschoben. Dann bekam sie eine neue Nadel in den Arm und wurde an einen Monitor angeschlossen. Sie musste sich gerade auf den Rücken legen und mit einem über Gel gleitenden Apparat konnte Lisa in ihren Bauch schauen. „Was stimmt denn nicht mit mir?“ Die Neugier war zu groß. Lisa seufzte. „Ganz ehrlich, ich weiß es nicht.“ Unsicher kaute Melinda auf ihrem Daumennagel herum, während weitere grau-schwarze Formen auf dem Bildschirm erschienen. „Das hier ist dein Herz“, sagte Lisa und deutete mit dem Finger auf eine Struktur. „Nur sollte es größer sein und … weißt du, das menschliche Herz besteht aus vier Hohlräumen, mit Klappen dazwischen und mehreren großen Gefäßen, Aorta, Lungenarterie und so weiter.“ Sie zögerte. „So wie hier sollte es eigentlich nicht aussehen.“ Melinda versuchte zu erkennen, was Lisa ihr beschrieben hatte. „Das wirft viele Fragen auf. Wie konnte das so lange unentdeckt bleiben und welche Folgen hat das für deine Gesundheit?“ Melinda fühlte sich, als hätte sie etwas falsch gemacht. „Ähnlich ist es mit deinen Bauchorganen.“ Sie wanderte weiter nach unten. „Deine Leber ist viel zu klein, die Nieren komplett morphologisch heterogen … also anders und hier sind Raumforderungen, die ich gar nicht zuordnen kann.“ Melinda bekam auf einmal solches Herzklopfen, dass sie sich an der Liege festklammern musste. „Ich weiß, das macht dir sicher Angst. Ich wollte nur ehrlich mit dir sein. Wir besprechen das mit deiner Mutter und…“ Melinda stieß das Gerät zur Seite und sprang von der Liege. „Ich will nicht, dass sie herkommt!“ Lisa runzelte die Stirn. „Ich weiß, aber so sind die Regeln. Sie ist für die verantwortlich.“
Als Margarete diesmal den Anruf der Schule bekam, wurde ihr augenblicklich übel. Das Gespräch dauerte nicht länger als eine Minute, dann wurde es dadurch beendet, dass sie sich in den Mülleimer des Parkplatzes übergeben musste. Sie wischte sich den Mund ab, fluchte, setzte sich wieder ins Auto und begann zu weinen. Etwa zwei Stunden später kam der Anruf von der Ärztin. Wie eine Wahnsinnige jagte sie den alten VW über die Autobahn. Gegen 16:00 Uhr stürmte sie den Haupteingang hinein und hoch auf die Kinderstation. Sie wurde in einen Untersuchungsraum gelotst und auf einen alten Hocker in der Ecke vertröstet. „WO IST MEINE TOCHTER?“ Margarete hatte die Höflichkeit satt. „Ich bringe Sie gleich zu ihr, versprochen.“ Dr. Bauer fuhr sich mit der Hand über ihr Gesicht. „Wir müssen uns aber davor über Melindas gesundheitlichen Zustand unterhalten.“ Sie weiß es, war das einzige, das Margarete denken konnte. Die Resignation legte sich wie ein schwerer Mantel über sie. Sie hatte es nicht geschafft, ihre Tochter zu beschützen. „Sie wissen also über die Anomalie Bescheid?“ Dr. Bauer, den Mund weit geöffnet, nickte. „Was haben Sie herausgefunden?“ Die Ärztin holte einige Blätter aus der Akte und begann zu erzählen, von einer Atrophie des Herzens, fehlenden Organen, Raumforderungen und Auffälligkeiten im Blutbild, vor allem den Zellen der Immunabwehr. Sie habe einen speziellen Bluttest angeordnet und ein Protein namens Chitin in höchster Konzentration nachgewiesen. „Dieses Protein ist kein Teil des menschlichen Organismus.“, erklärte sie, „Man findet es bei Insekten oder Pflanzen.“ Dann kam sie auf das Kopf-CT zu sprechen, erklärte etwas von dilatierten Hirnwindungen und mehreren Zysten. Als sie beim letzten Befund ankam, glich das der Ziellinie eines Marathons. Sie seufzte. „Es tut mir so leid, Frau Maibaum. Ihre Tochter ist totkrank.“ Margarete nahm einen tiefen Atemzug. Es schien keinen Grund mehr zu geben, die Wahrheit zu verschweigen. „Melinda ist nicht krank“, sagte sie, „sie ist nur nicht menschlich.“ Die Ärztin runzelte die Stirn. „Außerdem ist sie gar nicht meine Tochter.“ Das Unverständnis hatte ihr Gesicht nun so eingenommen, es erinnerte an eine Reklametafel auf der ein rotes Hä leuchtete. „Ich kann Ihnen nicht folgen.“ Margarete rutschte mit ihrem Stuhl etwas näher und kramte den Arztbrief aus ihrer Tasche – Es war das einzige Mal gewesen, dass sie Melinda hatte ärztlich untersuchen lassen. „Wissen Sie, ich war einmal eine glücklich verheiratete Frau mit einer Tochter, ihr Name war Tessa. Eines Abends gab es in unserem Dorf einen Stromausfall, der mehrere Stunden dauerte. Ein paar Anzugträger marschierten in unser Haus, ein Baby in ihren Armen und erklärten uns, dass wir jetzt für sie verantwortlich seien…“ „Moment,“, die Ärztin unterbrach den Lesefluss, „Das soll wohl ein schlechter Scherz sein.“ „Rund um unsere Kleinstadt waren mehrere unbekannte Flugobjekte gelandet. Aus dem Inneren wurden Babys geborgen, deren Eltern nirgendwo zu finden waren.“ „Wenn Sie jetzt noch anfangen, etwas von Metallimplantaten oder Zeitverlust zu erzählen, dann…“ Margarete schlug mit der Hand auf den Tisch. „Denken Sie etwa, ich war nicht skeptisch? Denken Sie, ich hätte nicht alles darangesetzt herauszufinden, was zur Hölle hier los ist?“ Schweigen. „Was ist mit Ihrer Familie passiert?“ Margarete kratzte sich am Kopf. „6 Monate nachdem Melinda zu uns gebracht wurde, starben beide an einem Tumor.“ „Und Sie glauben, dass Melinda etwas damit …“ Margarete hob die Hände. „Um sie herum werden Menschen krank. Sie verbreitet irgendeine Art von Infektion und jeder, der sich länger als 6 Monate in ihrer Nähe aufhält, dem wächst irgendwas Komisches im Hirn.“ Sie deutete auf den Befund. „Wenn uns jemand auf die Schliche kommen sollte, muss sie vielleicht ins Gefängnis oder landet in irgendeinem Forschungslabor.“
Das Medizinstudium hatte Lisa umfassend auf Konfliktsituationen mit Patienten jeglicher Art vorbereitet. Diskussionen über Ufos und außerirdische Kinder waren kein Teil davon gewesen. Das sollte sie ihrer alten Universität vorschlagen, Modul 5: Gesprächsführung mit Mitgliedern der Aluhutfraktion. „Sie sind doch verrückt…“, sagte Lisa, „und wieso werden Sie dann nicht krank?“ „Ich nehme Kapseln ein.“ „Und die haben Sie von … denen bekommen?“ „Genau, ein paar kleine grüne Männchen haben wie die Zeugen Jehovas an meiner Tür geklingelt! Nein zum Teufel, die lagen eines Tages im Briefkasten. Dazu ein ärztliches Schreiben, wie ich sie einzunehmen hätte.“ „Sie nehmen einfach irgendwelche Tabletten ein? Sie wissen doch gar nicht was darin…“ Die Tür zum Untersuchungsraum wurde aufgerissen und der Windstoß wehte Melindas Arztbrief beinahe vom Tisch. „Dr. Bauer, wir brauchen Sie in der 203. Irgendwas Seltsames geht da vor sich!“ Die Krankenschwester war außer Atem und verschwand ebenso schnell wie sie aufgetaucht war. Ohne nachzudenken sprang Lisa auf, rannte ihr hinterher – Sie rannte nie, das war im Krankenhaus gefährlich – nahm in der letzten Kurve fast den Verbandswagen mit, der mit einem Krachen gegen die Wand prallte, und hielt vor dem Zimmer wie ein Ferrari mit quietschenden Reifen. Vorsichtig stieß sie die Tür auf. Der Raum war dunkel. Etwas rauschte. Auf der Kinderstation waren einige Zimmer mit Radios und Fernsehern ausgestattet, dieses schien dazuzugehören. Lisa näherte sich langsam dem alten Kasten in der Ecke auf dem Besuchertisch und schaltete ihn aus. „Anlassen!“ Sie zuckte zusammen, als Melinda plötzlich senkrecht im Bett saß und sie anstarrte. Das Radio sprang wieder an. Was in aller Welt …? Lisa drehte sich um und zog den Stecker aus dem Radio. Das Rauschen machte sie wahnsinnig. „Melinda, ist alles in Ordnung?“ Sie war nicht sicher, ob sie wütend werden oder Angst bekommen sollte. Bei all dem Quatsch, den ihre Mutter gerade vom Stapel gelassen hatte. „Mein Kopf!“ Das Mädchen hielt sich beide Händen die Stirn. Erst war das, was aus ihrem Mund kam eine Mischung von unzusammenhängenden Lauten, dann ganz plötzlich fing sie an zu schreien. Das Zimmer lichtete sich. Genauer gesagt erschienen immer mehr helle Flecken am Fenster, die Tageslicht hindurch ließen. Lisa kniff die Augen zusammen, um zu erkennen, was da am Fenster los war und als sie sah, dass es Schmetterlinge waren, die von außen an der Scheibe gesessen und das Zimmer verdunkelt hatten, breitete sich ein flaues Gefühl in ihrer Magengegend aus. Mit ein paar Schritten war sie am Bett des Mädchens und griff nach ihrer Hand, gerade als Frau Maibaum im Türrahmen erschien. Melinda verstummte. Für einen Moment war da ein Ausdruck von Panik in ihren Augen, dann verlor sie das Bewusstsein. „Melinda, kannst du mich hören?“ Keine Reaktion. Sie muss sofort ins CT, wollte Lisa gerade rufen, als etwas auf ihrer Hand landete. Vor Schreck sprang sie vom Bett, doch als sie sah, was es war, erstarrte sie. Auf ihrer Hand lag eine Insektenlarve, daneben auf dem Laken eine weitere. Noch zwei Larven krochen Melindas Arm entlang, eine in diesem Moment durch den intravenösen Zugang. Das kann nicht… Lisa schnipste die Larven weg, aber es kamen immer wieder neue dazu, fast als würden sie vom Himmel fallen. Doch das taten sie nicht. Sie krochen aus Melindas Mund heraus. Lisa erstarrte. Der Ekel schoss durch ihren Körper wie ein Gift, das man ihr gespritzt hatte. Überall sah sie plötzlich Insekten umherfliegen, auf Melindas Körper, um ihren Kopf herum und dazu das unerträgliche Surren. Immer lauter, bis sie nichts anderes mehr hören konnte.
Dieser Fall schien die Ärztin aus dem Konzept zu bringen. Margarete hatte noch erwähnen wollen, dass die Tumoren, an denen die Menschen in Melindas Umkreis verstarben, keine Geschwüre im eigentlichen Sinne waren, vielmehr – so ihre Theorie – eine Art Kokon, aus dem neue Schmetterlinge schlüpften. Eine Art der Nutzung, für die das menschliche Gehirn einfach nicht vorgesehen war. Jetzt lag neben sie ihrer Tochter auf der harten Krankenhausmatratze und strich ihr übers Haar. Durch das Fenster schienen die letzten Sonnenstrahlen des Tages. „Du hast das alles nicht verdient“, flüsterte sie. „Der Ärztin geht’s nicht gut oder?“ Melinda klang erschöpft. Ihr Gesicht war eine Landkarte von hundert verschiedenen Emotionen. Margarete umarmte sie fester. „Ich hole dir einen Kakao. Wie findest du das?“
Ihre Schritte hallten auf dem Linoleum. Das hier war ein Traum. Es musste einer sein. Doch sie rannte so schnell, dass sie die Realität längst überholt haben musste. Jeder einzelne ihrer logischen Erklärungsansätze war ins Leere gelaufen. Ihr Weltbild, bis vor kurzem auf dem stabilen Fundament der Wissenschaft gegründet und vom wetterfesten Gerüst ihrer bisherigen Erfahrungswerte gestützt, schien nun einer Ruine zu ähneln – im Feuergefecht ihrer Zweifel und Ängste zerbombt und in ein paar Jahren sicher zur Besichtigung durch Touristen freigegeben. Hier ruht, was Dr. Lisa Bauer einmal für die Wahrheit gehalten hat. Vor der geschlossenen Tür des Zimmers 203 machte sie halt. Was, wenn sie sich all das vorhin nur eingebildet hatte? Das Radio, die Insekten, die paranoiden Verschwörungs-Theorien von Melindas Mutter? Zitternd streckte sie die Hand nach der Klinke aus. Als sie endlich den Mut gefasst hatte, hineinzugehen, öffnete sich die Tür plötzlich von selbst. Obwohl sie Margarete nun bereits mehrere Male emotional gesehen hatte, war dieser Ausdruck in ihren Augen neu. Ihre Hand umklammerte einen halb vollen Plastikbecher mit Kakao. Jede ihrer Stirnfalten schien eine andere Frage zu stellen. Dazu bebten ihre Lippen und noch bevor sie ein Wort herausbrachte, wusste Lisa, dass das Mädchen weg war. Vorsichtig stieß sie die Tür weiter auf und bahnte sich einen Weg vorbei an Margarete und all den unausgesprochenen Fragen. Die Bettwäsche war zusammengeknüllt und das Fenster stand weit offen. Zwar summte das Radio nicht mehr, allerdings blinkte dort, wo im Display normalerweise der Sender angezeigt wurde, nun immer wieder eine Buchstabenfolge auf. K D A N. Wieder und wieder. Margarete hatte sich ein paar Schritte genähert und musterte jetzt ihrerseits das Radio. Sie wiederholte die Buchstaben, sagte sie laut auf. „DANK!“ Lisa spürte ihren Puls in die Höhe schießen. Das Radio war nicht einmal mit dem Internet verbunden und mindestens zehn Jahre alt. Margarete begann ziellos auf den Knöpfen herumzudrücken, bis die Schrift auf dem Display verschwand. Stattdessen fing das Rauschen wieder an, aus dem Lüftungsgitter stieg plötzlich etwas Rauch aus, dann wieder Zeichen auf dem Display, diesmal Ziffern. „13032013“, las Margarete. „Der Tag vor 7 Jahren, als Melinda zu uns gebracht wurde.“ Sie berührte das Display. „Sie haben sie wiedergeholt.“ Lisa hätte gerne versucht, die Situation logisch zu beleuchten. Rationalität wäre an dieser Stelle jedoch fehl am Platz gewesen, also ging sie hinüber zum Fenster und beugte sich raus um nach unten zu sehen. Sie sah vorbeifahrende Autos, Straßenschilder und Ampeln, aber kein rothaariges Mädchen. Und auch kein UFO. Wie zum Teufel war sie eigentlich in diese Situation geraten? Wie hatte ihre Sicht als Empirikerin und Ärztin so ins Wanken geraten können? „Was soll ich denn jetzt machen?“ Margaretes Stimme war vielmehr ein Schluchzen. Lisa biss sich auf die Lippe. Die nächsten Schritte waren klar. Sie musste den Sicherheitsdienst informieren, dann die Polizei und das Jugendamt. Dann musste sie wieder ein Lächeln aufsetzen und die Visite beenden, so als hätte wäre sie in diesem Moment nicht davon überzeugt, dass ihre Patientin von Außerirdischen entführt worden war. Ein Suchtrupp würde das Gebäude durchkämmen, umrunden und auseinandernehmen. Das würde eine Ewigkeit dauern und obwohl sie sich nichts mehr wünschte, als dass die Kleine auftauchte, war da diese leise Stimme, die sagte, dass Melinda weg war und niemals gefunden werden würde. Es war einmal ein Mädchen, das wusste immer, dass es anders als die anderen Kinder war. Jede Nacht vor dem Schlafengehen träumte sie von einem Ort mit bunten Flüssen und kilometerweiten Wiesen mit Schmetterlingen, die auf Grashalmen balancierten. Niemals hätte sie gedacht, dass es diesen Ort wirklich gab. Noch viel weniger hätte sie für möglich gehalten, ihn einmal zu sehen. „Ihr fragt euch sicher, wieso ihr hier seid.“ Die Stimme klang elektronisch durch den Lautsprecher, aus dem sie kam. „Alles, was ihr wissen müsst, ist, dass ihr das Ergebnis eines Experimentes seid. Genauer gesagt, ihr seid das Projekt Schmetterlingskinder.“ Melinda sah sich um. Der Raum, in dem sie saß – eine Art Klassenzimmer – war abgedunkelt und bestand größtenteils aus Metall. Um sie herum saßen andere Kinder in ihrem Alter, die ebenso irritiert wirkten wie sie. „Vor vielen Jahren schlossen die Regierungsvertreter der Menschheit einen Vertrag mit dem Planeten Makuro mit dem Ziel eine neue Spezies hervorzubringen, die Schmetterlingsmenschen. Dieser Vertrag beinhaltete eine 10-jährige Periode des Aufwachsens in menschlichen Kreisen und im Anschluss die Rückkehr zum Planeten Makuro, eurer Heimat. Was das Experiment nicht ahnte, war, dass ihr gefährlich seid und eine Anomalie für den menschlichen Organismus. Daher wurde die Erden-Periode verkürzt und ihr seid wieder auf dem Weg nach Makuro. Von jetzt an werdet ihr so aufwachsen, wie es für euer Naturell bestimmt ist. Wie Schmetterlinge!“ Als Melinda sich umdrehte, um zu sehen, was die anderen Kinder von dem Ganzen hielten, blieb ihr Blick an einem bekannten Gesicht hängen. Sie konnte es nicht glauben. Was auch immer als nächstes passieren würde, sie musste nicht alleine da durch. Nicht ohne ihre Freundin. „Susi?“
Wie eine Akte X Folge, nur ohne Mulder und Scully
AntwortenLöschenSuper. Vielen Dank für die spannende und kurzweilige Geschichte. Schade ist sie zu Ende. Hoffentlich ist schon bald eine Fortsetzung verfügbar 😃
AntwortenLöschenIch hatte sofort das Gefühl, mich mitten in der Geschichte zu befinden. Ganz ganz toller Schreibstil! Die Mischung aus Realität und Übernatürlichem ist perfekt umgesetzt. Wirklich eine Geschichte, die nachhallt. Bin begeistert.😊
AntwortenLöschenFantastisch! Spannend vom ersten bis zum letzten Wort. Unvorhersehbar, trotzdem nicht verwirrend, sondern nachvollziehbar. Und dass ganz am Schluß Susi auchdabei ist, Melindas Freundin, fand ich extrem berührend und emotional. Ein richtiger Knaller am Ende!
AntwortenLöschenSchöne Geschichte. Vor allem die Charaktere und ihre Motive haben mich bewegt.
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