Kuckuckskinder
Vincent schätzt, dass es ungefähr zweihundert Jugendliche in seinem Alter sind, die sich in dieser großen Halle befinden. Alle sehen sich immer wieder in alle Richtungen um. Hin und wieder unterhalten sich manche von ihnen. Soweit Vincent es hören kann, sprechen sie Englisch. Alle. Also alle, die sich unterhalten. Obwohl es komische Vorrichtungen für ausklappbare Stühle gibt, weiß und aus einem durchsichtigen Plastik ähnlichen Material, sitzt niemand. Vincent tippt einem vor ihm Stehenden auf die Schulter. „Hey. Do you know what`s going on here?“
Der etwa gleichaltrige dunkelhaarige Junge dreht sich zu ihm um. „Sorry, my English not so good. I am from Burundi, name, Enock.”
„Hi Enock, I am Vincent from Germany.”
Ein Mädchen mit rötlichen Haaren, das neben Enock steht, dreht sich zu ihnen um. „Hallo, Marlene aus Österreich. Wisst ihr auch nicht, was hier abgeht?“
„Keinen Schimmer, aber sprich doch Englisch, ich glaube, das können die meisten hier verstehen.“
„Sorry“, sagt sie an Enock gewandt. „I just wondered where we are and what`s happening here.”
Enock zuckt mit den Schultern und wendet sich wieder nach vorn. Vor ihnen ist eine Bühne aufgetaucht, ebenfalls in weiß gehalten. In der Mitte der Bühne stehen zwei Mikrofone in einem Abstand von einem Meter. Sie tauchte aus dem nichts auf, so dass die Jugendlichen in den vorderen Reihen einige Schritte zurückgetreten waren, obwohl es sich um etwas ähnliches wie eine Hologramm Projektion handeln muss, vermutet Vincent. Plötzlich öffnet sich die zuvor ebenfalls weiße Decke der Halle und gibt den Blick auf einen strahlend blauen Himmel frei. Zeitgleich treten ein Mann und eine Frau aus dem Bühnenhintergrund an die Mikrofone heran. Ein Raunen geht durch die Menschenmenge.
Es sind Christiano Ronaldo und Giulia Gwinn, die von der Bühne auf die Jugendlichen schauen. Sie winken kurz in die Menge und verwandeln sich auf seltsame Weise in Ariana Grande und Shawn Mendes. Manche von den Jugendlichen klatschen und jubeln kurz auf. Sekunden später wechseln die Personen auf der Bühne wieder die Gestalt und sind plötzlich Eddie Redmayne und Katherine Waterston, die ebenfalls für einige Sekunden in die Menge schauen und winkend verschwinden, um durch Charli D’Amelio und Jimmy Donaldson ersetzt zu werden. Das Who ist Who der medialen Vorbilder von Jugendlichen der 2020ger Jahre geben sich hier auf dieser Bühne für einen Bruchteil von Sekunden die Klinke in die Hand. Vincent schaut Marlene an, die die Reihe getauscht hat und nun neben ihm steht. Er nickt in Richtung der Bühne und sagt: „Unsere Aufmerksamkeit haben sie nun, wer immer sie sind.“
Marlene nagt kurz an ihrer Unterlippe, bevor sie sagt:
„Ich kann mich nur noch daran erinnern, wie ich ins Bett gegangen bin, und jetzt, das hier. Ihre Hand macht eine kreisende Bewegung nach vorn.
„Geht mir auch so, und ich schätze, dem ganzen Rest hier ebenso.“
Auf der Bühne klopfen nun Spiderman und Catwoman leicht auf das Mikrofon und verwandeln sich darauf in einen circa vierzig Jahre alten Anzugträger auf der Spiderman Seite und in eine Frau, die Mitte zwanzig sein mag, und deren sandfarbenes Business Kostüm wie eine zweite Haut sitzt. Die Frau wirft ihre blonde Mähne nach hinten und deutet mit beiden Händen auf ihren Hals. Darauf formt sie die Hände zu Greifarmen, die einen imaginären Kopfhörer aufsetzen. Sie erinnert Vincent an die sexy Stewardess, die sie bei ihrem letzten Flug in die Sommerferien so hingebungsvoll betreut hatte. Aha, nun hatten sie also alle Headphones, die sie aufsetzen sollten. Vincent könnte schwören, dass die Headphones nicht von Anfang an dagewesen waren. „Hallo Leute!“, plärrt es durch das Headphone. Es ist still im Saal. Bei manchen ist die anfängliche Neugier in deutlich sichtbare Angst umgeschlagen. Marlene sieht Vincent fragend an: „Was sollen die Dinger?“ Vincent presst für einen Moment die Lippen aufeinander und überlegt. „Warte mal.“ Er nimmt sein Headphone ab, tippt Enock auf die Schulter und hält es ihm entgegen. „Can we change for an moment?“ Als er das Headphone des anderen auf den Ohren hat und die Lady auf der Bühne weiterspricht, versteht er kein Wort mehr. Er tauscht erneut mit Enock und setzt sein eigenes Headphone wieder auf. An Marlene gerichtet flüstert er: „Jeder hört alles in seiner Muttersprache.“
„Cool.“
„Was haben sie eben noch gesagt?“
„Nur, wie sie heißen, beziehungsweise, wie wir sie nennen sollen. Barbie und Kan. Tolle Namen, oder?“
„Klasse.“
„Vincent und Marlene, Vincent und Marlene ! Könnt ihr nun mal die Klappe halten und ruhig sein?“, brüllt Barbie plötzlich allen in die Ohren. Die Angesprochenen zucken zusammen. Nicht allein wegen der Lautstärke sondern auch weil die da vorn offensichtlich ihre und die Namen aller Jugendlichen kennen, die sich hier versammelt haben.
In einem zuckersüßen Ton fügt Barbie noch hinzu: „Und ja, Vince, wir dürfen dich doch Vince nennen, oder? Also ja, lieber Vince, du hast ganz recht, die Headphones ermöglichen jedem Einzelnen von euch, die vertraute Heimatsprache zu hören.“ Sie seufzt theatralisch, während Kan einwirft: „Wie wunderbar.“ Er fügt hinzu: „Wenn ihr euch später unterhalten wollt, schaltet ihr einfach auf Kanal zwei und könnt in jeder anwesenden Sprache verstanden werden.“
„Cool.“ Marlene nickt anerkennend. Plötzlich schließt sich die Decke wieder über ihren Köpfen. Der blaue Himmel verschwindet und eine weiße Projektionsfläche entsteht auf der nun Bild- und Filmsequenzen abgespielt werden. Es sind Familienszenen aus unterschiedlichen Ländern. Manche Familien sitzen am Tisch und scheinen auf jemanden zu warten. Andere sind während einer Autofahrt gefilmt worden. Wieder andere sitzen am Fernseher. Und plötzlich dämmert es Vincent. Das müssen die Familien von all den Jugendlichen sein, die sich hier gerade befinden. Und dann sieht er seine Eltern. Seine Mutter rennt sichtlich nervös von seinem Schlafzimmer aus in die Küche, rauft sich die Haare, sagt etwas zu seinem Vater, der darauf ebenfalls nach oben in sein Zimmer eilt. Vincent kann nicht sehen, wie es weitergeht, da nun die nächste Familie zu sehen ist. Es wird unruhig in der Halle. Manche Mädchen schluchzen. Einige rufen etwas, das wie was soll das klingt. Kan tritt ganz dicht an das Mikrofon heran und sagt: „Kuckuck.“ Es wird ruhiger. Noch einmal sagt Kan „Kuckuck“ und Vincent geht ein Schauer über den Rücken. Seine Stimme ist plötzlich die Stimme des Bösewichts Blofeld aus „Spectre“, der in eben diesem Tonfall und auf dieselbe Weise „Kuckuck“ in die Versammlung zwitscherte. Nun ist es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Barbie klatscht in die Hände. Kan sagt: „Wir möchten euch in eurer wahren Heimat begrüßen. Seid willkommen auf dem Planeten Rottapuss.“ Er hält kurz inne und sieht Barbie an, die nun übernimmt. „Keine Sorge, ihr befindet euch nicht in so etwas wie dem „Institut“ in dieser Netflix Serie. Wir versprechen euch, dass ihr nicht gefoltert und getötet werdet.“ Sie kichert. „Aber wir brauchen eure Hilfe.“ Mit einem Lächeln in der Stimme sagt sie jetzt: „Bitte klappt eure Stühle aus, lehnt euch zurück und schaut euch den kurzen Film an, den wir für euch vorbereitet haben. Auf der Deckenleinwand erscheint eine rote Wüstenlandschaft. Eine nicht menschlich klingende Stimme beginnt zu sprechen. „Willkommen zurück auf eurem Heimatplaneten liebe Kuckuckskinder. Vor siebzehn Jahren haben wir euch in die Obhut eurer Pflegeeltern gegeben, die sich alle, wirklich alle liebevoll um euch gekümmert haben.“ An der Decke erscheinen Familienfotos von den Anwesenden. „Doch nun seid ihr groß geworden und es ist an der Zeit, dass ihr das tut, wofür wir euch auserkoren haben. Ihr rettet unseren Planeten und alle Rottas.“
Auf der Deckenprojektionsfläche erscheinen kleine rote Männchen und Weibchen, die eher Tieren als Menschen ähneln. Sie haben große Ohren und ein spitzes Gesicht, das an eine Mischung aus Reh und Spitzmaus erinnert. Sie winken mit einer dürren Hand und flüstern sich zischend und Schleim versprühend etwas zu.
„Das sind eure gleichaltrigen Freunde, die zeitgleich mit euch hier in der Heimat groß geworden sind“, fährt Kan fort. In Kürze werdet ihr sie kennenlernen. Sie werden euch nach der legendären Party, die wir für euch vorbereitet haben, alles erklären, was ihr wissen müsst.“
Barbie wiegt den Kopf hin und her, der für einen Bruchteil von Sekunden zu dem Reh/Spitzmauskopf wird. Vincent hat die Verwandlung gesehen. Die meisten anderen jedoch nicht. Er hebt die Hand.
„Ja, Vincent. Was möchtest du wissen?“
Vincent steigt auf seinen Klappstuhl, damit alle ihn sehen können. „Ihr sagt, ihr habt uns als Kuckuckskinder auf der Erde abgegeben. Wie es aussieht, habt ihr uns weltweit verteilt. Und jetzt holt ihr uns wieder. Und wir werden unsere Eltern, von denen ihr behauptet, sie waren nur unsere Pflegeeltern, nie wiedersehen? Und wie habt ihr uns dort abgeliefert? Habt ihr die wahren Kinder unserer Eltern getötet?“
„Wow wow wow, so viele schlaue Fragen.“ Kan beißt in das Mikrofon vor sich und knurrt in einem tiefen Kehllaut hinein. Dann zieht er seinen Mund vom Mikrofon ab und blickt hinunter zu Vincent. „Ja, ja, die wahren Kinder, die kleinen Dummen, nein sie sind nicht tot. Sie leben auf Rottapuss und werden gefüttert und gewaschen.“ Ein irres Kichern entfährt Kan. „Aber heute geht es erst einmal um euch. Seid ihr bereit für Party?“ Kan schnipst die Finger zusammen und die große weiße Halle ist zu einem riesigen Club über mehrere Etagen geworden. Unterschiedliche Musik, auf jeder Etage ein anderes Motto, von Hawaii über Eiswüste mit jeweils dazu passenden Bars und Cocktails. Kan und Barbie sind verschwunden. Nur ihre Stimmen sind noch zu hören. „Habt Spaß ihr Lieben. Jede Einzelne und jeder Einzelne ist in seiner körperlich besten Verfassung. Jedes Mädchen hatte ihren Eisprung gestern oder wird ihn heute oder morgen haben. Wir erwarten heftiges und eifriges Kopulieren nach oder während der Party. Es gibt hinter den Bars kleine Sépares, in die ihr euch zurückziehen könnt. Welches Paar es schafft, schwanger zu werden, darf wahlweise auf den Planeten Erde zurückkehren, wenn es uns die Frucht des Leibes überlässt. Alle anderen, die sich verweigern, aus welchen Gründen auch immer, werden ihre Erdeneltern nie wiedersehen und werden leider auch auf Rottapuss keine großartige Zukunft haben. Ausgenommen…aber dazu kommen wir, wenn es soweit ist.“
Alle Jugendlichen haben sich in Grüppchen zusammengestellt und können nicht glauben, was sie hören. Sie tragen ihre Headphones und haben den Kanal zwei eingestellt. Jemand sagt: „Sie behandeln uns wie Zuchttiere.“ „Scheiße, Mann, wer will denn auf Kommando vögeln?“
„Eins noch“, ertönt noch einmal Barbies zuckersüße Stimme. „Es gibt für jedes Männlein ein Weiblein, ihr müsst euch nur etwas Passendes suchen, und im besten Fall auch beieinander bleiben, weil es ja nur paarweise wieder zurück auf die Erde geht. Und jetzt wünschen wir euch eine im wahrsten Sinne des Wortes geile Party!“
Die Musik wird laut und Getränke werden automatisch, durch unsichtbare Hände gemixt, eingeschenkt und auf umstehende Tische verteilt. Vincent nimmt sich ein Glas und sieht Marlene an. Er nimmt ein weiteres Glas mit einem roten Cocktail, in den grün und rote Flüssigkeiten laufen und der mit Erdbeeren und Kirschen verziert ist. Sie prosten sich zu. Marlene lächelt. „Schmeckt phantastisch.“ „Zum Wohl“, Vincent hebt sein Glas in ihre Richtung und nimmt auch einen kräftigen Schluck. „Ja, wirklich. Tolles Zeug.“ Er leckt etwas Klebriges von seinen Lippen. „Weißt du was?“ „Was denn?“ „Ich hätte dich auch daten wollen, wenn wir uns unter normalen Umständen kennengelernt hätten.“ Wieder lächelt sie. „Wollen wir uns ein Sépare suchen?“, fragt sie, ergreift mit der freien Hand die von Vincent und zieht ihn mit sich in Richtung der Bar.
Die Story ist irgendwie mitten im Flow plötzlich zu Ende
AntwortenLöschenFehlt hier was? Muss dem Vorredner recht geben. Die Geschichte hört so unvermittelt auf, dass man völlig konsterniert ist.
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