Der letzte Bahnhof
Calimera schläft. Alle wissen es. Alle warten.
Überheizte Flure, das Haus ein Brutkessel. Uringeruch. Musik für müde Menschen röchelt aus dem Radio am Stationstresen, hinter dem die Oberschwester wacht.
Ich ziehe betont einen Fuß hinter mir her, weil die Oberschwester Argwohn gegen mich hegt. Ich bin zu gesund.
Stühle an den Wänden, Menschen schief drauf geparkt. Die stets renitente Heimbewohnerin Frau Untersperger kauert ebendort kriegslüstern neben einem weißen Bart mit Brille. Der ist neu. Denn vorgestern wurde wieder ein Bett frei. Der Name längst vergessen. Die Warteschlange bleibt gleich lang, die Wartenden wechseln. Staub zu Staub.
Vergessene Namen warten auch in den Zimmern. Hoffen auf ein liebes Wort. Überanstrengte Altenpflegerinnen schieben ihnen stattdessen zermanschte Kartoffeln in den Mund.
Das Schild an der Tür: Stationsarzt.
Calimera hat mir das beigebracht. Das Lesen. Ich habe das Regal im Essensraum, das mit gespendeten Büchern, schon mehrfach durch.
Ich klopfe. Kein „Herein“, trotzdem öffne ich.
Das Gesicht eines harmlosen alten Mannes spiegelt sich in einem der dunklen Fenster im Raum. Es ist mein Gesicht. Eine schwarze Strähne im grauen Haar, letzte Woche erst aufgetaucht. Mit mir spiegelt sich ein breiter Rücken in weißem Kittel. Der Rücken gehört dem neuen Stationsarzt, der hinter einem Schreibtisch mir gegenüber thront. Er geht Akten durch, klopft gedankenverloren schiefe Rhythmen mit einem Bleistift auf die Tischplatte. Ein Monitor malt blaue Karomuster auf sein verkniffenes Gesicht.
Er hebt den Kopf. Seine Lippen ziehen sich übergangslos zurück, als habe er einen Krampf im Mund. „Sie kommen pünktlich. Die Zeit können sie also lesen.“ Als gebe er die neuesten Wetterdaten übers Telefon durch. „Können Sie verstehen, was ich sage?“
„Ja, Herr Doktor“, sage ich, damit er nicht fragen muss, ob ich auch sprechen kann.
Er wendet den Kopf ab, betrachtet eine dieser vergilbten Urkunden, die an der Wand ihr Dasein fristen. Auf dem Tisch herrscht Chaos, Aktenordner türmen sich, Zettel wie Schneegestöber, surrender Computer. Florin, der Nachtpfleger, hat mir erklärt, was ein Computer ist.
„Jetzt sind sie ...“, er blättert. „Jetzt sind sie zwölf Jahre hier.“ Er mustert mich, als sei ich eine Kakerlake, die er unter seinem Bett gefunden hat.
„Es tut mir leid“, versuche ich.
Er wendet sich wieder seinen Akten zu. „Einlieferung 2013. Unfähig, zu gehen, zu sprechen. Füttern, Windeln wechseln und so weiter.“ Er liest weiter. „Vermutlich Schlaganfall, um die neunzig Jahre, machts nicht mehr lang.“
Mir fällt keine Rechtfertigung ein, dass ich noch lebe. Ich kann mich an nichts erinnern.
„Zwölf Jahre.“ Die Stimme hebt sich. „Jetzt gehen sie, plappern das Pflegepersonal voll. Ihnen wachsen sogar ihre scheiß Haare wieder. Steht da.“ Er hält mir ein Blatt Papier vors Gesicht.
Sein Seufzer trägt das Leid der ganzen Welt in sich. „Wir haben zu wenig Betten. Lange Wartezeiten. Das Personal beschwert sich, dass es zu viel ist. Alles ist zu viel. Uns geht der Platz aus. Wissen sie überhaupt, wo sie hier sind?“
Und ob: „Altenstift Kloppensteiner Hof.“ So steht es auf den Prospekt, auf dem zwangloser gelächelt wird als in der Wirklichkeit.
„Das hier ist Endstation. Einbahnstraße, Freundchen!“
Ich weiß nicht, was eine Endstation ist, irgendwas mit Zügen, nicke jedoch eilfertig.
„Sie verstopfen das System, sie zerstören es. Sie tun nicht, was man von ihnen erwartet.“
Mein Bett wird nicht frei.
„Ihnen geht es besser und besser!“
„Es tut mir leid.“
„Das sollte es. Ihre Enkel arbeiten hart, damit sie hier wie im Hotel leben.“
Ich kann mich an keine Enkel erinnern. Es kommen selten Enkel an diesen Ort. „Ich bin sehr dankbar.“
„Außerdem sind sie ein verdammtes medizinisches Wunder.“ Wieder diese monotone Stimme. „Ich habe einem Professor an der Universität von ihnen erzählt. Der hielt mich für verrückt. Sie verstehen: Universität.“
Ich verstecke meine zitternden Hände unter dem Tisch.
„Die Akten habe ich ihm kopieren lassen. dann hat er sich mit einem anderen Professor unterhalten, der jetzt ihn für verrückt hält. Aber nicht mehr lange.“ Ein schrilles Würgen zerreißt das darauffolgende Schweigen.
So lacht er also.
„Kurz und gut, morgen kommen sie in eine Spezialklinik. Die werden rausfinden, wo bei ihnen das Problem liegt. Und ich komme wieder aus diesem Loch raus.“ Sein Blick ruht versonnen auf den Urkunden an den Wänden. Er grinst durchtrieben. „Ihre Enkel müssen das ja nicht wissen. Dass sie nicht mehr hier sind.“
„Aber ...“ Was wird jetzt aus Calimera?
„Was aber?“
Wie aufbrausend er aus dem Nichts heraus werden kann. Bewundernswert. Aber ich kann ihm nicht auch noch von mir und Calimera erzählen. Dann springt er aus dem Fenster.
„Morgen?“, frage ich.
„Schauen sie nicht so, jetzt ist Schluss mit der Faulenzerei. Am Vormittag werden sie abgeholt. Die haben da ganz andere Möglichkeiten.“
„Aber mir geht es wirklich wieder schlechter.“ Ich huste wenig überzeugend.
Wieder dieses schrille Würgen. „Husten hilft jetzt nicht mehr. Ab auf ihr Zimmer. Denken sie nicht mal daran, abzuhauen. Sie kommen nicht weit.“ Er wedelt mit den Armen, als hoffe er, die dadurch in Wallung gebrachte Luft werde mich aus dem Zimmer pusten.
Ich stehe von allein auf, hinke denkbar mitleiderregend. Doch der böse Geist ist längst wieder in Karomuster getaucht. Mit leisem Schnapp fällt die Tür hinter mir zu.
Abendessenluft. Winzige Partikel aufgewärmter Mehlsoßen erkunden die Flure. Zahlreiche Gabeln kratzen geräuschvoll auf Teller. Niemand nimmt Notiz von mir.
Was wird jetzt aus Calimera?
Fußlahme Bewohner werden wohlmeinend aber unter Dampf in die Zimmer verfrachtet, Zähne geputzt, die letzten Tabletten des Tages. Die Altenpflegerinnen schaffen nicht alle. Einige bleiben unversorgt. Die Oberschwester gibt entsprechende Anweisungen an Florin, den Nachtpfleger, in dessen Gesicht Entsetzen und Erheiterung um die Vorherrschaft kämpfen.
Ich schlurfe in mein Zimmer. Mein Zimmernachbar atmet unstet auf seinem Lager. Ich putze mir die Zähne, setze mich auf mein eigenes Bett, lösche das Licht. Warten. Durch schaurige Gardinen dringt der Schein welker Straßenleuchten, zischender Berufsverkehr. Es hat geregnet. Acht Uhr.
Im Flur tobt der Schichtwechsel. „Schönen Feierabend.“ „Gute Nacht.“ Blabla. Frieden kehrt ein.
Ich zähle bis Hundert, dann pirsche ich zur Tür, lehne meinen Kopf gegen das glatte Holz. Alles ruhig. Hinaus mit mir.
Ich bin der einzige auf dem Gang. Summende Deckenlampen spiegeln sich auf erschütternd blitzblankem Fußboden. Draußen ist es dunkel, hier bleibt es immer Tag. Womöglich finden die kürzlich Verstorbenen so leichter den Weg den Weg ins Freie.
Offene Zimmertür hinten links, Rollwägelchen davor, ein Tablet mit Essen darauf. Lachen aus dem Zimmer verliert sich in den menschenleeren Fluren. Es zieht mich dorthin.
Florin, der Nachtpfleger, sitzt am Bett von Herrn Grauthaler. Er schiebt ihm eine Gabel mit einer halben Kartoffel in den Mund, erzählt von betrunkenen Buchfinken. Herr Grauthaler hustet, weil gleichzeitiges Schlucken und Lachen knifflig ist. Florin klopft ihm auf den Rücken, wartet, bis er sich wieder erholt. Nächster Löffel.
Florin dreht sich um. „Heute wieder helfen, Josef?“
„Willst du den Nachtdienst etwa allein machen?“
Entsetzen schleicht sich für eine Sekunde wieder auf seine Züge. „Du unterstützt mich jede Nacht. Wie so ein guter Geist.“ Das hat er noch nie gesagt.
Herr Grauthaler nickt mir anerkennend zu und kaut zahnlos eine Kartoffel, was das Nicken noch unterstreicht.
„Herr Kraus hat noch nicht gegessen. Wenn du Lust hast ...“ Florin deutet auf das Tablet vor der Tür.
„Immer gern.“
Ihm fällt die schwarze Strähne auf. „Du wirst immer jünger, Josef.“
„Schön wär´s.“
Ich greife mir das Tablet vom Rollwägelchen und gehe ein Zimmer weiter. Tagsüber vor Zeugen würde ich hinken, jetzt schlendere ich beschwingt.
„Hallo, Herr Kraus.“
„Hallo, junger Mann.“ Herr Kraus strahlt mich an. Er sieht nicht mehr so gut. Meine Augen hingegen werden von Monat zu Monat immer besser. Womöglich bin ich tatsächlich ein medizinisches Wunder. Ich montiere umständlich die Holzleiste oder wie immer das Ding heißt, das ihm erlaubt, im Bett zu essen. Heute gibt es lauwarme Kartoffeln, die in einer Mehlsoße vor sich hin ertrinken. Ich schneide sie klein, er lässt sie dabei nicht aus den Augen.
Wir essen schweigend. Gabel rein, kauen. Wie erledigt diese Augen sind. Er lässt sich Zeit, die ich im Überfluss habe. Wir brauchen eine halbe Stunde, bis der Teller leer ist. Ich habe nur geholfen, fühle mich nach der Mahlzeit aber selbst satt.
Dann erzählt er. Von Schützengräben, Granateneinschlägen „Krieg ist furchtbar, junger Mann. Krieg ist so furchtbar.“ Von grünen Feldern schwärmt er, von seinem Bauernhof mit den 15 Kühen. „Oder waren es 16?“
„Es waren 16.“
Er erzählt jedes Mal dieselbe Geschichte, fragt jedes Mal, ob es denn 16 Kühe waren. Ich kenne seine Worte auswendig, seinen Rhythmus. Spreche in Gedanken mit. Ein Tanz, der mir die Welt nahebringt. Ein Tanz, den niemand sonst mit ihm tanzt. Seine zwei Pillen, die grüne und die weiße. Meine eigenen Tabletten spüle ich schon lange nachts im Klo runter, weil es mir ohne sie besser geht.
Ich baue das Essgestell ab, prüfe unauffällig, ob sein Katheter noch sitzt.
„Jetzt gehn wir in die Disco und lernen ein paar Miezen kennen“, ruft er in einem Anfall von Überschwang.
„Heute nicht. Aber vielleicht morgen.“
„Aber dann, aber dann!“
Wir lachen, ich decke ihn zu, knipse das Licht aus.
„Gute Nacht, Herr Kraus.“
„Gute Nacht, guter Geist.“ Das hat er noch nie gesagt.
Meine Mundwinkel ziehen sich unkontrolliert nach unten. Ich schließe leise die Tür.
Bevor ich zu Calimera gehe, werde ich Florin beim Wachbleiben Gesellschaft leisten. Der wartet mit unverschämt starkem Kaffee auf mich. Florin spielt gern Computerspiele. Strategiespiele mit Königreichen, diplomatischen Verwicklungen, Intrigen, strategischen Hochzeiten. Er wird nicht müde, mir alles im Detail zu erklären. Ich werde nicht müde nachzuhaken, wenn ich etwas nicht verstehe. Ich muss oft nachhaken. Doch Lernen ist ein Spiel ohne Verlierer.
Sogar das Rauchen hat er mir beigebracht.
Lautes Piepen. Frau Untersperger hat die Klingel gedrückt.
„Ich gehe“, sage ich.
„Sag der Kratzbürste, die soll nicht immer so böse sein. Morgen entführe ich sie aus diesem Heim und eröffne mit ihr eine Hanf-Plantage in Kuba.“
Das muss ein geheimer Scherz zwischen den beiden sein.
„Können Calimera und ich mitkommen?“, frage ich.
„Natürlich.“ Dann zögert er. „Du gehst danach zu ihr? Sie wird es schaffen. Ganz sicher. Wir denken alle an sie.“
Wie werde ich Calimera erklären, dass ich morgen fortmuss? Wie wird sie es aufnehmen? Seit einer Woche wird sie zunehmend schwächer, schläft und schläft. Wie soll man da mit ihr nach Kuba durchbrennen?
Auf mein Klopfen an Frau Unterspergers Tür hin zetert es von innen: „Herein“. Sie lehnt am Fensterbrett. Der Rücken arg gebeugt, die Augen groß. Wie ihre Stupsnase es schafft, die Brille vor dem Absturz zu bewahren, ist mir ein Rätsel.
„Pass auf, Josef. Die haben uns im Visier“.
„Sollen sie.“
Sie kichert verschlagen und wird dann ernst. „Wie steht es mit Calimera?“
„Wird schon wieder.“
„Red keinen Unsinn.“
„Nicht gut.“
„Das ist der Gang der Dinge. Wie steht es mit dir?“
Ich schweige, sie liest ohnehin alles aus meinem Gesicht.
„Ich erzähle niemandem von euch. Vor allem nicht diesem ... diesem Arzt.“ Sie ballt die Faust. „Die anderen sind in Ordnung, aber der ist ein Dämon.“
Ein Dämon, der über unser Schicksal bestimmt.
„Du gehst jetzt zu ihr?“, fragt sie.
„Ja.“
„Sie sieht etwas in dir.“ Frau Untersperger hebt eine rote Rose vom Tisch auf. Wo sie die wohl herhat? „Die ist für sie. Du musst sie ihr mitgeben.“
Du musst sie ihr mitgeben.
Sie drückt mir das Gewächs in die Hand, klopft auf meine Schulter und scheucht mich auf den Gang hinaus.
Ich habe vergessen, ihr das mit Kuba zu sagen. Morgen werde ich es nachholen ... Doch morgen werde ich nicht mehr hier sein. Außer ... außer ich täusche eine Herzattacke oder etwas in der Art vor. Dann müssen sie mich hierbehalten. Was für ein genialer Plan.
Ich klammere mich an die Rose, bewundere die roten Blüten. Als habe jemand feurige Engel gefangen, ihnen die Flügel ausgerissen und kunstvoll zusammengesteckt. Die Stacheln am Stängel kitzeln boshaft meine Finger. Ich greife fester zu.
Calimeras Zimmer. Sie schläft. Buschige Brauen, die noch buschiger werden können, wenn man sie neckt. Tiefe Stirnfalten, die weißen Haare entzückend durcheinander. Ihr Kopf ruht auf dem Kissen wie ein verwelktes Blatt, das ein zerstreuter Herbststurm zum Fenster hereingetragen und vergessen hat. Ihre Persönlichkeit verzaubert die ganze Station, seit sie hier eingeliefert wurde. Besonders mich.
Wie dünn sie geworden ist. Es verwundert und bestürzt mich, dass sie mir umso niedlicher erscheint, je schwächer sie wird. Das muss ein dunkler Instinkt sein, der mir angeboren ist.
Das Leben hat sie mir gezeigt. Wie man mit Menschen umgeht hat sie mich gelehrt. Und nicht zuletzt das Lesen. „Das ist dir wahrscheinlich bei einem Schlaganfall verloren gegangen. Das holen wir zurück. Lernen ist ein Spiel ohne Verlierer“, hat sie gesagt.
Auf großen Bühnen hat sie gesungen, hat mir von der Welt erzählt. Nicht, wo Lima liegt, Madrid oder Toronto. Nicht von Bauwerken oder Regierungen. Von der Melodie südländischer Sprachen erzählte sie. Davon, wie die Bäume an der Seine in Paris im Herbst riechen. Wie der Luftzug einen umspielt, wenn man nachts auf der Terrasse des Pincio steht und die Lichter von Rom auf sich einwirken lässt.
Ich sitze neben ihr und starre sie an wie ein Hund, der ein schlafendes Frauchen hütet.
Ihre Mundwinkel pressen sich zusammen. „Da ist ja mein Eulenkind.“
Wie sachte diese Stimme geworden ist, mich wie Wasser umspielt, das den Gezeiten folgt. Auf ab, kleine Wellen kräuseln, säuseln. Calimera ist das Meer. Salzig und rein rinnt Meeresluft aus ihr heraus. „Geht es allen gut?“
„Sie denken an dich.“
Ich reiche ihr ein Glas Wasser, sie trinkt, verschluckt sich.
Bebende Hände ziehen meinen Arm heran, streicheln ihn. „Du blutest. Du hast eine Rose mitgebracht, wie schön. Und sie hat sich gerächt.“
Ein Blutstropfen auf meinem Daumen zeichnet Dreiecke auf ihr Nachthemd.
„Ich hätte besser aufpassen sollen.“
„Du musst nicht traurig sein.“
„Alles wird gut“, sage ich. „Wie könnte ich da traurig sein?“
„Wir sind am letzten Bahnhof. Niemand hier steigt mehr in einen abfahrenden Zug. Ich bin alt. Irgendwann muss es vorbei sein.“
„Das ist nicht wahr!“ Es verschwinden doch nur die Namenlosen. Nur die Namenlosen.
„Du hast Recht. Für dich ist es nicht wahr. Du bist anders. Du bist so lebendig, so wissbegierig. Ich glaube, du steigst eines Tages in einen Zug und fährst einfach fort. Du als einziger. Wer bist du nur?“
Mit erstickter Stimme versichere ich ihr, dass ich immer bei ihr bleiben werde, obwohl ich ihr doch sagen müsste, dass man mich morgen abholt.
Calimera hat das Haupt schief gelegt, aus ihrem Mund rinnt stetig das Leben. Sie nimmt meinen Kopf in ihre Hände, legt ihn auf ihren Bauch, streichelt mir durch das Haar, das in letzter Zeit immer dichter geworden ist. Ich schließe die Augen und gebe mich hin. Sie wiegt meinen Kopf.
„Deine erste Erinnerung, hast du mir erzählt, war, dass deine Mutter dich so gewiegt und in den Schlaf gesungen hat.“ Sie fängt an zu summen.
Und ich ertrinke im Meer.
Die ersten Amseln zwitschern, Regen tätschelt schwarze Fenster, wie konnte ich nur einschlafen?
Calimeras Hand liegt neben mir auf den Laken, ihr Gesicht ist im Nebel versunken. Ihre Augen starren leblos an die Decke. Ich schließe diese Augen und küsse sie auf die Stirn. Falte ihre Hände, decke sie zu. Ich reiße der Rose die Blüten aus, verteile feurige Engelsflügel auf ihrer Bettdecke.
Calimera ist für immer fort. Ich werde zu Stein. Ich bin doch dein Eulenkind.
Der Tag erwacht aus dem Nichts. Erster Verkehr, anfangs vereinzelt, dann drängt sich das Leben zischend auf nassem Asphalt der Straßen, der Flur jenseits der Zimmertür erwacht zum Leben.
Die Tür wird aufgerissen.
„Guten Morgen!“ Eine junge Schwester. „Ach, hier bist du, Josef. Wir dachten schon, du wärst weggelaufen.“ Sie kichert. Dann bemerkt sie Calimera und die feurigen Engelsflügel.
„O je“, sagt sie. „Was ist denn hier passiert?“ Sie ergreift meine Schulter und sagt. „Glaub mir, sie hat jetzt keine Sorgen mehr.“
Wie können wir das wissen?
„Komm, Josef. Es ist Besuch da, extra für dich.“
Ich weiß. Sie werden mich in ein Krankenhaus am anderen Ende der Welt bringen. Aber ich gehöre hierher. Ich klammere mich an das Bett.
Die Schwester lässt mir Zeit. Wir wachen beide einen Moment über Calimera. Dann führt sie mich aus dem Zimmer.
„Da sind sie. Schau, Josef, deine Enkel sind da. Deine Enkel sind süß.“
Das ist eine Lüge, ich habe keine Enkel. Es sind Phantome, die meinen Aufenthalt hier zahlen. Phantome, die ich noch nie gesehen habe. Es gibt niemanden.
Tumult beim Tresen der Stationsleitung. Eine Menschentraube sammelt sich. Helles Lachen, Juchzen.
Ein junges Pärchen hat sich ausgerechnet hierher verlaufen, umringt von schaulustigen Heimbewohnern, die sich so die Zeit bis zum Frühstück verkürzen.
Dann bemerkt die Menge mich. „Etwas ist mit Calimera“, flüstert jemand, „schaut ihn doch an.“
Die Krankenschwester schiebt mich sanft vorwärts. „Komm Josef, deine Familie freut sich bestimmt, dich zu sehen.“
Das treuherzige Gesicht des jungen Burschen erinnert mich an das eines Seehundes, den ich im Fernsehen im Gemeinschaftsraum gesehen habe. Der Stationsarzt erklärt ihm, dass das jetzt aber nicht gehe. Ich würde schließlich jeden Moment abgeholt. Der Stationsarzt hat sich heute schön gemacht, trägt Krawatte.
Der junge Mann zieht friedfertige Kreise mit den Armen, antwortet ihm. Ich verstehe kein Wort. Seine Haut seehundglatt, die Zähne blütenweiß. Die Stationsbewohner sind ergriffen. Dass sie so etwas noch mal erleben dürfen ...
Seine Begleiterin beugt sich herab zu Frau Untersperger, die sich schief auf ihren Stock stützt, und gurrt Seltsames. „Na, meine Kleine? Du bist eine ganz eine Nette, wie heißt du denn? So süße Fältchen.“
Sie zwickt sie zärtlich in die Backe. Ihre Bewegungen sind mir kurioserweise vertraut. Die Augen schweifen verzückt hin und her, als habe man sie in einen Saal mit jungen Hündchen gesetzt. Oder in einen Kindergarten. Ein Kindergarten.
Dann trifft ihr Blick mich. Ihre Bewegungen versiegen. Das Gesicht erwartungsvoll, unsicher. Dieser Mund, die Augen. Etwas macht das mit mir. Sie greift blind hinter sich, rüttelt am Ärmel des Seehundes, kann ihr Gesicht nicht von mir wenden. Das Licht der Deckenlampen glitzert in ihren Augen. Ihr Begleiter muss sie stützen.
Ich stehe hilflos in der Gegend herum, gefesselt an das unsichtbare Gummiseil, das mich und das junge Pärchen unaufhaltsam zueinander hinzieht. Ich kenne sie doch, ich kenne sie. Aber woher?
„Da hinten ist er“, ruft der Stationsarzt. „Bringt ihn jemand her, bevor er abhaut.“ Er setzt sich in Bewegung, die Oberschwester an seiner Seite.
Da kreischt die kleine Frau Untersperger mit dem krummen Rücken auf, wirft sich auf den Boden, umklammert den Fuß des Stationsarztes. „Lauf, Josef, lauf!“, schreit sie.
Der Arzt reißt sich los, doch die Stationsbewohner umdrängen ihn und die Oberschwester, versperren ihnen den Weg. „Lauf, Josef, lauf!“
Die Pflegerin an meiner Seite nickt mir zu.
Das Pärchen erreicht mich, der Seehund fasst meine Schulter. „Komm jetzt, Junge.“
Er zieht mich und seine Begleiterin in das nächstgelegene Zimmer.
Wir sind bei Herrn Kraus gelandet.
Der strahlt uns von seinem Bett aus an. „Hallo, junger Mann.“
Der Seehund schließt die Tür. „Timu, der Transor.“
Die Frau, die Timu heißt, kann meine Arme nicht loslassen, heult Rotz und Wasser. „Es tut mir so leid, dass du so lange hier sein musstest. Wir haben dich furchtbar vermisst.“ Ich verstehe gar nichts. Ihre Züge sind mir vertraut.
„Der Transor“, drängt der Seehund.
Draußen schreit die Oberschwester. Der Jagdeifer hat sie gepackt. „Da sind sie rein. Ihnen nach!“
Es rüttelt an der Tür.
Woher nur kenne ich diese Frau? Sie nimmt meinen Kopf in ihre Hände, wiegt ihn hin und her und summt leise ein Schlaflied. Da überwältigen mich die Erinnerungen. Das Summen ...
„Mama?“
Sie nimmt mich in die Arme. „Ja, ich bin deine Mama. Und das hier ist dein Papa. Du hast uns nicht vergessen. Er hat uns nicht vergessen, hörst du?“
„Wunderbar“, keucht der Seehund und stemmt sich gegen den Eingang. „Jetzt aber der Transor.“
Das sind meine Eltern.
Mama drückt mich an sich. Mein Gesicht wird feucht von Tränen. Oder ihre Nase läuft. „Es ist gut, mein Großer. Alles ist gut. Jetzt gehen wir heim.“
Von der anderen Seite her schlägt jemand gegen die Tür. „Tun sie mir das nicht an!“ Der Stationsarzt. Wie verzweifelt er klingt.
Mein Vater, der Seehund, stemmt sich stärker gegen die Tür, Mama kramt mit der freien Hand in ihrer Handtasche. Sie zieht ein kleines Gerät heraus, das wie ein Kugelschreiber aussieht, drückt einen Knopf.
Wo sich eben noch die Tür zu Herrn Krauses Badezimmer befand, erscheint eine tiefschwarze Öffnung. Unselige Kälte strömt heraus. Mama schiebt mich vorsichtig durch den Eingang. In diesem Moment gibt die Eingangstür des Zimmers nach. Der Stationsarzt hat sie mit einem Grunzen eingetreten. Oder war es die Oberschwester?
Papa wird nach hinten gedrängt. Er dreht sich um und hechtet durch das Portal, zu uns in die eisige Dunkelheit. „Jetzt“, schreit er. Die letzten Eindrücke, die mir diese Welt schenkt, sind das verdatterte Gesicht des Stationsarztes – und Herr Kraus, wie er sich vor Lachen kringelt. Das Portal schließt sich,
Schwärze und Stille. Mein Körper zittert, meine Nase wird gleich abfrieren.
Mama streicht durch meine Haare. „Nichts Schlimmes passier. Alles wird gut.“
Doch nichts wird gut. Denn unvermittelt verschwindet der Boden unter unseren Füßen. Wir fallen – ich quieke.
In meiner Erinnerung erscheint mir Calimera. Sie gleitet mit roten Flügeln an uns vorbei, hinauf zu den Sternen. Herr Kraus neben ihr erzählt Geschichten von Schützengräben. Frau Untersperger winkt uns zum Abschied mit ihrem Stock. Florin, der Nachtpfleger, wie er sich mit Herrn Grauthaler für mich freut. Ferne Geister.
Dann haben wir wieder festen Stand. Das Fallen ist vorüber. Vor uns öffnet sich ein gleißender Türspalt. Sonnenlicht wärmt unsere Gesichter. Wir treten aus dem frostklirrenden Dunkel hinaus und landen in einem hell erleuchteten Raum.
Heute werde ich eingeschult.
Aufgewacht bin ich in meinem Kinderzimmer. Sie haben das winzige Bett in der Ecke noch nicht raus getragen. Da hat Mama in meiner Abwesenheit die Oma bis zuletzt gepflegt.
Nun stehen wir auf einem Schulhof voll grüner Tannen. Kinder meines Alters tollen herum. Ein Senior mit schlohweißen Haaren spielt Fangen mit einer Greisin, die ihm auf einen Stock gestützt jubelnd hinterher hetzt. In der Mitte des Platzes rangeln zwei Übermütige, die mir aus Gewohnheit wie Großväter erscheinen. Hier sind sie Erstklässler. Einer von ihnen schreit: „Stopp, mein Kreuz, mein Kreuz!“
Stolz und nervös harren Mama und Papa am Rande des Geländes inmitten der Kohorte anderer stolzer und nervöser Eltern. Die Körper sportlich, die Haut glatt. Doch ihre Gesichter haben schon zu viel Welt erlebt. Sie feuern ihre Kinder an: „Gut, Gerti, lass dir nicht alles gefallen.“ Oder „pass auf dein Gebiss auf, Herbert.“
Die Schuldirektorin – war sie es, auf die wir gewartet haben? – hält eine Rede. Ihre piepsige Stimme ist ganz einstudiertes Wohlwollen. Sie stellt sich auf einen Schemel, damit sie zum Mikrofon hinauf reicht. Nächstes Jahr geht sie in Rente, flüstert man.
Wir Kinder werden in Klassen eingeteilt. Wände mit bunten Punkten. Jenseits der Fenster scheint Frühlingssonne. Eine Mitschülerin mit weißem Haar erinnert mich an Calimera.
„Dann stellen wir uns mal vor“, sagt die Lehrerin.
Eine Mitschülerin beginnt. Sie würde gern reiten, doch muss noch warten, bis ihre Osteoporose schwächer wird, sagen die Eltern.
„Und nun du, Josef“, sagt die Lehrerin. „Du bist ja weit fort bei den Menschen aufgewachsen. Dort wo die Kleinen wachsen, langsam Falten bekommen und gebrechlich werden. Ganz anders als bei uns. Du kannst sicher Interessantes beitragen.“
Alle schauen mich an. Im Boden versinken möcht ich.
Ich könnte ihnen vom letzten Bahnhof berichten. Und dass dort niemand mehr in einen Zug steigt. Oder von Königreichen, von Intrigen, von Schützengräben und Granaten. Ich bringe es nicht übers Herz.
Stattdessen erzähle ich von der Melodie südländischer Sprachen. Davon, wie die Bäume an der Seine in Paris im Herbst riechen. Wie der Luftzug einen umspielt, wenn man nachts auf der Terrasse des Pincio steht und die Lichter von Rom auf sich einwirken lässt. Und vom Meer, von der Liebe zum Meer. Wenn die Gezeiten das Wasser endgültig zurückziehen, bleibt ein Echo zurück.
Meine Stimme erstirbt. Das Echo der Gezeiten verharrt einen Augenblick im Raum. Meine Mitschüler schweigen mit offenem Mund. Das Mädchen, das mich an Calimera erinnert, zwinkert mir zu.
Hübsche Geschichte. Ich bin mir aber nicht sicher, ob hier das Thema getroffen wurde.
AntwortenLöschenWow! Die Geschichte hat mich auch geflasht und ganz schön emotional berührt. Grandiose Grundidee.
AntwortenLöschenIch finde die Geschichte perfekt. So viel Überraschendes, Neues. Und die liebenswerten Charaktere. Das Lesen hat richtig Spaß gemacht.
AntwortenLöschenWas für eine wunderschöne Geschichte!!! Ganz toll geschrieben, originelle Idee! Und das muss man erst einmal hinbekommen, aus der Sicht dieses uralten Mannes zu schreiben ohne in Klischees zu verfallen oder künstlich zu werden. Die beschriebenen Menschen haben alle so viel Würde, Zauber! Ich bin sehr gerührt.
AntwortenLöschenJa, die Geschichte hat mich auch begeistert. Etwas ganz anderes, neues, sympathisches. Mit so viel Tiefsinn.
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