Die Lücke
M’an-2 erklärte M’bor-13 noch einmal die wichtigsten Fakten der anstehenden Platzierung. Genau genommen teilte er eine bildliche Anleitung davon über einen gemeinsamen Bewusstseinskanal, den sie selbst über die Entfernung mehrerer Galaxien hinweg nutzen konnten.
Den Ausführungen seines Vorgesetzten hatte M’bor-13 mittlerweile oft genug zugehört. Daher verschob er das Geschwafel in eins seiner Nebenbewusstseinsebenen und widmete sein Hauptbewusstsein der neusten Folge „Captain Tolak“. Sein Held war gerade dabei war, ein ganzes Sternensystem vor dem sicheren Untergang zu bewahren. Als es im Nebenbewusstsein verdächtig still wurde, schaltete er schnell wieder um.
„Wie bitte?“ fragte er vorsichtig.
„Ich habe gefragt, ob du alles verstanden hast?“
„Ja, natürlich, so gut wie die drei Male davor.“
„Dann überlasse ich dir jetzt den Rest.“
Damit brach die Bewusstseinsverbindung ab. M’bor-13 überlegte kurz, ob er erst die Folge zu Ende sehen sollte, aber das würde wahrscheinlich nur Ärger geben. Also aktivierte er das Platzierungsprogramm und überflog noch einmal die Fakten.
„Gesteinsplanet, südliches Quartil, zwölfter Paragraph. Koordinaten 12-3-9-Q.“ Die Koordinaten stimmten mit seiner Position überein und auch das angehängte Bild sah genauso aus wie der bläuliche Planet, der vor ihm im endlosen Raum schwebte.
„Die führende Rasse des Planeten sind zweigeschlechtliche Säugetiere mit zwei Armen und Beinen. Leicht behaarte Körper, geringe Intelligenz. Zusammenleben in kleinen sozialen Verbänden. Kommunikation über gutturale Laute. Zivilisatorischer Fortschritt nicht vorhanden.“
M’bor-13 bemitleidete den Jüngling, dem diese Platzierung zugewiesen worden war. Selbstverständlich schickte man ihn nicht einfach blind auf den fremden Planeten. Zuerst musste ein sicheres Umfeld sowie eine passende Mutter gefunden werden, die den Jüngling wie ihr eigenes Kind aufziehen würde.
Er ließ den Planeten auf Lebensformen scannen. Es gab nichts ärgerliches, als wenn eine geplante Platzierung scheiterte, weil eine Spezies ausgestorben war. Doch das Scanning kam schnell zu einem Treffer. In einer bewaldeten Region um den Äquator des Planeten befand sich eine Gruppe der gesuchten Art. Säugetiere, vier Gliedmaßen, haarig, geringe Intelligenz. Volltreffer.
Der Bordcomputer empfahl, einen vollständigen Scan des Planeten vorzunehmen, da es wohl weitere, ähnliche Spezies geben könnte. M’bor dachte jedoch an „Captain Tolak“ und entschied, dass jede dieser primitiven Gruppen gleich schlecht wäre.
Er wählte eins der weiblichen Exemplare aus, das im zeugungsfähigen Alter war, und aktivierte den Platzierungsprozess. „Viel Erfolg, Kleiner,“ murmelte er und überließ alles Weitere dem Bordcomputer.
Dann schaltete er endlich wieder auf „Captain Tolak“ um.
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Abes frühsten Erinnerungen waren sanftes Grün, Regentropfen, Weichheit und Wärme. Diese ersten Erinnerungen waren auch seine glücklichsten, denn kurz nach seiner Geburt war seine Mutter verstorben.
Andere Mütter hatten sich abwechselnd um Abe gekümmert, doch ihre eigenen Kinder hatten stets die fettigeren Nüsse und den wärmeren Schlafplatz bekommen. Sie hatten ihn nie vergessen lassen, dass er die zweite Wahl war.
Doch nicht nur der Verlust seiner Mutter machte ihn zum Außenseiter. Denn Abe war anders als die anderen Schimpansen im grünen Tal.
Die anderen Kinder schliefen viel, turnten auf den Rücken ihrer Väter umher oder jagten sich durch die Äste. Abe hingegen beobachtete die Erwachsenen dabei, wie sie Nahrung ernteten, Medizin zubereiteten und Unterkünfte bauten. Er stellte tausende Fragen, so lange, bis niemand mehr antworten konnten. Und als die anderen Kinder zum ersten Mal selbst einen Stein in die Hand nahmen, um ein paar Nüsse zu zerkleinern, hatte Abe sich bereits Werkzeug hergestellt, das effizienter war als das, was die Erwachsenen benutzten.
Später baute er sich eine Hütte am Rande des Tals, die dem Wind und dem Regen besser standhielt als die üblichen Blätternester. Mit seinen 15 Jahren war er vollkommen unabhängig von der Gemeinschaft, in die er nie ganz gepasst hatte. Und er war glücklich damit, allein zu sein.
Doch das sollte sich an einem frühen Sommermorgen ändern.
Abe wanderte zwischen den großen Gesteinsbrocken am Ufer des Flusses entlang, um einen spitzen Stein für seine Werkzeuge zu finden. Er hatte bereits einige Kandidaten aufgesammelt, als ein leises Kichern von jenseits des Gesteinsbrockens neben ihm ertönte. Das Kichern gefiel ihm. Es klang hell und freundlich.
Er kletterte auf den Brocken, um zu sehen, wer dahintersteckte. Der Anblick, der sich ihm bot, schockierte ihn: tiefschwarzes Fell, lange Arme und ein kräftiger Po. Dort saß das schönste Weibchen, das er je gesehen hatte. Die Steine, die er so mühevoll gesammelt hatte, glitten ihm einfach aus der Hand. Das Weibchen zuckte zusammen.
„Erschrick mich doch nicht so!“ sagte sie und blickte ihn neugierig an.
Abe bekam kein Wort heraus.
„Ich bin Aila“, sagte das Weibchen und betrachtete ihn. Dann kletterte sie mit auf den Steinbrocken und setzte sich genau vor ihn. Sein Herz schlug schneller.
„Du bist der Junge, der alleine wohnt,“ stellte sie fest. Ihr Atem roch nach Beeren und Flusswasser.
„Ja,“ krächzte er.
„Du bist sehr mutig,“ sagte sie.
Abe wollte etwas sagen, doch Aila zog ihn in eine Umarmung, die jedes weitere Wort überflüssig machte.
Von da an kam Abe jeden Morgen zum Fluss.
Aila liebte den Komfort und Schutz, den Abes Hütte ihr bot, und sie genoss es, dass er sie mit Mahlzeiten aus Früchten, Nüssen und Kräutern verwöhnte. Deshalb blieb sie bei ihm. Abe war nicht mehr alleine, doch das störte ihn nicht. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er das Gefühl, zu jemandem dazuzugehören.
„Ich möchte auf die andere Seite des Flusses,“ sagte Aila eines Tages.
Abe blieb die Nuss fast im Hals stecken. „Das ist zu gefährlich“, sagte er.
„Ich will über den Fluss“, wiederholte Aila.
„Das ist zu gefährlich! Die Bäume dort sind höher und nicht so dicht gewachsen wie auf unserer Seite,“ sagte Abe.
„Im Dorf gibt es genug Jungs, die mit mir über den Fluss gehen würden.“
Abe wusste, wann er geschlagen war. Am nächsten Morgen brachen sie auf. Nachdem die beiden sich fast eine halbe Sonnenwanderung lang von Ast zu Ast geschwungen hatten, bedeutete Aila Abe, anzuhalten.
„Was ist denn?“ fragte er.
„Sieh mal“, sagte sie und zeigte nach unten.
Abe kniff die Augen zusammen, um durch das Geäst zu blicken. Auf dem Waldboden schimmerte es rötlich.
„Das sind rote Beeren“ rief Aila, „und ich habe Hunger.“
„Es ist zu gefährlich, runterzugehen.“
„Ach Quatsch, oder denkst du, die hätte ein Leopard da hingelegt?“ fragte Aila. Wie immer wartete sie nicht auf seine Erlaubnis, sondern kletterte bereits abwärts.
Abe zögerte. Er hatte kein gutes Gefühl bei der Sache.
„Das sind die größten roten Beeren, die ich je gesehen hab!“ rief Aila.
Abe griff nach einer Liane. Wenn Aila sich schon in Gefahr brachte, wollte er wenigstens mit dabei sein, um sie zu beschützen. Er landete neben ihr auf dem laubbedeckten Boden.
Vor ihnen türmte sich ein riesiger Haufen roter Beeren auf.
„Nimm dir eine Handvoll und dann lass uns wieder verschwinden“, sagte er.
„Ja, ja. Komm schon, du bist doch sonst so mutig,“ kicherte sie und machte einen Schritt auf die Beeren zu.
„Oh, was ist…“ sagte sie und griff sich ans Bein. Ehe Abe begriff, was geschah, wurde Aila kopfüber in die Höhe gerissen.
„Ahhhhhhhhhh“
Ihr Schrei fuhr Abe durch Mark und Bein.
„Mein Bein steckt fest,“ schluchzte sie und wand sich in der Luft. Sie hing in einer dünnen, grauen Liane, die an einem der auf die Lichtung ragenden Äste befestigt war.
„Halt durch,“ rief Abe und hangelte sich an einer anderen Liane hoch, um den Ast zu erreichen. Das rettete ihm das Leben.
Denn in dem Moment brach ein brüllendes Ungeheuer durchs Dickicht. Es hatte grelle Augen und stank fürchterlich. Das Ungeheuer fuhr auf die Lichtung und blieb genau unter Aila stehen.
Auf dem Ungeheuer saßen Wesen, die noch schrecklicher waren: riesige, haarlose Schimpansen.
Abe brachte sich auf einem höher gelegenen Ast in Sicherheit und starrte die fremden Wesen an. Genau wie Abe liefen sie auf zwei Beinen, die jedoch viel steifer und länger waren. Eins der Wesen trug ein längliches, glänzendes Werkzeug. Er richtete es auf Aila und plötzlich ertönte ein Knall. Die Schimpansin zuckte noch einmal, dann hing sie schlaff.
Abes Eingeweide zogen sich zusammen. Er bohrte seine Nägel in die Baumrinde. Aila war die Einzige, die ihn so angenommen hatte, wie er war. Am liebsten hätte er sich auf die unheimlichen Wesen gestürzt, doch die Angst vor dem Ungeheuer hielt ihn zurück. Er wusste, dass er dagegen keine Chance hatte.
Die Wesen zogen Aila mit einem langen Stab zu ihnen hinunter. Sie schnitten die Liane über ihrem Bein ab und schoben sie in einen grauen Kasten auf dem Rücken des Ungeheuers. Dann sprangen sie selbst auf das Ungeheuer, das laut aufbrüllte und im Unterholz verschwand.
Abe schnappte sich die nächste Liane und folgte dem Lärm.
Die Sonne war schon lange hinter dem Horizont verschwunden, als das Ungeheuer endlich stehenblieb. Abe sackte keuchend auf einer Astgabel zusammen. Er hockte auf einem Baum am Rande eines Hügels am Flussufer.
Auf dem Hügel selbst stand eine große Hütte, die aus einem einzigen, riesigen Blatt zu bestehen schien, das am Boden festgemacht worden war. Abe fragte sich, wo er so große Blätter für seine eigene Hütte finden könnte.
Die haarlosen Wesen trugen den Kasten mit Aila den Hügel hoch. Sie stellten ihn neben die Hütte und bauten danach einen Kreis aus Steinen, in dem sie Äste aufeinanderstapelten. Als plötzlich ein Feuer darin aufloderte, erschrak sich Abe. Er hatte Feuer schon häufiger gesehen, dort, wo der Wald in die große Ebene überging. Ganze Teile des Waldes hatten rot und orange geleuchtet und die Bäume waren schwarz geworden. Es war heiß gewesen und hatte ihm Angst gemacht.
Während die Äste im Steinkreis langsam verbrannten, hockten die Wesen sich um das Feuer und aßen von Holzplatten. Der fremde Duft der Speisen drang zu Abe rüber. Sein Bauch knurrte so laut, dass er fürchtete, die Wesen würden ihn hören. Doch sie aßen ruhig zu Ende und begaben sich danach in ihre merkwürdige Hütte.
Abe wartete, bis der Mond hoch am Himmel stand und vom Feuer nur noch ein schwaches Glimmen übrigblieb. Dann kletterte er nach unten. Er schlich über den steinigen Boden wobei er darauf achtete, einen großen Bogen um das schlafende Ungeheuer zu machen. Er erreichte den grauen Kasten, in dem Aila gefangen war. Vorne war eine kleine Öffnung, durch die er sie atmen hörte.
„Aila?“
„Abe?“ erklang es schwach. Seine Brust zog sich zusammen.
„Ja, Aila. Bist du okay?“
Ein braunes Auge, das schönste, das Abe kannte, tauchte hinter der Öffnung auf.
„Mein Bein tut so weh.“ Sie schluchzte leise. „Es ist alles meine Schuld.“
„Nein. Ich hätte besser auf dich aufpassen müssen,“ zischte Abe.
„Was könntest du schon tun, gegen diese Monster?“
“Ich werde dich hier rausholen.“ Er versuchte, den Kasten zu öffnen, so wie er es bei den Haarlosen gesehen hatte, doch es funktionierte nicht.
„Ich brauche Werkzeug,“ flüsterte er. „Ich bringe den Kasten von hier weg und befreie dich dann in Ruhe.“ Er zog am Kasten. Der ließ sich zwar fortbewegen, kratzte jedoch polternd über den steinigen Boden.
In der Hütte leuchtete es auf.
„Schnell, versteck dich,“ zischte Aila.
„Nein, ich lasse dich nicht…“
„Hau ab! Es bringt nichts, wenn wir beide gefangen sind!“
Er sah ein, dass Aila Recht hatte, und verbarg sich im nahen Gebüsch. Aus der Hütte kam eines der Wesen und schlurfte zu Aila rüber. Er verpasste dem Kasten einen Tritt und ging zurück zu seiner Hütte. Abe presste die Finger zur Faust. Ihm blieb nichts anderes übrig als ruhig zu warten, bis das Wesen wieder in der Hütte verschwunden war.
Dann fasste er einen Plan.
Er schlich sich an den Hütten vorbei, direkt auf den Steinkreis mit der Glut zu. Er nahm einen der glühenden Äste, die schon zur Hälfte erkaltet waren und schlich sich damit zur Hütte. Er legte den glühenden Stab so auf den Boden, dass die Glut die Außenwand der Hütte berührte. Danach zog er sich auf einen der Bäume am Ufer zurück und beobachtete.
So, wie Abe es am Waldrand schon gesehen hatte, setzte die Glut die Blätterhütte in Brand. Erst stieg grauer Qualm auf, dann züngelten kleine Flammen, bis schließlich die halbe Hütte loderte. Da wurden die Wesen wach und stolperten schreiend in den Mondschein. Sie rannten hin und her und schrien sich gegenseitig an. Jetzt war es an der Zeit. Abe hangelte sich den Baum hinab und rannte zu dem grauen Kasten. Die Wesen waren damit beschäftigt, das Feuer zu löschen. Eines von ihnen rannte hinunter zum Fluss.
„Aila,“ sagte Abe, „nicht erschrecken!“ Dann zerrte den Kasten den Hügel hinab in Richtung des Waldes. Er guckte nur nach vorne, auf den Waldrand. Im Rücken hörte er die Schreie der fremden Wesen und an den Bäumen vor ihm flackerte das rote Licht der Flammen. Seine Arme schmerzten und er war unglaublich müde, doch er zog weiter. Er zog und zog, und dachte nicht mehr an die fremden Wesen, er sah nur noch den rettenden Waldrand vor sich.
Da heulte das Ungeheuer auf. Abe warf einen Blick über die Schulter. Ganz nah leuchteten die grellen Augen in die Nacht. Das Ungeheuer rief nach ihm.
Abe rannte schneller. Seine Arme brannten, seine Augen tränten, doch er rannte weiter. Er riss Aila in ihrem Kasten mit sich mit, auf den Wald zu. Nur noch wenige Schritte, nur noch eine letzte Anstrengung, dann würde er sie wieder nach Hause bringen, in Sicherheit…
… und dann war das Ungeheuer vor ihm.
Seine grellen Augen blendeten ihn und sein stinkender Atem verstopfte ihm die Nase. Abe wollte umdrehen, einen Bogen laufen, doch da sprang ihm eins der großen haarlosen Wesen in den Weg. Es sagte etwas Unverständliches und richtete das lange, glänzende Werkzeug auf ihn. Dann knallte es.
Und plötzlich blieb die Welt stehen.
Ein zerreißender Ton lag in der Luft. Abe konnte seine Augen nicht bewegen, sondern starrte geradewegs auf den spitzen Pfeil, der vor seiner Brust schwebte. Er sah jede Falte in dem wutverzerrten Gesicht des fremden Wesens, er sah die Baumkronen, die bewegungslos verharrten und er sah im Augenwinkel eine Fledermaus, die mitten im Flug erstarrt war.
Dann spürte er die Gegenwart eines weiteren Wesens. Doch das Wesen war nicht im draußen, sondern im Drinnen.
„Wer bist du?“ fragte Abe.
„M’bor-13“, antwortete die andere Gegenwart.
„Was machst du in mir?“
„Ich bin nicht in dir. Ich erreiche dich über einen gemeinsamen Bewusstseinskanal.“
„Warum bleibt die Zeit stehen?“
„Das ist bei einem Bewusstseinskontakt normal,“ erklärte M’bor-13.
Abe surrte der Kopf. Das Wesen redete von Dingen, die er nicht verstand.
„Du bist einer von uns.“
„Einer von euch?“
„Siehe selbst.“
Da berührte etwas Abes Geist, das beinahe so groß war, wie das Universum selbst. Sein Bewusstsein erweiterte sich auf tausend Ebenen. Das Wissen einer Spezies, die seit drei Millionen Jahren das Universum erforschte, brach durch den Staudamm seiner Ignoranz und überflutete jede Bewusstseinsebene, jede Hirnwindung, jede Synapse. Doch die Flut ertränkte ihn nicht, sondern fühlte sich kühl, erfrischend und erregend an.
Abermillionen Informationen, Schlussfolgerungen und Gesetzmäßigkeiten überfluteten Abes Geist. Alles, was er bisher gesehen hatte und auch sonst alles, was es zu sehen geben würde, ergab plötzlich einen Sinn. Vor seinem geistigen Auge erschloss sich ein riesiges Netzwerk an Informationen. Verbindung für Verbindung, Achse für Achse füllte es sich, ergab eine perfekte Harmonie. Eine unbeschreibliche Euphorie erfasste ihn.
Er verstand!
Doch dann bemerkte er etwas. Ganz oben im Wissensnetzwerk, am äußersten Rand, war eine klitzekleine Lücke dort, wo keine Lücke sein sollte. Nun, wo er es gesehen hatte, war die perfekte Harmonie gestört. Die Enttäuschung von drei Millionen Jahren durchfuhr ihn.
„Was ist das?“ fragte er, von Schmerz gepeinigt.
„Das“, sagte M’bor-13, „ist die Lücke.“
„Die Lücke?“
„Die eine Information, die fehlt.“
„Die wozu fehlt?“
„Damit das alles einen Sinn hat.“
„Welchen Sinn?“
„Der Sinn des Lebens halt! Warum wir und all die anderen Spezies überhaupt existieren. Wozu es all das Wissen überhaupt gibt. Das ist übrigens auch der Grund, warum du auf diesem dreckigen, scheußlichen Planeten gelandet bist.“
„Was hat das denn damit zu tun?“
M‘bor-13 seufzte. „Du kannst das auch einfach im geteilten Wissen nachlesen. Wir leben seit ein paar Millionen Jahren nur noch in Raumschiffen. Denen kann niemand was anhaben und auch unser biologisches Leben können wir um sehr, sehr lange Zeit verlängern. Und falls doch mal etwas schiefgeht, bleiben wir uns immer noch gegenseitig im geteilten Bewusstsein erhalten.“
„Wir sind praktisch unsterblich aber haben immer noch nicht den Sinn vom Leben begriffen?“
„Ja, genau.“
„Das ist schrecklich.“
„Ich weiß. Deshalb hatte der Ältestenrat auch die Idee, dass es vielleicht gar nicht gut ist, von klein auf so lebensfremd zu existieren, wie wir es tun.“
„Und ihr hofft, dass ich dadurch, dass ich so lebe, wie es ursprünglich gedacht war, verstehe, welchen Sinn das Ganze hat.“
„Fast. Nicht nur du, sondern jeder Jüngling verbringt den ersten Umlauf seines Lebens bei einer fremden Spezies.“
„Und bisher hat nie einer den Sinn des Lebens verstanden?“
„Nein,“ entgegnete M’bor-13. „Bisher noch nicht.“
„Ein Umlauf ist noch nicht vorbei. Warum hast du mich schon kontaktiert? Um mein Leben zu retten?“ fragte er dann mit einem Blick auf den Pfeil vor seiner Brust.
„Ja. Sobald ein Jüngling in Lebensgefahr ist, wird sofort ein Kontakt hergestellt. Es wäre ja unfair, wenn ihr tatsächlich sterben könntet.“
„Aber dann habe ich ja nie richtig gelebt.“
„Nein, aber du hast gedacht, du hättest es getan. Das ist das Wichtigste.“
Abe schwieg.
„Übrigens gab es in deinem Fall noch ein kleines Missgeschick bei der Platzierung. Eigentlich hättest du zu der anderen Spezies geschickt werden sollen – Menschen werden sie genannt. Das sind die, die gerade den Pfeil auf dich geschossen haben. Leider bist du stattdessen bei einer Art gelandet, die noch primitiver ist.“
Abe starrte wieder das haarlose Wesen – den Menschen – vor sich an.
„Ich hätte gar kein Schimpanse sein sollen?“
„Nein. Da ist dem Bordcomputer wohl ein Fehler unterlaufen. Aber du scheinst dich ja zurecht gefunden zu haben und die Lebensgefahr wurde trotzdem bemerkt. Dann wäre jetzt alles bereit.“
„Bereit wofür?“
„Dich da rauszuholen, natürlich.“
Abe dachte an Aila, die im Kasten – im Käfig, wie er jetzt wusste – lag. Daran, als sie mit ihm am Flussufer das Nest geteilt hatte. An das Gefühl, wenn ihre weichen Finger durch sein Fell fuhren. An die Wärme im Bauch, wenn er morgens aufwachte und sie neben sich atmen spürte.
Dann dachte er an die Verbitterung und Enttäuschung einer unsterblichen Spezies, die seit drei Millionen Jahren auf der Suche nach dem Sinn des Lebens durchs Weltall reiste.
Fast musste er lachen.
„Nein“, sagte er.
„Was, nein?“, fragte M’bor-13. Abe spürte seine Verwunderung.
„Das heißt, ich bleibe hier“, erklärte Abe.
„Du bleibst hier? Das geht nicht.“
„Warum?“
„Du wirst all dein Wissen verlieren. Kein geteiltes Bewusstsein haben. Und du wirst sterben! Endgültig!“
„Ich weiß,“ sagte Abe. „deshalb bitte dich noch um einen Gefallen.“
„Bei diesen Affen zu hausen hat dir offensichtlich den Geist vernebelt. Warum sollte ich einem Verrückten einen Gefallen tun?“
„Weil der sonst dafür sorgt, dass der Ältestenrat von dem kleinen Missgeschick bei der Platzierung erfährt.“
Auf der anderen Seite des Bewusstseinskanals herrschte Stille.
„Worum geht es?“ ertönte es schließlich.
Abe lächelte innerlich. „Mithilfe des Bordcomputers wird es kein Problem sein“, sagte er und erklärte seinen Plan.
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„Bist du dir ganz sicher?“ versuchte M’bor-13 es ein letztes Mal, nachdem er die von Abe gewünschten körperlichen Modifikationen umgesetzt hatte. „Es gibt keine zweite Chance. Du wirst sterblich sein.“
„Genau das ist ja der Punkt“, sagte Abe. „Ich werde richtig leben.“
Er beendete den Bewusstseinskontakt und wurde wieder zum Affen. Sofort lief die Zeit weiter. Der Pfeil prallte von Abes gehärteter Muskulatur ab. Der Mensch sah Abe verdutzt an. Abe sprang auf ihn zu und streckte ihn mit einem einzigen Faustschlag nieder. Vor dem Ungeheuer hatte er nun keine Angst mehr. Er packte es und schleuderte es ins Unterholz. Dann rannte er rüber zum Feuer, das die anderen Menschen immer noch zu löschen versuchten.
Sie bemerkten ihn erst, als er den ersten am Bein gepackt und in den Fluss geschleudert hatte.
Nachdem er mit den anderen beiden fertig war, lief er zurück zum Käfig. Er war nun stark genug, das Sicherheitsschloss mit einer Hand aufzubrechen. Aila kroch aus dem Kasten, sah das Ungeheuer im Busch liegen und die verdrehten Gliedmaßen ihrer Entführer. Ihre Lippen formten eine Frage, doch Abe schloss sie einfach in die Arme und hielt sie fester als je zuvor.
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M’bor-13 saß regungslos im Cockpit, während der Abspann von „Captain Tolak“ in seinem Nebenbewusstsein lief. Er hatte sich kaum auf die neue Folge konzentrieren können.
Die Sache mit dem Jüngling ließ ihn nicht los. Denn zum ersten Mal in seinem langen Leben hatte er das nagende Gefühl, etwas Entscheidendes nicht verstanden zu haben.
Die Idee ist gut und originell. Die Auflösung war nicht allzu überraschend. Die Sprache gefällt mir sehr. Auch das Setting. Und ich muss jetzt unbedingt eine Captain-Tolak-Folge sehen.
AntwortenLöschenWar schon ganz witzig.
AntwortenLöschenOh ist die Geschichte schön!!! Ich bin hin und weg. Sooo emotional. Ich musste am Ende Tränchen vergießen.
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