DACSF2025_79

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Sohn

»Ich komme nicht von hier.«

Sie hätte beinahe über die melodramatische Ernsthaftigkeit, mit der er diesen Satz von sich gegeben hatte, gelacht. Seine Mundwinkel waren nach unten verzogen und seine Gesichtsmuskeln versuchten, die Stirn in Falten zu werfen, doch die junge glatte Haut kräuselte sich kaum. Dieser Anblick war so niedlich, am liebsten hätte sie sein Haar getätschelt. Stattdessen behielt sie eine neutrale Miene bei, die Hände hielt sie vorsichtshalber im Schoß gefaltet, bevor sie etwas Peinliches anstellen konnten.

»Ah«, sagte sie. Er beugte sich vor. Jetzt kommts, dachte sie. Er hatte es damals gut aufgefasst, hatte sie gedacht. Er hatte kaum Fragen gestellt, obwohl sie mit welchen gerechnet hatte. Mit vielen, um genau zu sein. Doch es hatte keine gegeben. Sie hatte ihm alles erzählt, was man ihr vom Jugendamt berichtet hatte, was wenig war, doch es schien ihm zu genügen. „Ah“, hatte er gesagt und sie hatte halb amüsiert, halb schuldbewusst ihre eigene Art wiedererkannt. Das hat er von mir, hatte sie gedacht. Ich habe es ihm beigebracht.

Dieses Verhalten war eigentlich nicht für ihn vorgesehen gewesen. Er hätte auf eine völlig andere Weise reagieren müssen. Vielleicht mit einem Kopfschütteln, zusammen mit einem schnellen Streichen durch das etwas zu lange Haar.

Aber das hatte er nicht. Weil er ihr Junge war. Und das schien er ebenso zu sehen. Er hatte ihr aufmerksam zugehört, ein paar Fragen gestellt und es dann abgehakt. Als würde es dabei nicht um ihn gehen, sondern um eine völlig andere Person.

Sie schlich mehrere Wochen mit etwas, das sich wie eine bis zum Beben gespannte Gitarrensaite entlang ihrer Wirbelsäule anfühlte, durch die Zimmer ihres Hauses. Bei jedem Beginn einer Unterhaltung erwartete sie den Knall, vor dem sie der Psychologe gewarnt hatte, doch der kam nicht. Irgendwann hatte die innere Spannung nachgelassen bis sie beinahe völlig verschwunden war. Beinahe.

»Lehnen Sie sich nicht vorschnell zurück«, hatte der Psychologe gesagt. »Es kann viel Zeit vergehen und alles normal erscheinen, aber solche Informationen arbeiten und plötzlich ist die Unsicherheit da: Wer bin ich wirklich? Wo sind meine Wurzeln? Und manchmal arbeiten diese Informationen nicht nur, sie gären. «

Ohne Überraschung spürte sie die Stahlsaite in ihrem Inneren sich leise recken und strecken, als wäre sie aus dem Winterschlaf erwacht. Jetzt war es anscheinend soweit, jetzt würden die Fragen kommen.

Eine hätte ich auch, dachte sie, während ihr ruhiger Blick unverwandt auf sein ernstes Gesicht gerichtet blieb. Hat es nur gearbeitet? Oder hat es gegärt?

»Ich bin ein Außerirdischer.«

Ihre Augen weiteten sich leicht. Das kam unerwartet. Kein: Du bist nicht meine Mutter. Ich muss wissen, wer meine echten Eltern sind. Warum sie mich verlassen haben. Ich weiß nicht, wer ich bin.

Mit so etwas hatte sie gerechnet. Oder: Liebst du mich so, wie echte Mütter ihre Kinder lieben?

Sie hatte sich seit Jahren schon Antworten zurechtgelegt, die vermutlich alle unbefriedigend sein mussten, doch es waren die besten, die sie geben konnte.

Die Polizei hat intensiv nach einer Schwangeren gesucht, die am 15. Dezember hier gelebt hat, aber sie haben niemanden gefunden. Vermutlich war es ein Teenagerpärchen auf der Durchreise, das sich nicht anders zu helfen wusste. Es stimmt, ich bin nicht die Frau, die dich geboren hat, doch ich liebe dich mehr als ich es je für möglich gehalten hätte. Ich würde alles für dich tun, einfach alles. Du bist mein Junge. Du bist der wundervollste Sohn, den sich eine Mutter nur wünschen kann. Und das warst du auch für deinen Vater. Keine Widerrede, er war dein Vater.

Jetzt beugte er sich vor. Sein Blick war so eindringlich, dass der Anflug des Lachens (ein Witz, er hatte natürlich einen Witz gemacht, das war alles, aber wie ernst er dabei aussah!) in ihrem Inneren erstarb, bevor er ihre Mundwinkel erreichte. Er nahm ihre Hände zwischen seine (das hatte er noch nie gemacht!), ließ ihre Augen jedoch keine Sekunde los. »Das ist kein Witz, Mama. Hörst du zu? Hörst du mir zu?«

Sie nickte benommen. Dass er sie weiterhin Mama nannte, milderte den Schrecken ein wenig ab, den der Griff nach ihren Händen in ihr ausgelöst hatte. »Ich habe mit Nina Schluss gemacht«, sagte er völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Dieser vollkommen willkürlich erscheinende Gedankensprung löste ein Gefühl der Schwerelosigkeit in ihr aus. Wovon redete er? Hatte sie etwas nicht mitbekommen? Erwartete er etwa eine bestimmte Reaktion? Dann durchflutete sie Erleichterung, sie entzog ihm ihre Hände, ihre Augen huschten rasch über die Möbel hinter ihm.

»Mama?«

Auf dem zweiten Regalbrett, das hatte die richtige Höhe, um sie gut ins Bild zu setzen.

Ein Finger schnippte vor ihrer Nase. »He, Mama! Hörst du mir zu? Was suchst du?«

Ein wenig unwillig schob sie seine Hand beiseite. Sie stand schnell auf. Klar, er war fünfzehn, vermutlich war es zurzeit in, Eltern zu verarschen und es dann auf YouTube oder TikTok oder was auch immer zu stellen, aber nicht mit ihr, nicht mit der Tochter ihrer Mutter! Sie warf ihm einen scharfen Blick zu und schob rasch Bücher und Nippes Figürchen beiseite. Nichts.

Erstaunt sah er ihr zu, wie sie peinlich genau diverse Möbelstücke durchsuchte. Nach einer Weile, währenddessen er stumm zugeschaut hatte, kam sie zurück und setzte sich wieder mit im Schoß gefalteten Händen auf den Stuhl. Seinen fragenden Blick ignorierte sie.

»Warum?«

»Warum was?«, fragte er verwirrt.

»Nina. Du kamst mir sehr verliebt vor.«

Eine zarte Röte stieg seine Wangen hinauf. »Das war ich auch. Bin ich auch. War. Ich weiß auch nicht.« Er verstummte, starrte einen Moment blind an ihr vorbei. In seinem Gesicht arbeitete es, während er versuchte das, was in ihm vorging, in Worte zu fassen.

»Ich war … als sie die Einladung zum Eislaufen angenommen hat, das was der Hammer! Und – also die drei Wochen danach waren die besten meines Lebens.«

Das entlockte ihr nun doch ein Lächeln. Es klang wie der Titel eines Romans: Die besten Wochen meines Lebens – von Finn Sesselmann.

Sie hatte die beiden letzte Woche beim Knutschen ertappt, aber so getan, als hätte sie nichts gesehen. Während sie ihre Einkäufe lauter als notwendig weggeräumt hatte, um ihnen genug Zeit zu geben ihre Hormone (und Kleidung!) unter Kontrolle zu bringen, hatte sie bereits mit einiger Sorge überlegt, wann und vor allem wie sie das Thema Verhütung anschneiden sollte – offensichtlich lieber früher als später. Sie freute sich zwar auf Enkel (mit der Adoption war ein schon ausgeträumter Traum zu neuem hoffnungsvollem Leben erwacht, ein Traum, der nach Martins Tod umso süßer und auch dringlicher, beinahe überlebenswichtig wurde), doch das hatte verdammt nochmal noch Zeit.

Er verstummte wieder und sie wartete. Seine Brauen zogen sich zusammen, seine Finger trommelten einen schnellen Rhythmus auf sein Knie. Schließlich hakte sie nach: »Was ist passiert?« Ob er das Mädchen zu etwas gedrängt hatte, wozu sie noch nicht bereit gewesen war? Hoffentlich nicht. Zum Glück lag sie schon wieder daneben.

»Es fing an, als wir im Kino waren«, begann er. Er sah sie verlegen an. »Weißt du, eigentlich war uns der Film total egal.« Sie nickte aufmunternd. »Naja, also wir haben ein bisschen rumgeschmust. Aber dann … «

Betroffen registrierte sie wie sich seine Lippen kräuselten. Er ekelt sich, dachte sie verwundert. Davon hatte sie damals, als sie zu früh vom Einkaufen heimgekommen war, nichts bemerkt. »Es war irgendwie – ich weiß nicht, es war irgendwie anders. Es fühlte sich total falsch an.« Er wirkte verletzt, als hätte ihn dieses Gefühl der Falschheit auf irgendeine Art und Weise um etwas betrogen.

»Vielleicht warst du einfach nicht richtig verliebt«, sagte sie vorsichtig. Sie erinnerte sich an ihren ersten Freund. Erst waren die körperlichen Zärtlichkeiten aufregend gewesen, doch das war von einem Moment auf den anderen in das Gegenteil umgeschlagen. Irgendwann hatte sie festgestellt, dass sie so weder berührt noch geküsst werden wollte. Nicht von ihm. Und genauso schnell wie die Leidenschaft aufgeflammt war, war sie auch wieder erloschen.

»Nein, daran lag es nicht. Ich finde Nina einfach – der Wahnsinn! Sie ist total cool und hübsch und klug und witzig und – eben, verstehst du? Es hat sich einfach plötzlich falsch angefühlt.« Er fuhr sich aufgebracht durch sein Haar, das daraufhin in alle Richtungen abstand.

»Ah«, machte sie schließlich. Zweifelnd musterte sie ihren Sohn. Heutzutage lag es ja im Trend, sich in seiner Geschlechteridentität mit einem Hauch der Unsicherheit zu umgeben. Lag es daran? Stand er auf Jungs?

Der Gedanke an künftige Enkelkinder schob sich ungefragt aus der Versenkung in den Vordergrund. Und wieder einmal lag sie daneben. Das schien an diesem Abend ihr Ding zu sein.

»Ihre Zunge war zu heiß«, klagte er.

Jetzt lachte sie doch. »Ich dachte, zu heiß gibt es nicht.«

Er wurde rot und sie bereute ihre unbedachte Frotzelei umgehend. »Ich meine das ernst«, sagte er ärgerlich. »Ihre Zunge war wie ein zu heißes Würstchen.«

Sie lachte noch lauter. Ein Grinsen zuckte unfreiwillig über sein gekränktes Gesicht. Er setzte noch einen drauf: »Ich hätte mich fast verbrannt!«

Jetzt lachte sie lauthals los und kurz darauf stimmte er in ihr Gelächter mit ein. Sie wischte sich Lachtränen aus den Augenwinkeln. Dann ergriff sie seine Hände (seine kalten Hände wie ihr schon vorhin aufgefallen war). »Vielleicht war sie krank und hatte Fieber? Wäre das nicht möglich?« Er schüttelte den Kopf. Er erzählte nichts davon wie sie während des Kusses nach einigen Sekunden verwundert die Augen geöffnet hatte. Und auch nicht, dass sie es beide anschließend vermieden, die Knutscherei wieder aufzunehmen. Und er sagte auch nichts von den Gedanken, die ihm während des Films durch den Kopf geschossen waren, nämlich, was sie im Gegenzug empfunden haben mochte, wenn er ihren Mund als einen überhitzten Backofen empfunden hatte.

»Mir ist irgendwann aufgefallen, dass jeder so unangenehm heiß ist. Sogar du. Also hab ich gedacht, dass mit mir was nicht stimmt und ich hab dann mal meine Körpertemperatur gemessen und, also, irgendwie bin ich voll untertemperiert und da dachte ich natürlich, dass ich krank bin oder so, aber ich wollte dir nichts sagen, weil du dir dann nur Sorgen machst. Ich fühle mich überhaupt nicht krank, also dachte ich, das geht bestimmt wieder weg, ist vielleicht ne Hormonsache oder so und -« Er lachte plötzlich los, schien es wirklich witzig zu finden, was er da sagte, »- und das krasse ist, es ist wirklich eine Hormonsache, wie SIE mir erklärt haben. Das ist vollkommen normal, dass mit dem Eintritt der Geschlechtsreife die Basaltemperatur um bis zu 4 Grad abfällt und -« Sie hielt ihm die ausgestreckten Finger auf die Lippen, um ihn zu stoppen. »Was – redest – du – da?«

Sein Redefluss brach mit der Berührung ab. Sie starrte ihm in die Augen und er erwiderte gelassen ihren Blick und plötzlich wurde sie gewahr, wie kühl sich seine Haut anfühlte. Langsam bewegte sie ihre Finger über den Bogen seiner Oberlippe zu den Wangen hin, legte ihre Handfläche auf die noch kindliche Rundung, glitt seinen Hals entlang. Die Stahlsaite vibrierte in ihrem Inneren. Sie stand auf und verließ das Zimmer. Als sie mit dem Fieberthermometer in der Hand wiederkam, saß er noch genauso da. Sie steckte es ihm nicht wie sonst unter die Achsel, sondern hielt es ihm beinahe herausfordernd unter die Nase. Gehorsam öffnete er den Mund. Während sie auf das Piepsen warteten, wandte sie keinen Moment den Blick von der blinkenden Digitalanzeige. Grimmige Furchen zogen sich um ihre Mundwinkel. Als es endlich piepste, nahm sie es nicht heraus. 33,2°. Geduldig blieb er mit dem Thermometer unter der Zunge sitzen. Nach einer Weile sprang die Anzeige auf 33,3°. Finn machte Anstalten, nach dem Thermometer zu greifen, doch sie hielt ihn mit einer beinahe wütenden Bewegung davon ab. Sie warteten schweigend. Schließlich nahm er es aus dem Mund. »Es wird nicht mehr«, sagte er sanft.

»Wir … wir müssen dich zum Arzt bringen«, stammelte sie, den Blick unverwandt auf das Fieberthermometer gerichtet. »Komm, ich hole nur schnell meine Jacke, dann können wir -«

»Ich bin nicht krank Mama.« Er lächelte sie an. »Ich bin vollkommen gesund. Ich bin ein Außerirdischer.«

Ihre Knie versagte ihr den Dienst, ihre Beine schienen aus Gummi. Er fing sie auf, ehe sie stürzen konnte und ließ sie in ihren Sessel gleiten. Er kniete sich vor sie hin und legte seinen Kopf in ihren Schoß. »Mir geht es gut, Mama. Mach dir keine Sorgen.«

Das ist doch Blödsinn, dachte sie, während er ihr erzählte, wie SIE mit ihm vor kurzem Kontakt aufgenommen hatten, dass SIE ihre Jungen immer auf fremden Planeten zurückließen, nicht, weil SIE ihre Kinder nicht liebten, sondern weil es eben ihre Natur sei, genau wie bei diesen Vögeln, nur warfen SIE dafür keine echten Menschenkinder aus dem Nest. SIE vertrauten ganz auf das Mitleid und den Beschützerinstinkt, den ein Baby in jedem Menschen (fast jedem Menschen) auslöste. Die ausgesetzten Kinder unterschieden sich in nichts von den menschlichen. Diese Mimikry funktionierte auch bei anderen Spezies, aber die Menschheit war den Außerirdischen aufgrund ihrer emotionalen Bindung an ihren Nachwuchs am liebsten.

»So können SIE sicher sein, dass ihren Kindern die größte Fürsorge zuteilwird«, sagte Finn mit leuchtenden Augen und drückte sie, um ihr zu zeigen, wie recht er seinen Erzeugern gab.

Blödsinn, dachte sie. Beschissener Blödsinn!

Mit der Geschlechtsreife, erzählte Finn weiter, erwachten dann die außerirdischen Gene und lösten in kürzester Zeit körperliche Mutationen aus, die sich nicht lange verheimlichen ließen, weshalb die Jungen dann auch so schnell wie möglich von ihren leiblichen Eltern abgeholt wurden.

Klar, dachte sie. Noch einen feuchten Händedruck und danke fürs Babysitten. Sie streichelte abwesend sein Haar. »Es tut mir so leid«, sagte er mit tränenerstickter Stimme. »Vor allem, weil ich weiß, wie wichtig dir eine Familie immer war.«

»Ja«, sagte sie nur.

»Ich werde dich nicht besuchen können. Es tut mir leid, es tut mir so leid. Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt fort will, schließlich bist du meine Mama.« »Ja«, sagte sie und streichelte weiter sein Haar. Sie wischte sanft seine Tränen ab, die ihm über die Wangen kullerten. Sein Gesicht fühlte sich immer noch kühl an, obwohl die Haut unter seinen Augen gerötet war. Sie lächelte ihn wieder an, diesmal weniger abwesend, mehr da. Schließlich war das alles hier nur Blödsinn. Ein seltsamer Blödsinn, irgendeine Sache, die nur fünfzehnjährige verstanden, aber nichtsdestoweniger eben Blödsinn.

»Ich muss schon heute Nacht los«, sagte er. Er schien leicht aus der Fassung gebracht, überrollt von zu schnellen Veränderungen und Gefühlen. »SIE sagen, es muss sein. SIE haben mir versichert, dass du deswegen keine Schwierigkeiten bekommen wirst. Sonst wäre ich auch nie einverstanden gewesen. Glaubst du mir das?« Seine Finger gruben sich fest in ihre Oberarme, als er das sagte. Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte, also nickte sie. Er wartete eine Weile, ob sie doch noch etwas sagen würde, doch da kam nichts. Er ließ sie los und lehnte sich ein wenig zurück. »Jugendliche verschwinden immer wieder«, sagte er ein wenig unsicher. Offensichtlich erwartete er wieder eine Reaktion ihrerseits, also nickte sie erneut. Dann hellte sich sein Gesicht auf. »He, aber immerhin musst du dir keine Sorgen machen, dass mir irgendwas passiert ist. Das ist doch gut, oder?« Nicken. Klar. Das war immer gut. Plötzlich umschlang er sie mit beiden Armen. »Du wirst mir so fehlen! Ich hab dich lieb, Mama! Du bist die beste Mama auf der ganzen Welt!«

Sie erwiderte seine Umarmung. Was sollte sie auch sonst machen?

Am nächsten Morgen war ihr Sohn verschwunden.

Blödsinn, dachte sie, während sie auf das etwas ungelenke Herz sah, in dem in Finns eckiger Schrift nur das Wort Danke stand. Er hatte es mit Wasserfarben auf ein liniertes Blockblatt gemalt und auf sein Kopfkissen gelegt. Das Bett war gemacht. Ob das typisch für Finn sei, hatte sie der Polizist gefragt, der sich am Nachmittag desselben Tages in Finns Zimmer umsah. Wie sich herausgestellt hatte, musste man keine 24 Stunden warten, um sein Kind als vermisst zu melden. Völlig untypisch, hatte sie erwidert. Den Abschiedsbrief zeigte sie dem Mann nicht. Sie hatte ihn zusammengefaltet in die Brusttasche ihrer Bluse gesteckt. So nahe an ihrem schmerzenden Herzen wie möglich. Sein Rucksack fehlte. Ebenso ein paar Klamotten, der Inhalt seiner Spardose, sein Ausweis und seine Kuschelkatze. Er fehlte.

Sie fanden ihn nicht. Finn Sesselmann war wie vom Erdboden verschluckt. Da er seinen Ausweis sowie Geld und Kleidung mitgenommen hatte, vermutete die Polizei kein Gewaltverbrechen. »Viele Teenager reißen einfach aus«, sagte der Kommissar, der für die Suche verantwortlich war. »Er war adoptiert, da ist es nicht ungewöhnlich, dass es Streit zuhause gibt.«

Mit starrer Miene entgegnete sie: »Es gab keinen Streit.« »Sicher«, sagte er, doch sie sah ihm an, dass er ihr nicht glaubte.

Als Finn nach mehreren Tagen immer noch nicht auftauchte, unterzog man sie intensiveren Befragungen. Die Presse beschäftigte sich eine Weile mit Vermutungen über ihre Rolle in diesem Familiendrama und sie nahm an, dass es normal war, dass die Erziehungsberechtigten zu dem engeren Kreis verdächtiger Personen gehörten, wenn ein Kind verschwand. Doch auch diese Phase dauerte nicht lange. Jeder in ihrem Umfeld bestätigte der Polizei das liebevolle, harmonische Miteinander, das sich nach dem Tod ihres Mannes eher noch verstärkt hatte und schließlich ließ man sie ganz in Ruhe. Finn galt als Ausreißer, dessen Spur sich im Nirgendwo der Welt verloren hatte.

Sie trauerte alleine und im Stillen. Man wunderte sich im Dorf, dass sie keine größeren Suchaktionen ins Leben rief und kurzfristig meinte sie, dass manche Blicke ihr mit Misstrauen begegneten, doch das war ihr in ihrem Kummer egal. Finns Bild verschwand von der ersten Seite der Nachrichten auf die sechste und schließlich ganz aus der Berichterstattung. Sein Name reihte sich in die Statistik verschwundener Teenager und das Leben ging weiter.

Nachts saß sie oft auf ihrer Terrasse und blickte in den Sternenhimmel.

Die Zeit verstrich lautlos, so lautlos, wie die Stille, die sie stets zu umgeben schien.

Sie veränderte sich kaum, nur ihr Haar, das schon seit ihren Dreißigern graue Strähnen aufwies, wechselte zu einem Stahlgrau über und die Furchen um ihren Mund wurden tiefer. Sie lächelte weniger, traf sich seltener mit Bekannten und schaute umso häufiger in den Himmel hinauf.

Zehn Jahre später fand sie das Baby. Es lag an einem Frühlingsmorgen in einem Körbchen vor ihrer Tür wie der kleine Mose im Schilf. Sie betrachtete es ohne zu atmen. Es war winzig, vielleicht drei Tage alt. Es schlief fest, die kleinen Hände lagen zu Fäusten geballt neben seinem Köpfchen und es drückte das rechte Händchen gegen seine Nase, die dabei ein wenig hochgedrückt wurde. Etwas in ihrem hart gewordenen Gesicht löste sich, als sie sich behutsam neben dem Körbchen niedersinken ließ. »Wer bist du denn?«, murmelte sie. Ihre Hände zitterten leicht, als sie die Decke mit dem Sternenmuster anhob. Obwohl sie ahnte, was sie finden würde, machte ihr Herz einen beinahe schmerzhaften Schlag, als sie die mitgenommen aussehende Kuschelkatze zu Füßen des Neugeborenen entdeckte. »Oh, oh«, hörte sie eine schwache Stimme. Es war ihre eigene, doch sie schien von irgendwoher zu kommen. Sie nahm das Kuscheltier heraus und hielt es sich vor die Augen. Die Knopfaugen erwiderten ihren Blick. Die Katze lächelte ihr ewiges Lächeln. Als sie genauer hinsah, bemerkte sie, dass jemand mit Nadel und Faden das ehemals rosa Lächeln mit rotem Garn erneuert hatte. »Steht dir«, flüsterte sie. Dann fand sie den Brief.

Hallo Mama!

Das ist Stella. Sie ist deine Enkelin. Der Name passt, findest du nicht? Ich weiß, dass sie bei dir in den allerbesten Händen ist, und Familie ist nun mal Familie.

Ich habe meinen Pass beigelegt, damit das Jugendamt dir keine Schwierigkeiten macht, das sollte also in Ordnung gehen.

Ich hab dich lieb, Mama.

Oma:)

Dein Sohn Finn

Sie blinzelte die aufsteigenden Tränen aus ihren Augen, als die kleine Stella sich regte. Sie steckte den Brief behutsam zu dem anderen in ihre Blusentasche, dann nahm sie das Baby aus dem Körbchen. Ernst blickten ihre grauen Augen in die blauen Augen des Kindes und ein zaghaftes Lächeln breitete sich in ihrem Gesicht aus. »Hallo Stella«, sagte sie zärtlich. »Ich bin deine Oma.«

4 Kommentare

  1. Interessant, dass aus der Sicht der Ziehmutter erzählt wird. Etwas wenig über die fremde Kultur, aber stimmungsvoll und ein schönes Ende.

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  2. Ich fand es, im Gegensatz zum Kommentator vor mir, gerade ziemlich cool, dass wir relativ wenig über die Außerirdischen erfahren und dass ich als Leser die ganze Zeit ganz dicht dran bin an Mutter und Sohn. Kein Chronist von außen, keine langen Beschreibungen der Aliens und ihrer Welt, nur die Beiden in einer sehr runden und berührenden Geschichte mit dem gewissen extraterrestrischen Extra.

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  3. Ich finde, dass die Emotionen hier gut getroffen sind, Die rhetorische Frage, was macht das mit einem selbst war angenehm zu reflektieren.

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  4. Sehr schöne Geschichte. Ich finde auch, dass bei dem Sohn die Mischung aus Verwirrung und bestimmter Sicherheit gut dargestellt ist, obwohl er gar nicht ausdrücklich über seine Gefühle spricht. Und das Ende ist auch sooo schön. So nach dem Motto "Keine Liebe ist verschwendet".

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