Hija
Tagelang war die Luft satt von Feuchtigkeit und Hitze gewesen war, nun teilten gleißende Risse den Himmel in Fetzen. Das hohe Blätterdach fing die Flut, leitete sie über viele Stufen zum Erdboden, der die Luft mit dem dunklen Aroma verwitterter Guaven tränkte. In dieser Nacht floh Marie. Und sie nahm etwas mit.
Während die anderen hastig Funkttechnik abbauten, den Generator gegen Schlagwasser abschirmten und Waffen in die flatternden Zelte warfen, rannte sie zum Parkplatz, als wolle sie die Plane des Wagens nachspannen. Sie hoffte, dass niemand die Wölbung unter dem Regenponcho bemerkte. Marie hatte sich abgeschaut, wie auf dem Markt die Frauen Kinder und Lasten an ihre Rücken banden, doch keine Gelegenheit gehabt, es zu üben. Dass die Knonen nicht gut saßen, merkte sie schon, als sie auf eine der Cross-Maschinen stieg und den Donner nutzte, um den startenden Motor zu übertönen. Berghänge schienen in der Ferne zusammenzustürzten.
Sie folgte der Schneise, die sie in die Vegetation getrieben hatten. Links und rechts flohen Viecher aus den Farnen. Weil Langeweile den Großteil des Jahres beherrscht hatte, konnte sie das meiste benennen. Nun wollte sie es nur nicht überfahren. Die Maschine federte tief, wenn das Vorderrad von wassergefüllten Schlaglöchern geschluckt. Jeder Stoß ließ die Manta verrutschen. Als sie den Zufahrtsweg zur Plantage erreichte, hielt sie und warf den nassen Poncho ab, um den Stoff neu zu wickeln. Licht flackerte durch die Stämme. Verzweifelt kreuzte sie die Bahnen, zu hastig – es hielt nicht!
Schlamm spritzte, als die Motorräder bremsten, wo sie eben noch gestanden hatte. Dann war auch der Wagen da. Marie hörte die bellenden Absprachen der Gruppe, während sie sich durch ein Loch im Maschendraht presste. Natürlich verriet die verlassene Maschine ihren Weg. Sie würden ihr folgen, oder versuchen, ihr zuvorzukommen.
Jenseits des schützenden Blätterdachs peitschte Wasser. Marie war in letzter Zeit viel gerannt, doch niemals wie heute. Als der Wind ihr den Südwester vom Kopf riss, fürchtete sie ihr halb herausgewachsenes Wasserstoffblond zwischen den Kaffeepflanzen leuchten wie ein Positionslicht. Stimmen hallten hinter ihr, zumindest keine Schüsse. Sie glaubte, Abstand zu gewinnen. In ihren Augen klebten Strähnen, die sie nicht wegstreichen konnte, weil sie mit den Armen das Bündel zusammenhielt.
Als sie auf der anderen Seite auf eine Tonne stieg und über das verschlossene LKW-Tor sprang, fand sie die Landstraße dahinter leer. Dankbar verlangsamte sie ihren Schritt. Ihr Atem pfiff in der Lunge wie der Wind am allgegenwärtigen Wellblech der Häuseransammlung, die vor ihr lag.
Seit einer Stunde wütete der Sturm, als Marie die Stadtgrenze erreichte. Gleich den Cedros und Manubäumen hatten auch die geflickten Dächer den Sturzregen gefangen, steile Gassen sich in Schlammströme verwandelt, als ob auf der staubigen Haut der Erde eine zweite Schicht gewachsen sei, eine dunkle, organische Membran, die fremd und unheimlich ihr wahres Wesen preisgab. Der Sturm hatte Staub und verlassene Vogelnester aus den Ecken gespült, Diesel, Abfälle, Tier- und Menschenkot. Der Marktplatz, auf dem sie oft Lebensmittel fürs Camp besorgten, war ein aufgepeitschtes Schlammmeer in der Dunkelheit. Wo in der Stadt Licht war, wurde es von vorgehangenen Tüchern gedämpft. Nirgends stand jemand am Fenster. Niemand bekam Maries Flucht mit – so wie niemand auf der Erde den Grund dafür mitbekommen hatte. Niemand würde ihn je mitbekommen, beschloss sie grimmig. Es war das erste Mal, dass sie zu denken wagte, dass sie entkommen war. Mit durchweichten Trailrunningschuhen stakste sie durch die viskose Masse aufgeschwemmter Partikel.
Doch dann begann am Ende der Straße der Regen zu glühen wie vertikale Kometenschweife. Etwas in ihr schrie, das Bündel fallenzulassen. Doch Marie hatte eine Entscheidung getroffen, als sie das Wesen aus dem Kunststoffkäfig geholt hatte.
Ihr fiel nur ein Ort ein, an dem sie vielleicht sicher war. Sie strauchelte Steinstufen hinauf. Zumindest mussten die Motorräder wieder einen Umweg nehmen. Schritte schlugen tiefe Gruben in den sumpfartigen Boden. Dann meinte sie, die gelbsteinige Mauer zu erkennen. Musste es hier nicht irgendwo ein Tor geben? Schon zeichnete sich wieder Licht an der Straßenecke ab. Maries Muskeln brannten, als sie sich mit einem Arm auf die kinnhohe Mauer zog. Der Moment, den sie auf der anderen Seite fiel, war eine gnädige Entlastung ihrer Füße, bevor die sie fangen mussten, und weitertragen. Sie schwankte durch die Dunkelheit und betete, dass sie auf dem richtigen Grundstück war.
Als sie mit der Schuhspitze an einer Steinkante hängen blieb, rundete Reflex ihr Arme und Brustkorb zu einem schützenden Käfig. Seitlich schlug ihr Körper in den Schlamm. Sie hatte keine Kraft, sich wieder aufzurichten. Wie lange sie lag, wusste sie nicht. Vielleicht nur Sekunden. Regentropfen schlugen mit gleichmütiger Frequenz auf ihr Gesicht, als sei sie ein Stück ihrer aufgeschwemmten Umgebung. Sie wurde wieder wach, als zwischen ihren klammernden Armen im Tuch der Körper begann, sich hin und her zu winden.
Hinter der Öffnung, zu der der gemauerte Weg hinführte, über dessen Kante sie gestolpert war, stand ein Schemen. Voller Verdacht presste ihr Verfolger seinen Blick durch das schmale Gittertor. Marie zwang ihren Atem ruhig und drückte sich tiefer in die feuchte Erde, die sie um ihre Körpergrenzen herum in einem kleinen Wall liegen spürte. Ihr kam das Bild vor Augen, dass sie einen Krater hinterlassen hatte, wie ein abgestürztes Raumschiff. Schmerz, Angst und Erschöpfung zum Trotz kitzelte der Gedanke ein Lachen aus ihr heraus. Es war ein kurzes, dummes Geräusch – wusste sie doch wie gut die Richtmikrofone waren. Durch das massive Rauschen des fallenden Wassers fing sie Bruchstücke des alarmierenden Rufes auf.
Die Lichtkegel der Motorradscheinwerfer falteten sich um sie auf, wie Fächer. Hinterm Metallgitter schmolzen die Gestalten ihrer Verfolger zu einer unförmigen, zweidimensionalen Erscheinung, die Gliedmaßen im doppelten Gegenlicht dünn wie die von Spinnen. Aggressive Stimmen fassten nach Marie. Sie wusste, dass sie bloß die Zeit hatte, die es dauerte, ein rostiges Vorhängeschloss zu sprengen.
Mit einem Blick ins Bündel vergewisserte sie sich, dann brachte sie sich auf die Knie, stemmte sich in die Höhe. Vom Schlamm in den Augen halb blind folgte sie dem Steinweg weg, nur weg, weg von den Rufen und Waffen, von den Freunden, die Feinde waren. Das Licht im Rücken rannte sie durch einen Vorhang gleißender Regentropfen, in dessen Hintergrund die weißgetünchte Wand der Missionskapelle ihr entgegenleuchtete, das Holzkreuz überm Eingang von der Feuchtigkeit schwarz. Auf dem Wellblechdach schlug der Regen Trommelrhythmen. Sie warf einen Blick über die Schulter, doch die Scheinwerfer verboten jede Sicht.
Dann fand sie sich mit der Faust gegen die schwere Holztür hämmernd wieder. Links und rechts waren bunte Bilder der Virgen de Chiquinquirá und des heiligen Franziskus auf den Putz gemalt. Die Farben wirkten frisch, als ob sie regelmäßig jemand nachmalte. Marie schrie so laut sie konnte.
Geübt, ein Gelände zu durchkämmen, kam die Gruppe näher, formte einen Halbkreis, der keinen weiteren Fluchtversuch duldete. Die Silhouetten offenbarten Elektrostöcke, Ketten und eine Pistole. Nun fiel die Hoffnung von Marie ab.
„Gib uns das Biest!“ Drohend trugen die Worte durch den Sturm.
Ihr Kopfschütteln war klein, vielleicht gar nicht zu sehen, doch die Antwort so überflüssig wie die Forderung.
Jemand trat näher, streckte fordernd die linke Hand aus. In der rechten wog er einen Elektrostock, den bei Regen einzusetzen Unsinn war, doch auch als Prügel würde das Ding Schaden anrichten. Marie wollte zurückweichen. Es gab keinen Raum dafür. Sie drückte mit dem Rücken gegen die nassgeregnete Tür. Scharf atmete sie ein, um sich auf den Angriff vorzubereiten …
Bevor jemand nach ihr oder dem Bündel schlagen konnte, gab plötzlich das Holz hinter ihr nach.
Sie stolperte rückwärts. Der Raum, der sich im Zwielicht dem flüchtigen Blick präsentierte, war ganz anders als die Kirche, in die man sie als aufsässige Dreizehnjährige zur Konfirmation geschickt hatte: Keine Steinstatuen, Buntglasfenster, Bodenmosaike, keine Buchtische, Flyerständer und digitale Spendenboxen. Stattdessen: Lehmboden, ein Altar aus unbearbeitetem Stein, Kerzen vor einer Figur mit fromm aneinandergelegten Händen und einem Schleier über den Haaren. Mit den Flammen im Luftzug sprangen auch deren Gesichtszüge.
Direkt neben Marie stand eine zweite Frauengestalt mit grauem Schleier und Licht in der Hand. Fast hätte Marie auch sie für eine Statue gehalten. Doch die Falten waren zu tief, die Züge zu asymmetrisch, um das Werk eines frommen Künstlers zu sein. „Spät dran,“ sagte sie, als hätte sie Marie erwartet. Ihre Augen waren milchig, aber sie blickte ruhig, als könne auf der Welt nichts sie überraschen.
Inzwischen waren die Verfolger an die Kapellentür herangekommen. Als Markus seinen Fuß auf die Linie setzte, die die Tür zwischen der Nässe draußen und der Feuchtigkeit drinnen gezogen hatte, strahlte ihm die Nonne mit ihrer Taschenlampe genau ins Gesicht. „Das ist das Haus Gottes!“, donnerte sie. „Waffen bleiben draußen!“
Er hob die Hand mit der Pistole, als habe er die ganz vergessen. „Wir sind Diener Gottes!“ Seine Worte prallten von den nackten Wänden zurück und wuchsen dabei. Obwohl seine Züge gegen das Licht verkniffen waren, war seine Stimme massiv. „Das hier ist nur ein Werkzeug, Teuflischem den Garaus zu machen.“ Sein spanisch war gut, aber die Formulierungen umständlich. Er las lieber, als dass er sprach.
Die Nonne schüttelte den Kopf. „Ich sehe hier keinen Teufel. Nur eine junge Frau, die Schutz sucht.“
„Es geht nicht um sie.“, entgegnete Markus. „Es geht um das, was sie versteckt.“
Die Geistliche schlug den Strahl ihrer Lampe um, wollte in das Bündel spähen, doch Marie presste es an sich.
„Nur ein Kind!“, erwiderte sie mit bemühter Stimme.
„Nicht ihres!“ Markus Blick war hasserfüllt. „Und ein Monster!“
„Spielt keine Rolle.“, flüsterte Marie.
Der Lichtkegel tanzte hin und her, verwischte alle Gesichter zu abstrakten Flächen. Schließlich verfing er sich an der überlebensgroßen Holzfigur im hinteren Teil des Raums. Deren Augen waren halb geschlossenen, als ob auch ihr das Licht zu hell sei, in dem die Meißelschnitte erkennbar waren. „Jedes Kind steht unter ihrem Schutz.“, entschied die alte Frau. Dann richtete sie den Strahl wie einen überdimensionierten, leuchtenden Zeigefinger gegen die Balken, die das Blechdach trugen. „Und seinem.“
Jemand aus der Gruppe wollte an Markus vorbei drängen, doch der hielt ihn mit der Hand zurück.
„Das ist nicht gut.“, seufzte er. Wasser rann ihm übers Gesicht. Eine Weile dachte er nach. Außer dem Prasseln des Regens herrschte Stille.
Marie rieb sich mit einer Hand über die Haut. Da sie nicht mehr lief, fror sie.
Es machte ein trockenes Klicken, als Markus schließlich die Waffe entlud, sie am Lauf einem seiner Begleiter reichte. „Ich will nur mit dir reden.“, erklärte er. Mit einem Blick erfragte er das Einverständnis der Ordensfrau. Dann ließ er die vier Bewaffneten im Regen stehen.
Die Nonne schloss die Eingangstür. Sie warf Marie einen vergewissernden Blick zu, bevor sie davonschlurfte und hinter dem Altar durch eine kleine Tür verschwand. Nun gab es nur noch das gelbe Licht der heiligen Kerzen, die mit geraden Flammen brannten, als seien sie gemalt. Markus und Marie standen so nah voreinander, dass sie seinen malzigen Atem roch. Sie spannte die Muskeln an, falls er versuchen würde, ihr das Bündel aus den Armen zu reißen. Stattdessen zog er sich die anachronistische Lederjacke aus und legte sie ihr um die Schultern. Von innen war die warm und sogar einigermaßen trocken. Langsam setzte er sich auf das Ende einer der lehnenlosen Holzbänke. „Was willst du, Marie?“
Leise antwortete sie: „Nicht noch mehr morden …“
Markus strich sich nasse Haarsträhnen aus der Stirn. „Mord wäre es, wenn es Menschen wären.“
„Sie kommen mir wie Menschen vor.“
Er holte Luft. „Hütet euch aber vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe.“ Für einen Moment hatte sein Gesicht den Ausdruck untrüglichen Glaubens und Sicherheit; Aspekte, die Marie in sich selbst nie gefunden hatte. Sie war fasziniert gewesen, als sie auf ihrer Rucksackreise in diese Sache hineingeraten war – und vielleicht von Anfang an verliebt. Als ihr Rückflug ohne sie startete, meinte sie, das selbst entschieden zu haben.
Dann war Markus wieder er selbst – das hasserfüllte, unaufhaltsame, keinen Widerspruch duldende Selbst der letzten Wochen. „Hast du etwa vergessen, was mit Verne passiert ist?“, fragt er scharf.
„Wir haben es monatelang eingesperrt,“ hielt Marie dagegen.
„Um etwas darüber zu lernen!“
„Es gequält, ausgehungert … Was glaubst du denn?“
„Vor allem, dass sie nicht auf die Erde gehören!“, schrie Markus fast. „Ein Wunder, dass es uns so lang gelungen ist, sie auf die Region einzudämmen, angesichts dieser Fähigkeit ...“
„Ein Genozid ist keine Lösung!“
Markus’ Brust hob und senkte sich, als wütete der Sturm in ihm stärker als der überm Dach. Er presste die Augen zu. „Unsere Feinde sagen: Sie werden müde werden und wir werden über sie herfallen.“, rezitierte er. Danach stach sein Blick wie Injektionsnadeln. „Herfallen – Marie! Sie haben längst damit angefangen!“
Sie schüttelte den Kopf. „Dieses hier nicht…“
Ohne Vorwarnung streckte Markus die Hand danach aus. Mit einem Ruck enthüllte er das kleine Gesicht. Er betrachtete voller Abscheu die großen dunklen Flächen der Augen, die milchige Haut, den breiten Mund. „Schau hin – es ist in Dämon!“
Über ihnen trommelte der Regen aufs Blech, doch sie nahm es kaum noch wahr. Als sei Markus gar nicht da, ließ sie sich auf einer anderen Bank nieder und zupfte den Stoff zurecht. Schützend beugte sie sich über das Bündel.
„Als du zu uns kamst, warst du bereit, das Richtige zu tun!“ Markus klang bekümmert. „Komm mit uns!“, redete er vehement auf sie ein. „Darum bin ich hier! Ich brauche dich!“
Entschieden schüttelte sie den Kopf. „Du brauchst nur jemanden, der tut, was immer du sagst.“ Sie wiegte das Bündel in den Armen. „Aber ich werde dir nicht noch ein hilfloses Wesen geben, damit du es auf den Boden legst, deinen Lauf darauf ausrichtest und dir einbildest, du rettest die Welt.“
Entgeistert warf er eine Hand nach oben. „Wegen dir ist die Menschheit verloren!“
„Lieber die Menschheit, als die Menschlichkeit.“, murmelte sie.
„Du lässt dich täuschen, Mary!“
Auf einmal huschte ein heller Ausdruck über ihr Gesicht. „Lässt er sich auch täuschen?“ Sie deutete nach oben. „Du hast die Alte gehört – es steht unter seinem Schutz.“ Eigentlich hielt sie nichts davon, sich auf Gott zu berufen, doch heute hatte sie das Gefühl, dass er etwas für sie tat. „Der Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an.“ Ihr war gar nicht klar, wie viele Stellen sie inzwischen auswendig kannte, bis sie ihr manchmal reflexartig in den Sinn kamen.
Stumm starrte Markus sie an.
„Meinetwegen könnt ihr den Weg vor der Kirche belagern.“, fuhr Marie verächtlich fort. Sie wusste, er würde nicht wagen, hereinzukommen. Wie groß seine Furcht vor diesen unheimlichen Wesen auch war – daneben hatte er noch eine andere Furcht, die für mehr als dieses Leben eine Rolle spielte. „Wenn ich herauskomme, könnt ihr mir mit euren blöden Elektrostäben zeigen, wie gerne ihr mich habt. Aber das Kind bekommt ihr nicht. Wenn es die Kirche verlässt, werdet ihr es nicht mehr erkennen.“
Ob sie noch mehr Worte wechselten, daran erinnerte sie sich später nicht. Nur, dass sie dann allein im Kerzenschein war, mit dem kleinen Ding im Arm.
Einen Moment saß sie erstarrt. Aber nicht lang. „Wollen wir mal für dich sorgen …“, flüsterte sie und wippte es auf und ab. Etwas Angst hatte sie wohl! Keine halbe Minute hatte es damals gedauert, dass sie auf Vernes Hilfeschrei in die Zelle gestürmt waren. Das war schon zu spät. Doch das war ein Ausgewachsenes gewesen. Nicht wie dieses … Sie beugte sich über das Ding und öffnete ihren Mund. Reflexartig hob es ihr seinen Kopf entgegen.
Es tat nicht wirklich weh – so wie man auch einen Mückenstich kaum spürte. Was es absorbierte, war allerdings kein Blut.
Ihr kam vor Augen, wie Verne ratlos starrend auf dem Boden gesessen hatte. Der Mann, der neben ihm stand, hätte sein Bruder sein können. Aus dem Mund jenes Wesens kamen Laute, die an der Vorstellung einer menschlichen Stimme zerrten: gurgelnd, stockend, schrill. In einer unerträglichen Persiflage ihres Gefährten presste die überanstrengte Kehle ein erstes Wort hervor: „Ich …“ Toni, der zwischen Guerillas und Hinterhalten das Schießen zur zweiten Natur geworden hatte, hob ihre Waffe und drückte ab. Das Wesen, das aussah, wie ein Mensch, starb auch wie ein Mensch.
Ein Jahr lang lebte Marie da bereits im Camp. In der Zeit hatten sie nur ein halbes Dutzend der dürren, bleichen, vage anthropomorphen Dinger im Wald aufgestöbert, und unter dem Schiff selbst einen ganzen Haufen der wurmartigen Nachkommen ausgegraben, den sie mit Benzin übergossen und angezündet hatten. „Eine Beleidigung der Schöpfung!“ Nur eins von jedem ließen sie leben, um es zu erforschen – ergebnislos, bis zu jenem unglücklichen Tag. Nun verstanden sie, warum sie nur so wenigen begegnet waren, obwohl das felsartige Schiff so viele körperförmige Aussparungen hatte. Sie verstanden auch die rätselhaften Fälle von Katatonie, die sich in den umliegenden Dörfern häuften. Die meisten Betroffenen hatte man auf den Plantagen gefunden, teilweise die Hände noch um ihre Machete oder Hacke gekrampft. Hirten standen reglos in der Landschaft, während die Herde sich verstreute. Fahrer hockten neben ihren Lastwagen, die mit laufendem Motor am Straßenrand standen. Alleinlebende blieben tagelang in ihren Hütten, bis man hinter die angelehnten Türen schaute und sie auf dem Boden oder im Bett entdeckte – manchmal noch atmend, manchmal verdurstet. Teilweise fand man auch zwei auf einmal, Frauen, die sich zum Backen getroffen hatten, starrten einander mit leeren Augen an, während das Brot in den Öfen verbrannte. Familien, die es sich leisten konnten, hatten einen Arzt geholt oder ihre Angehörigen ins Krankenhaus gefahren. Keine biologische Untersuchung konnte beantworten, warum es war, als ob der Mensch im Menschen fehlte.
Die Gruppe begann, in der Gegend nach Fremden zu fahnden, die den Opfern ähnelten. Damit waren sie spät dran. Aus den Dörfern hatte man die in der Regel verjagt, in zwei Fällen totgeschlagen. Aber jemand machte sie auf eine Witwe aufmerksam, bei der neuerdings eine seltsame Tochter lebte.
Sie trafen die Frau in einem ärmlichen Häuschen mit rußgeschwärzter Decke und fauligem Geruch des kleinen Gaskochers, auf dem sie Kaffee gemacht hatte. Die Einrichtung war nur auf eine Person ausgerichtet, aber offensichtlich um ein paar neue Stücke erweitert worden. Am Tisch saß eine junge Frau, die unbestreitbar mit der alten verwandt war – es war, als hätten sie zwei identische Personen vor sich, nur dreißig Jahre zeitversetzt.
Markus stellte mit ruhiger Stimme seine Fragen. Marie stand schräg zur Tochter, die mit gesenktem Blick und zu langen Pausen antwortete. Etwas in der Art, wie sie vorm Sprechen ihre Zähne mit den Lippen abtastete, als probe sie die Laute, bevor sie sie artikulierte, ließ Marie kalt werden. Die Mutter sprach rasch dazwischen. „Verzeihen Sie ihr! Sie kommt nicht von hier.“ Oder: „Sie lernt unsere Sprache noch.“ Jedes Mal, wenn sie das tat, flackerte Unruhe in ihrem Blick, der nicht zu dem leichtfertigen Tonfall passte.
Unwillkürlich betasteten Marie ihre Gürteltasche nach dem Umriss der Kurzfeuerwaffe, die Markus ihr neulich gegeben hatte. „Die Situation hat sich verändert.“, hatte er betont. „Und ich will dich ja nicht verlieren!“
Als sie nun jener Fremden gegenüberstand, war sie dankbar über das Stück Sicherheit. „Wie kommt es, dass Sie hier sind?“, drängte Marie bissig.
Die junge Frau verkrampfte. „Meine Mutter… brauchte mich.“ Ihre Zunge stieß gegen die Zähne, löste sich mit einem leisen, schmatzenden Knallen. Heimlich presste Marie Daumen und Zeigefinger auf das Zugband des Reißverschlusses, dessen metallenen Zähne knirschten.
Markus wurde gerade. „Danke Ihnen für alles!“, wischte er Maries Frage abrupt vom Tisch. Er stand auf und zog sie am Ellenbogen mit sich. Sie wollte nicht, wollte nicht der jungen Frau den Rücken zudrehen. Doch noch weniger wollte sie Markus enttäuschen.
Draußen, zwischen Hühnern und braunem Staub, beugte er sich zu ihr herunter. Normalerweise erlaubten sie sich in der Öffentlichkeit diese Nähe nicht, die für Marie wie eine kleine Süßigkeit war, seit er sich angewöhnt hatte, bei Stress Panelastücken zu kauen. Sie rechnete mit einem Kuss auf den Mundwinkel. Stattdessen zischte Markus: „Seit wann bist du so nervös? Reiß dich zusammen!“
„Aber…“
„Denk mal nach: Die Fremden, die wir suchen, haben keine Familien.“ Er sprach von unehelichen Kindern und was das in einer konservativen Gesellschaft für eine Frau bedeutete, wenn sie es nicht verschwieg. „Und jetzt ist sie eben alt und einsam – da hat sie nichts mehr zu verlieren.“
Sie hatte geglaubt, dass die Angst vor der Fremden sie verfolgen würde, so wie die Aufnahmen der Überwachungskamera vom Tag, an dem Verne gestorben war, ohne zu sterben. Tatsächlich aber waren es Markus‘ Worte, die immer wieder zurückkehrten. Marie spürte etwas in sich, wie ein Riss in Glas: mit bloßem Auge kaum zu erkennen, nur mit der Fingerkuppe zu ertasten, doch wenn es unter Druck geriet, würde …Sie zwang sich, nicht darüber nachzudenken.
Es war schwierig, Toni nach ihren Schlafmitteln zu fragen, ohne ihr ins Gesicht zu sagen, dass jeder davon wusste. Dreimal versuchte Marie vergeblich, das Gespräch darauf zu lenken. Beim Abendessen stellte die Söldnerin ihr schließlich im Vorbeigehen eine braune Flasche neben den Teller.
Während Markus abendlichen Vaterunsers träufelte sie sich die bitteren Tropfen unter die Zunge. Er bemerkte es, sprach seine letzten Worte bemüht langsam zu Ende. Dann nahm er ihr das Fläschchen aus der Hand und roch daran. „Pasiflora?“ Sie wollte sich rechtfertigen, doch er winkte ab. „Ist wohl besser so.“
Die Tage über lenkte sie die verhängnisvolle Nervosität in produktive Bahnen: Trug Hinweise der Anwohner in digitale Karten ein, setzte sie in Beziehung zu den Katatoniefällen, erstellte Modelle, mit wie wenigen Fremden in Menschengestalt sie es mindestens, und mit wie vielen höchstens, zu tun hatten.
Erst die Nacht, in der ihr Name auf dem Wachplan stand, machte ihr System aus Beschäftigung und Standby zunichte. Vom Hochsitz aus suchte sie durch die grünliche Optik den finsteren Dschungel ab. Er war voller Gestalten: Ein Opossum hing von einer Astgabel, eine Fledermaus zickzackte zwischen den Zweigen, ein Gürteltier wühlte in der Erde. Sie alle gehörten hierher. Unter dem Schleier des Moskitonetzes und mit der Waffe in der Hand fühlte sie sich sonst immer, als sei ihr Leben mit dem der ganzen Erde verheiratet, als läge es in ihrer Verantwortung, all dies zu beschützen. Doch nun galt das nicht mehr. Wenn ein Mensch im Unterholz auftauchen würde – ein Dorfbewohner, ein Plantagenarbeiter, ein … – wie sollte sie unterscheiden? Sie strich mit dem Daumen über den Sicherungshebel, vergegenwärtigte sich dankbar, dass Markus sie bei ihrem Besuch bei der Witwe davor bewahrt, einen Menschen zu erschießen. Oder …
Nun spulte ihr Kopf unwillkürlich Erinnerungen ab. Wieder hörte sie die stolpernden Laute, die offensichtliche Angst vor der eigenen Stimme … Marie, die Spanisch in einem Onlinekurs gelernt hatte und oft genug damit rang, war sich sicher: Es war nicht die Sprache, die der vermeintlichen Tochter schwergefallen war, sondern das Sprechen selbst!
Als die Ablösung kam, lief sie mit einer Wolke im Kopf zurück ins Camp. Sie schob ihre schweißkühlen Beine neben Markus in den Leinenschlafsack, und inhalierte seinen Geruch. In die vertraute Dunkelheit, die nur eine gemeinsame Schlafstatt schuf, flüsterte sie ihre Gewissheit: Die junge Frau bei der Witwe war eines der Monster.
Das Weiß in Markus Augen blitze auf, als er sie ansah. Er schüttelte den Kopf. „Sei nicht albern,“ murmelte er. Er strich Marie über die Schläfe. „Du hast vielleicht studiert,“ sagte er zärtlich. „Aber manchmal weißt du es nicht besser. Du solltest mir vertrauen.“
Also vertraute sie ihm. Verfolgte mit ihren Modellen nur die Spuren von Personen, die allein waren. Die meisten Fährten führten in die Großstadt – dort fanden sie die Opfer erstaunlich schnell. Obwohl viele Menschen auf der Straße lebten, konnten sich die Fremden nicht verbergen: sie drängten sich in Ecken wie verängstigte Tiere und sprachen mit rudimentär artikulierten, unpassenden Gesprächsfetzen, wie eine veraltete Chatsimulation.
Als sie die ersten stellten, war das Töten erschreckend leicht. Die Ratlosigkeit vom Tag mit Verne war verschwunden; Markus und die anderen feuerten, als sei es Routine. Außer Toni schoss keiner präzise. Um die zerfetzten und blutigen Körper loszuwerden, fuhren sie sie auf verlassenen Grundstücken oder in den Dschungel.
Die Gesichter, auf die sie Erde warfen, unterschieden sich in nichts von denen, die man im Bus oder auf dem Markt sah, außer dass sie von Schmerz und Angst gezeichnet waren – und tot. Einmal brach dabei einer aus der Gruppe in Tränen aus. „Ich bin hergekommen, um Seelen zu retten. Aber das hier …“ Am nächsten Tag war er verschwunden. Seine Sachen blieben da.
„Sein Glaube war nicht stark genug.“, erklärte Markus den anderen.
Abends sprach Marie ihn an: „Er wird erzählen, was er hier gesehen hat…“
Markus schüttelte den Kopf. „Wird er nicht, Mary. Wird er nicht.“
Der Fall wiederholte sich, bis nur noch eine Hand voll Leute da war, die Markus in Glaubensstärke nichts nachstanden. Und Toni. Marie setzte sich bei den Frühstücken zu ihr, doch das half nicht gegen die Einsamkeit. Die Söldnerin war noch wortkarger geworden. „Dieser Job ist beschissener als alle davor.“ Eines Morgens aber schaute sie Marie direkt an. „Mädchen, du solltest dir ganz dringend deinen Pass zurückholen.“
Im Gegensatz zu den anderen nahm Toni alles mit, als sie ging.
Ohne sie richtete die Gruppe ihre Läufe nur noch grob in die passende Richtung, als seien sie das Reenactment eines militärischen Erschießungskommandos. Schüsse echoten zwischen den Wänden des leeren Fabrikgebäudes, das sie inzwischen nutzten.
Während Markus die Hinterhöfe der Stadt durchkämmten, passte Marie ihre Modelle weiter an. Etwas wunderte sie: Immer wieder verlor sie die Spuren von Frauen (Frauengestalten, wie sie sich zu sagen zwang). Marie hatte früh eine schlimme Ahnung. Doch erst, als sie genau sagen konnte, wo und wie es passierte, wandte sie sich damit an die anderen.
„Wenn wir herausfinden wollen, wo sie hin sind, müssten wir diese Leute fragen. Sie bringen sie in die ganze Welt.“
„Du redest von Menschenhändlern.“
Marie nickte, und direkt danach schüttelte sie bitter den Kopf. Die von Markus so oft beschworene Mission, die Welt vor der Absturzstelle abzuschirmen, und die Absturzstelle vor der Welt, war gescheitert.
„Wir geben nicht auf!“, beschwor Markus sie alle.
Eine Woche später hatte er den Kontakt zu der Organisation hergestellt. Noch nicht, um den Aufenthaltsort der verschleppten Frauengestalten herauszufinden, ihnen hinterher zu reisen und sie zu töten. „Alles zu seiner Zeit.“, betonte er. „Wenn wir zu früh danach fragen, sind wir die nächsten, die verschwinden.“ Doch diese Leute zu kennen, hatte einen anderen Vorteil. Wer lebendige Frauen über Keller und Häfen aus dem Land verschwinden ließ, konnten auch mit Leichen ganz gut umgehen.
Von da an wurde es so einfach, dass es fast lächerlich war. Alle ein bis zwei Wochen brachte Markus mit einem Helfer eine gefesselte und geknebelte Gestalt in die Fabrik. Gemeinsam erschossen sie sie, und luden sie danach auf einen fremden Lieferwagen. „Ich glaube, deine Modelle braucht es nicht mehr!“, triumphierte Markus. Gehorsam ließ Marie sie also sein.
Sie brauchte sie tatsächlich nicht. Auch ohne konnte sie nicht übersehen, dass sie nur noch Männer erschossen. Mit jedem Abtransport wuchs die Frage in ihr, ob sie nicht längst Teil von etwas sehr Falschem geworden war.
Es war, als zöge jemand die Fäden ihres Daseins heraus, ein umgekehrter Webstuhl, der sie Masche nach Masche aufribbelte. Marie fühlte sich fadenscheinig, fühlte sich durchlässig, als ob sie keinen Widerstand mehr darstellte. Sie fühlte … irgendwer fühlte … wer?
Was war das Richtige?
Sie besuchte sie einige Male, brachte Essen mit und hörte sich die Jugendgeschichten der Witwe an. Über die Lebensgeschichte der Tochter waren beide zurückhaltend.
„Wie kommt es dazu, dass Sie hier sind?“, forschte Marie, immer nur in einzelnen Sätzen, aus Angst, die gewonnene Vertrautheit zu zerstören. Vielleicht auch aus Angst vor etwas anderem. Noch immer trug sie versteckt die Waffe.
„Sie war krank.“, berichtete die vermeintliche Tochter, und abgesehen von einem Rest Schwierigkeit beim Sprechen klang sie ähnlich beflissen, wie ihre vermeintliche Mutter. „Sie brauchte Pflege.“
„Krank?“
„Konnte nicht essen, nicht reden, nicht schlafen – für eine Weile.“, berichtete die Tochter. „Sie brauchte Pflege.“
Marie fühlte Beklemmung. „Darum sind Sie hergekommen?“ Sie versuchte zwischen Worten, die genaugenommen wahr waren, die Lüge hervorzuziehen. „Wo haben Sie vorher gelebt?“
Die Alte berührte mit ihren sehnigen Fingern zärtlich die glatte Ausgabe ihrer Hand. „Um ehrlich zu sein: Sie kommt aus dem Himmel!“
Marie schluckte. „Sie meinen…“
„Als meine Tochter ein kleines Mädchen war, ist sie gestorben. Und jetzt hat Gott sie mir zurückgebracht, damit ich im Alter nicht allein sein muss!“
„Sie hat recht.“, stimmte die junge Frau zu.
Marie starrte auf die glücklichen Blicke, die die Frauen tauschten. In diesem Moment spürte sie in sich den gleichen angewiderten Hass, der Markus die ganze Zeit antrieb. Ihrer war ungleich informierter: Vor ihr saß ein Parasit, der die Verletzlichkeit einer armen, alten Frau ausnutzte, ihre traurige Biografie und ihren Glauben.
„Hören Sie auf!“, schrie sie, und vielleicht zog sie ihre Waffe aus der Tasche, vielleicht dachte sie auch nur darüber nach – hinterher konnte sie das nicht mehr unterscheiden. „Sie spielt Ihnen etwas vor! Sie kommt … sie ist …“
Klar entgegnete die Alte: „Beruhigen Sie sich!“, herrschte sie Marie an. „Ich weiß: Sie kommt aus dem Weltraum und sie ist kein Mensch.“
Mit ebenso klarer Ernsthaftigkeit stimmte die Junge zu: „Sie hat recht.“
Dann fügte die Alte hinzu: „Und doch ist sie meine Tochter!“
„Sie hat recht!“, sagte die Junge wieder. Auf den beiden Gesichtern stand das gleiche sentimentale Lächeln.
Eine Weile herrschte Stille am kleinen Tisch, auf denen in Bechern inzwischen kalt gewordener Kaffee stand. Seit Wochen kam Marie regelmäßig her, wann immer Markus auf Jagd in der Stadt war. Ihren Gastgebern musste längst klar gewesen sein, was sie wusste und wollte. Allerdings wusste Marie selbst nicht, was sie hier wollte.
„Ich verstehe nicht, wie Sie am Leben sein können.“, sagte sie schließlich zu der Mutter.
„Eine Nachbarin hat auf der Suche nach einer verlaufenen Ziege an die Tür geklopft“, erklärte die Alte.
„Das hat mich unterbrochen.“
„So mussten wir eben miteinander auskommen. Ich hatte Angst, natürlich. Aber ich war nicht kräftig genug, um wegzulaufen.“
Marie stellte sich vor, wie die alte Frau zwei Wochen halbkatatonisch allein mit dem Monster gewesen war, das sie überfallen hatte und nun aussah, wie sie selbst zu einer Zeit, als ihr Leben noch eine Zukunft hatte. Und dann stellte Marie sich vor, wie die alte Frau zwei Wochen allein gewesen war mit jemandem, der sich um sie kümmerte – vielleicht das erste Mal in ihrem Leben.
„Während ich wieder gesund geworden bin, habe ich verstanden, was wirklich passiert war.“, berichtete die Alte nun. „Gott hat mir meine Tochter zurückgebracht.“
Marie sah es daran, wie sich die Gedanken und Gefühle in den Minen der Frauen spiegelten; in ihren fürsorglichen Gesten und dem Temperament, mit dem sie lachten: Sie hatten Recht.
Was die junge Frau ansonsten war, darüber erfuhr Marie nicht viel.
„Ihr seid zu feindselig.“, verweigerte die jede Aussage, wie viele von ihnen es gab oder wo sie sich aufhielten. Ihr Gesicht fiel mutlos zusammen, während sie sprach. Es ähnelte dem der Alten, wenn die über den Tod ihres Mannes berichtete. „Wir werden nicht lang genug überleben. Unmöglich …“ Ihr schien klar, mit wie viel Glück sie selbst es getroffen hatte.
„Aber Sie …“ Marie wusste nicht, wie sie es formulieren sollte. „Sie sind jetzt – fertig?“
Die Tochter schüttelte den Kopf. Dabei sah sie schuldbewusst aus. Doch die Mutter winkte ab: „Meine Tochter kümmert sich um mich, und ich mich um meine Tochter. Das ist doch normal.“
Normal, ja.
Marie fragte sich …
Ein Geräusch lenkte sie ab.
Sie fragte sich …
… fragte …
Das Dach musste undicht sein.
Zwischen der in regelmäßige Teile geschnittenen Stille tönte der helle Klang eines einzelnen Wassertropfens, der sich in einem Blecheimer versenkte, um seinen winzigen Unterschied in der Füllhöhe zu machen.
Sie spürte auf ihrer Stirn kühle Feuchtigkeit, die sich aus Gewebe presste. Als sie die Augen öffnen wollte, bemerkte sie, dass sie offen waren. Über ihr schwebte ein faltiges Gesicht, gerahmt von einem Schleier. Ein Blinzeln verriet, dass man sie doch erstaunen konnte. Sie wich zurück, um Marie Raum zu geben. Zwischen Deckenbalken her stürzte ihr Blick ins darüberliegende Wellblech.
Die alte Frau ging zum Fenster. Marie verfolgte ihre Bewegung mit den Augen. Irgendwann merkte sie, dass sie nicht weiterkam. Da erst fiel ihr ein, dass ihr Körper an noch mehr Stellen über Muskeln verfügen musste. Wie ein Gewicht von Tonnen rollte sie ihren Kopf zur Seite. Sie beobachtete, wie die Nonne das Fenster mit komplizierten Handgriffen entriegelte. Das Schnarren von Zikaden wurde laut, als sei vorm Fenster eine Hochspannungsleitung aufgespannt und der gärige Geruch von Mangoblüten drang herein. Marie räusperte sich. Wie Sandsteine trafen in ihrem Rachen die Stimmbänder aufeinander. „Ist … der Regen vorüber?“
„Schon seit Tagen.“
„Sind sie weg?“
„Schon seit Wochen.“
Vor der nächsten Frage zögerte Marie – nicht nur, weil das Sprechen anstrengend war. „Wo ist mein Kind?“
Die Nonne kam ans Bett zurück. Ihre Finger waren rauh und ledern von Fleiß und Zeit. Behutsam drehte sie Maries Kopf auf die andere Seite.
Im kleinen Nebenraum der Kapelle stapelten Pragmatik und Glauben sich aufgeräumt ineinander: Eine improvisierte Matratze mit einer dünnen Decke lag auf dem Boden neben dem Holztisch, der ein aufgeschlagenes Buch trug. An der Wand dahinter hingen Rosenkränze und ein abgewetztes Kreuz. An der Seite gab es einen Wasserhahn, und auf einem Brett an der Wand stand eine einzelne Heizplatte mit einem Topf und Deckel. Neben der abgewetzten Tonschüssel schien farbiges Plastikgeschirr geradewegs in die Existenz gefallen zu sein. Auch überall sonst zeigten sich Spuren dieser Art: Am Haken neben dem Wasserhahn hingen über einem Eimer ausgewaschene Hemdchen zum Trocknen. Bei der aufgeschlagenen Bibel auf dem Tisch lag Nähzeug, und der Ansatz von etwas, das eine Stoffpuppe zu werden schien. Eine leere Blechdose und zwei Stöcke standen zu einer Trommel arrangiert, und neben dem Schlafplatz auf der Erde waren bunte Plastikbausteine der Größe nach aufgereiht.
Am Holzhocker neben dem Tisch hielt sich ein Kleinkind auf den Beinen. Es versuchte nach Lichtlanzen zu greifen, die durch ein paar ausgerissene Bohrlöcher im Wellblech fielen.
„Da bist du ja!“, brachte Marie erleichtert heraus. Das Kind wandte ihr das Gesicht zu, schaute, wie Kleinkinder sind, erstaunt, war zu beschäftigt damit zu denken, um zu lächeln.
„Hat der Mann nicht gesagt, es sei nicht dein Kind?“, wollte die Nonne wissen.
Marie zögerte. Dann begann sie zu lachen.
Sehr spannend, am Anfang ein paar Holperer/fehlende Wörter. Ich finde es gut, dass man sich die Geschichte hinter der Geschichte ein wenig zusammenpuzzeln muss; südamerikanische Dschungel-Guerilla-Atmosphäre habe ich bei dem Thema nicht erwartet und fand es sehr gelungen beschrieben; die Heldin und ihre Sinneswandlung kann ich nicht ganz nachvollziehen (oder ich habe doch nicht ganz verstanden, WAS die Kuckuckskinder jetzt eigentlich auf der Erde machen; die klonen sich als Kinder ihrer Wirte? Und dann gehen sie ein Mutter-Tochter-Verhältnis miteinander ein? Warum will Lisa das? Weil sie nicht länger morden möchte?), aber es hat die Geschichte auf jeden Fall vorangetrieben und mich bis zum Ende mitfiebern lassen, was denn nun passieren wird.
AntwortenLöschen*Warum will Marie das?; Entschuldigung, zu schnell getippt ;)
LöschenDiese Geschichte ist durchweg gut geschrieben, schwankt aber zwischen Drama und Erklärung, hat dabei diesen 1980er Guerilla Drive. Die Motivation war für mich etwas schwierig herauszulesen
AntwortenLöschenFür mich bleibt auch offen, warum Marie eine Tochter will. Das wurde vorher nie angedeutet! Aber trotzdem spannend und gruselig.
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