Kuckuck, Kuckuck, rufts aus dem All
Kapitel 1 – Der Aufbruch
Die Sonne war gerade untergegangen und noch leuchtete der Himmel am Horizont in den schönsten Farben. Doch heute Abend konnte Alice das Farbenspiel in allen erdenklichen Orange- und Rottönen nicht geniessen. Sie hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen und die Türe verschlossen. Beim Abendessen gab es wieder einmal einen Streit mit ihren Eltern. «Warum nur können sie mich nicht verstehen? Den ganzen Tag haben sie nie Zeit für mich. Sie interessieren sich nur für ihre Arbeit. Mir drücken sie ihre eigenen Ansichten auf und erwarten von mir, dass ich alles brav befolge. Was ich dabei fühle oder denke, ist ihnen völlig egal.» Sie warf sich auf ihr Bett und starrte wütend an die Decke. Sie hing noch einige Zeit ihrem Ärger nach, bis sich ihre düsteren Gedanken mehrheitlich verflüchtigt hatten. Es würde sich ja sowieso nichts ändern. Sie war in dieser Familie, in ihrem Leben gefangen. Ein Ausweg daraus gab es nicht. Schliesslich stand sie auf und zog ihren Pyjama an und ging ins Bett. Aber der Schlaf wollte sich nicht einfinden, obwohl es schon weit über ihre normale Schlafenszeit hinaus war.
Alice driftete durch einen schlaflosen Dämmerzustand. Wie lange? Sie konnte sich später nicht genau daran erinnern. Plötzlich realisierte sie jedoch, dass sie am offenen Fenster stand und in die dunkle Nacht hinaus starrte. Irgendetwas da draussen zog sie magisch an. Sie konnte es sich nicht erklären. Sie wollte eigentlich wieder zurück ins Bett, um endlich nach einem langen, anstrengenden Tag mit Schule, Hausaufgaben und Hobby in den wohlverdienten Schlaf zu sinken. Auch der heftige Streit heute Abend hatte sie ziemlich ausgelaugt. Aber so sehr sie es auch versuchte, sie konnte sich nicht vom offenen Fenster abwenden. Schliesslich gab sie sich einen Ruck und kletterte aus dem Fenster. Es war nicht ihr eigener Wille, der sie dazu brachte. Aber es geschah auch nicht wirklich gegen ihren Willen. Vom Fensterbrett aus konnte sie problemlos den grossen Ast des Apfelbaums erreichen und von dort hinunterzuklettern war ein Kinderspiel. Dies hatte sie früher schon oft gemacht. Unten angekommen, verliess sie den Garten und ging hinaus auf die Strasse, die um diese Uhrzeit nur spärlich beleuchtet war. Sie folgte der Strasse mit einer Bestimmtheit in Richtung Stadtzentrum, jedoch ohne zu wissen, was eigentlich ihr Ziel war. Sie kam sich dabei vor wie Alice, welche unbedingt dem weissen Kaninchen folgen musste. Nach 150 Metern bog sie in den kleinen Weg ab, der dem Sportplatz entlangführte. Vor dem grossen Eingangstor im Zaun blieb sie abrupt stehen. Das Tor war nachts normalerweise immer verschlossen, aber heute stand es sperrangelweit offen. Sie betrat mit ihren nackten Füssen den Kunstrasen und ging zielstrebig zur Mitte des Sportplatzes, bis sich plötzlich die Welt um sie herum veränderte. Hätte sich jemand als Beobachter auf dem Sportplatz befunden, dann hätte er sehen können, wie sich Alice in Luft auflöste.
Zur gleichen Zeit gingen die Eltern von Alice zu Bett. Keiner der beiden merkte, dass sie nicht in ihrem Bett lag.
Alice wurde für einen Moment schwarz vor Augen, doch sie erholte sich rasch. Als sie wieder klar denken konnte, sah sie sich um. Der Sportplatz war verschwunden und ihre Füsse berührten kaltes Metall. Um sie herum sah sie helle, moderne Wände, die einen Korridor formten. Die Wände waren durchzogen von farbig glühenden Linien, welche komplexe Muster bildeten. Alice hielt inne und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. «Wie bin ich hierhergekommen? Und wo ist ‘hier’ überhaupt?» ‘Du bist nicht mehr in Kansas, Dorothy!’ schoss es ihr durch den Kopf und Alice musste unwillkürlich lachen. Doch das Lachen tönte in diesem Korridor falsch und unwirklich.
Hinter Alice lag eine grosse Schleuse, durch welche sie den Sportplatz sehen konnte. Aber Alice hatte kein Interesse zurückzugehen. Sie beschloss dem Korridor zu folgen. Das Glühen der in den Wänden eingelassenen Lichter intensivierte sich, als sie zaghaft einen Schritt nach vorne machte. Danach ebbte es wieder ab. Mit jedem weiteren Schritt wiederholte sich das Lichterschauspiel. Alice folgte dem Korridor, bis sie zu einem offenen Durchgang kam. Alice nahm all ihren Mut zusammen und trat hindurch. Sie betrat einen grossen, runden Raum in dessen Mitte sich eine gläserne Apparatur befand. Den Wänden entlang standen Sessel in verschiedenen Grössen und Formen. Alice entdeckte die verschiedensten Kreaturen, die auf den Sesseln Platz genommen hatten. Da sassen einige Menschen, die sie zuvor noch nie gesehen hatte. Aber es hatten auch Katzen, Affen, Vögel, Wölfe und sogar ein ausgewachsener Tiger sowie diverse andere Tiere auf den Sesseln Platz genommen. Alle schauten Alice an, die mit offenem Mund dastand. Schliesslich wies ein weisshaariger, alter Mann auf den letzten leeren Sessel in der Runde, der sich direkt neben dem Tiger befand. Alice fürchtete sich davor, sich neben einen Tiger zu setzen, aber sie fühlte auch mit absoluter Sicherheit, dass dies das einzig Richtige war. Schliesslich nickte sie dem Alten zu und setzte sich auf den Sessel. Der Tiger liess ein tiefes Knurren ertönen, dann legte er den massigen Kopf auf die riesige Pranke und schloss die Augen.
Plötzlich begann der Raum zu zittern. Die gläsernen Röhren der Apparatur in der Mitte des Raums füllten sich mit grüner Flüssigkeit. Die Decke des Raums wurde transparent und offenbarte den Blick in den nächtlichen Himmel. Alice sah die Sterne, die über ihrer Stadt Kehrsburg wachten. Doch mit der Zeit realisierte sie, dass sich die Sterne bewegten. Aber es waren nicht die Sterne, die ihre Position veränderten, sondern sie selbst. Der Raum bewegte sich. Sie musste sich in einer Art Raumschiff befinden, das soeben den Boden verlassen hatte. Sie bewegten sich immer schneller und Alice merkte, dass sie die Erde verliessen und sich mit unbekanntem Ziel in den Weltraum begaben. Niemand der anderen schien auch nur im Geringsten beunruhigt zu sein. Auch sie blieb ruhig sitzen und genoss das Schauspiel des Flugs. Das Raumschiff wendete und flog nun mit rasender Geschwindigkeit in Richtung der Sonne. Das Licht wurde immer intensiver und heller. Alice war geblendet und schloss die Augen. Doch auch als sie die Augen mit ihrem Arm abdeckte, war die Helligkeit kaum auszuhalten. Ihre Gedanken überschlugen sich und wirbelten wie ein Tornado durch ihren Kopf. Würden sie nun alle in den Gluten der Sonne verbrennen? War dies das Ende? Ihr letzter bewusster Gedanke war der des Sterbens. Dann war da nichts mehr.
Die Sonne ging strahlend und schön über Kehrsburg auf. Die Eltern von Alice erwachten, standen auf und klopften an ihre Türe. «Aufstehen, Schatz!» Während sich ihr Vater ins Büro begab, den Computer einschaltete und zu arbeiten begann, bereitete ihre Mutter in der Küche das Frühstück vor. Sie tat dies mit dem Automatismus einer Frau, die dieses Ritual schon jahrelang vollzogen hatte. Sie brütete dabei über einem Problem, das sie auf der Arbeit zu lösen hatte. Gedankenverloren räumte sie nach einer Weile den Tisch ab und stellte das Geschirr in den Spüler. Sie bemerkte weder, dass Teller und Tasse unbenutzt und sauber waren, noch dass Alice überhaupt nicht am Frühstückstisch erschienen war. Sie brachte ihrem Mann eine Tasse dampfenden Kaffee und ein mit Wurst belegtes Brot. Danach begann sie sich für die Arbeit zurecht zu machen. «Ist Alice schon zur Schule?» fragte er, ohne von seinem Bildschirm aufzublicken. «Ja, klar.» antwortete sie und verliess das Haus.
Kapitel 2 – Eine fremde Welt
Langsam kam Alice wieder zu Bewusstsein, aber sie war noch ganz benommen. Sie kniff ihre Augen noch immer mit aller Kraft zusammen und hielt sich ihren Arm vor den Augen, um sie zu schützen. Aber die brennende, alles verzehrende Helligkeit war verschwunden. Alice dachte an ihre Eltern zu Hause auf der Erde, dann schlug sie die Augen auf und sah sich um. Sie sass noch immer auf dem gleichen Sessel zwischen dem Tiger und einem grau-weissen Lemuren mit geringeltem Schwanz. Es schien, als ob alle Mitreisenden das Bewusstsein verloren hatten. Einige waren bereits aufgewacht, aber die meisten waren noch weggetreten. Die gläserne Apparatur in der Mitte des Raums summte leise und die grüne Flüssigkeit hatte sich gelb gefärbt. In regelmässigen Abständen bewegten sich Luftblasen durch die Flüssigkeit, wie Ameisen auf einer Ameisenstrasse. «Ob diese Veränderung etwas zu bedeuten hat?» fragte sich Alice. Da sie sich aber mit Technik überhaupt nicht auskannte – und mit dieser fremdartigen Technologie sowieso nicht – beschloss sie, dem keine weitere Beachtung zu schenken. Ihr Blick wanderte von der Apparatur an die transparente Decke, wo sich farbige Sterne zu bunten Wolken zusammenballten. Etwas so Schönes hatte Alice noch nie zuvor gesehen. Das Raumschiff schien auf eine der Sternwolken zuzufliegen. In der Mitte der Wolke entdeckte Alice einen grünen Stern und sie hatte plötzlich die Gewissheit, dass dies das Ziel ihrer Reise war.
Der grüne Stern wurde immer grösser und nahm schliesslich das ganze Sichtfeld der transparenten Decke ein. Alice erkannte, dass es kein Stern, sondern ein Planet war. Je näher sie dem Planeten kamen, desto mehr konnte Alice auf der Oberfläche erkennen. Es gab keine Wälder, Felder, Flüsse oder Seen wie auf der Erde. Der Boden bestand aus grünem Stein, der in sämtlichen Nuancen von grün schimmerte. Aus dem Boden ragten Formationen aus leuchtenden Kristallen. Alice bestaunte die vielfältigen Formen, welche die Kristalle annahmen. Sie erkannte kristallene Blumen, Büsche, ja sogar ganze Wälder geformt aus Kristallen. Es war ein wunderschöner Anblick, den Alice bestimmt nie mehr vergessen würde. Das Raumschiff flog über die faszinierende Landschaft und näherte sich einer weiteren, riesigen Kristallformation, die nichts glich, was Alice je gesehen hatte. In der Nähe dieser Formation drehte sich das Raumschiff und landete sanft, so dass sie kaum bemerkte, dass es auf den Boden aufsetzte.
Eine Weile passierte nichts. Doch dann wurde die Decke undurchsichtig und sah wieder so aus wie vor dem Abflug. Die gläsernen Röhren der Apparatur leerten sich und das Summen verklang. Alice und ihre Mitreisenden sahen sich gegenseitig an. Der weisshaarige alte Mann fragte in die Runde «Und nun?». Die Frage, die alle gleichermassen interessierte, schwebte im Raum, doch niemand konnte eine Antwort geben. Da plötzlich betrat ein Wesen den Raum. Äusserlich war es den Menschen in keinster Weise ähnlich. Sein massiger, eher rundlicher Körper sah so aus, als bestünde er aus grünem Stein. Stellenweise war er bedeckt von Fell und an anderen Körperteilen sah Alice Schuppen oder Federn. Das Wesen bewegte sich auf langen, dünnen Tentakeln fort und Alice war überrascht, dass sie stark genug waren, um das Gewicht des Wesens zu tragen. Einen Kopf schien es nicht zu haben. Die Augen sassen seitlich am Körper, wodurch es den ganzen Raum betrachten konnte. Das Geschöpf schien wie aus übrig gebliebenen Restteilen zusammengebaut zu sein. Nach einer Weile hörte Alice das Wesen sprechen, ohne dass sich ein Mund zum Reden öffnete. «Drazzt naik fra, zaal te harrs». Es waren Worte in einer fremdartig klingenden, unbekannten Sprache. Doch Alice konnte dennoch jedes einzelne Wort verstehen und sie bemerkte, dass auch die anderen in der Runde die Worte verstehen konnten. «Willkommen zu Hause, meine Kinder.» sagte es.
Alice war völlig überwältigt. Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Ihre Gefühle tanzten wild durcheinander, überschlugen sich, rangen miteinander um Vorherrschaft: Verwirrung über die soeben gehörte Begrüssung, Trauer die Erde verlassen zu haben, Freude über die glückliche Ankunft auf diesem Planeten, Angst vor der unbekannten Zukunft, Interesse am seltsamen, unerwarteten Äusseren des Wesens, Glückseligkeit zu Hause angekommen zu sein. Sie war sich noch nicht im Klaren darüber, welches Gefühl schliesslich die Oberhand gewinnen würde. Doch da sprach das Wesen erneut. «Zwih lan relk mea nektalb quad.» «Nehmt nun wieder unsere Form an.» verlangte es. Alice wusste nicht recht, was sie nun machen sollte. Daher beobachtete sie nur ihre Mitreisenden. Als erstes reagierte eine dicke Hauskatze. Sie streckte sich auf ihrem Sessel, sprang dann auf den Boden und lief einige Schritte auf das Wesen zu. Mit der Geschmeidigkeit, die allen Katzen zu eigen ist (sogar dicken Hauskatzen), sprang sie hoch und noch während sie in der Luft war, veränderte sie sich. Innert wenigen Sekunden wuchs sie auf ein Vielfaches ihrer Grösse. Ihre Farbe veränderte sich von hellgrau zu einem satten Grün. Ihre Tatzen wurden länger und verwandelten sich in Tentakel. Sie sah nun genauso aus wie das Wesen, das sie in Empfang genommen hatte. Auch andere Tiere und Menschen standen nun von ihren Sitzen auf und verwandelten sich im Nu in solche Wesen. Alice wusste nun ebenfalls, was sie zu tun hatte. Sie wurde ruhig, konzentrierte sich kurz und liess schliesslich in ihrem Geist los. Es gelang ihr ganz leicht. Und so stand Alice bald auf ihren Tentakeln, als wäre es die normalste Sache der Welt.
«Willkommen auf Margar, eurer wirklichen Heimat, meine Kinder.» erklärte das Wesen, nachdem sich alle Reisenden von der Erde verwandelt hatten. «Ihr wurdet nach eurer Geburt auf dem Planeten, den ihr ‘Erde’ nennt, ausgesetzt. Jeder von euch hat sich dann Eltern gesucht, die sich um euch kümmern und euch aufziehen. Um dies zu ermöglichen, habt ihr auch deren Form angenommen. Da ihr aber nun die Aufzucht durch eure Pflegeeltern nicht mehr benötigt, wart ihr bereit, um nach Margar zurückzukehren. Die vielfältigen Erfahrungen, die ihr auf der Erde gemacht habt, werden unserem Volk in vielerlei Hinsicht zu Gute kommen. Wir schicken aus diesem Grund unseren Nachwuchs nicht nur auf die Erde, sondern auf alle möglichen Planeten im ganzen Universum.»
Als Alice die Worte vernahm, wurde ihr Vieles klar. Sie verstand nun, warum sie sich auf der Erde nie richtig zu Hause gefühlt hatte, warum sie mit anderen nicht klargekommen war oder warum sich ihre Ansichten immer gänzlich von denen der anderen unterschieden hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben machte endlich alles Sinn. Sie brannte darauf, ihre neue Heimat kennen zu lernen und konnte es kaum erwarten, bis sich die Gruppe bereit machte, das Raumschiff zu verlassen, und den unbekannten Planeten zu betreten. Sie hörte dem Wesen, welches sich mittlerweile als Patash vorgestellt hatte, kaum mehr zu. Ihre Gedanken schweiften immer wieder ab und sie dachte daran, was es hier alles zu entdecken gäbe. Sie freute sich auf die Wunder, die sie hier erleben würde. Aber am allerwichtigsten war, dass sie sich hier nicht fehl am Platz fühlen würde. Sie war da, wo sie hingehörte.
Endlich war es soweit. Patash hatte die Erklärungen beendet und machte sich daran, die Gruppe aus dem Raumschiff zu führen. Alice wollte sich nach vorne drängeln, aber die anderen schienen ebenso neugierig zu sein, wie sie. Auch sie schoben sich nach vorne und so musste sich Alice noch etwas gedulden. Patash führte sie aus dem zentralen Transportraum durch die Öffnung in den Korridor mit den leuchtenden Mustern an den Wänden. Am Ende des Korridors lag die grosse Schleuse, durch die Alice das Raumschiff betreten hatte. Sie gab den Blick frei auf den grünen Planeten Margar.
Kapitel 3 – Zuhause
Alice trat durch die Schleuse und verliess somit das Raumschiff. Vor ihr breitete sich eine sagenhafte Stadt aus, welche Patash als ‘die südliche Hauptstadt Grexia’ bezeichnet hatte. Es gab keine Häuser, so wie Alice sie von der Erde her kannte. Die Marganer lebten in gigantischen Kristallformationen, die hier dicht gedrängt aus dem Boden wuchsen. Sie betrachtete einen der Kristalle genauer und bemerkte keine Spuren von Bearbeitung durch die Marganer. Die Öffnungen, die als Türen und Fenster dienten, waren natürlich gewachsen, ebenso wie diverse Vorsprünge, welche als Balkone benutzt wurden. Sie spürte instinktiv, dass die Kristalle und die Marganer eine symbiotische Beziehung führten. Die Kristalle wuchsen gemäss den Bedürfnissen der Marganer, im Gegenzug versorgten sie die Kristalle mit etwas, das Alice aber nicht nicht genau erfassen konnte. Alice hatte auf der Erde in der Schule etwas über die Symbiose zweier Lebewesen gelernt. Aber die Kristalle waren eindeutig mineralischer Form und nicht lebendig. Dies konnte sie bei der Berührung der Kristalle deutlich wahrnehmen.
Die Kristalle formten ein komplexes Netz aus Strassen und Gassen und überall tummelten sich Marganer. Es lebten allerdings nicht nur Marganer in Grexia, denn es waren noch andere Lebewesen in den Strassen unterwegs. Alice staunte über das lebhafte Gewimmel, so dass sie gar nicht merkte, dass sich die restlichen Mitglieder ihrer Reisegefährten bereits auf den Weg gemacht hatten, die Stadt zu erkunden.
Alice streifte daher allein durch die Stadt und entdeckte überall Neues, Fremdartiges und Interessantes. Als sie an einer kleinen Gasse vorbeikam, sah sie einen Marganer, der Mitten im Durchgang auf dem Boden lag. Sie eilte hinzu und wollte den Marganer fragen, ob er Hilfe benötigte. Doch kaum war sie ein paar Schritte nähergetreten, starrte sie der Marganer unvermittelt an. Er schrie sie an: «Wie kannst du es wagen, hierher zu kommen, du Prtzalk! Mach, dass du verschwindest, oder ich werde dir alle Tentakel einzeln ausreissen!» Das Wort ‘Prtzalk’ verstand Alice nicht, aber es war ihr klar, dass es eine Beleidigung war. Verwirrt verliess Alice die enge Gasse und wandte sich auf der Strasse nach Westen.
Sie folgte dem Verlauf der Strassen durch das Gewirr der Kristallhäuser, bis sie an einigen Geschäften vorbeikam. In der Auslage waren seltsame Gegenstände platziert, die Alice faszinierten. Sie wunderte sich, wofür die Dinge wohl gut sein konnten. Sie wollte den Laden betreten und den Besitzer danach fragen. Kaum hatte sie aber den Laden betreten, stand auch schon der Besitzer vor ihr und bugsierte sie unsanft wieder nach draussen. Alice wollte sich gerade über die unsanfte Behandlung beschweren, doch da wurde ihr bereits die Türe vor der Nase zugeschlagen.
Alice ging verärgert über die unfreundlichen Begegnungen in Grexia weiter. Nach einer Weile betrat Alice einen grossen, hexagonalen Platz, der von Kristallhäusern gesäumt war. In der Mitte des Platzes stand ein einzelner feuerroter Kristall. Dies war das erste Mal, dass Alice einen anderen Farbton als grün entdeckte. Sie näherte sich dem roten Kristall, der eine ganze eigentümliche Form hatte, und betrachtete ihn ausgiebig. Ganz unbewusst streckte sie ein Tentakel aus und berührte den Kristall an der Spitze. Augenblicklich begann er zu vibrieren, verfärbte sich dunkelrot und erzeugte einen lauten, schrillen Ton. Erschrocken zog Alice ihr Tentakel zurück, aber der ohrenbetäubende Lärm wollte nicht aufhören. Die auf dem Platz anwesenden Marganer und andere Kreaturen blickten entsetzt zu Alice. Nach einer Schrecksekunde veränderte sich die Stimmung schlagartig. Erbost schrien die Marganer auf und rannten auf Alice zu, die Tentakel drohend erhoben. Alice wich zurück, aber sie war rasch von den Passanten umringt und es stand ihr kein Fluchtweg mehr offen. Die Marganer schlugen auf Alice ein, andere Kreaturen verbissen sich in ihre Tentakel oder in den Bauch. Alice stürzte und wurde weiter getreten und geschlagen. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit liessen sie von Alice ab und gingen weiter ihrem Alltag nach.
Alice blieb reglos am Boden liegen. Ihr ganzer Körper schmerzte und eine bläuliche Flüssigkeit tropfte aus ihren Wunden, dort wo sie gebissen wurde. Tausende Gedanken schossen ihr durch den Kopf. «Wieso haben sie mich geschlagen? Was habe ich ihnen denn bloss getan? Was hat es mit dem roten Kristall auf sich? Habe ich ein Gesetz verletzt? Und was war falsch am Betreten des Ladens? Und wieso hat der Marganer in der Gasse so schroff reagiert? Ich verstehe diese Welt nicht, sie ist mir völlig fremd.» Als die Schmerzen etwas nachliessen rappelte sich Alice auf, und verliess den Platz, bevor nochmals etwas passieren würde. Sie schleppte sich hinkend durch die Strassen und schlug dabei unbewusst den Weg zu ihrem Ausgangspunkt ein.
Alice überlegte fieberhaft, was sie falsch gemacht hatte. Aber niemand hatte ihr die Regeln dieser Welt erklärt, auch Patash nicht bei der Begrüssung. Sie wusste nicht, wie man sich hier verhalten sollte. Sie kannte sich auf Margar nicht aus, sie war hier nicht zu Hause. Zu Hause! Der Gedanke an ein zu Hause liess sie nicht mehr los. War sie hier zu Hause? Unwillkürlich kamen ihr ihre Eltern auf der Erde in den Sinn. Seit dem Abflug hatte sie nicht mehr an sie gedacht und sie merkte, wie sehr sie sie vermisste. In diesem Moment wünschte sie sich bei Ihnen zu sein. Es war ihr egal, wenn auf der Erde nicht alles rund lief. Dort kannte sie sich zumindest aus und fühlte sich meist wohl und geborgen. Und so fasste Alice einen folgenreichen Entschluss.
Die Mutter von Alice sass mit von Tränen geröteten Augen im Wohnzimmer und machte sich schwere Vorwürfe. Warum nur hatte sie an diesem Morgen nicht gemerkt, dass Alice nicht zum Frühstück erschienen war? Sie hatte den ganzen Tag nur ihre Arbeit im Kopf gehabt und erst am Abend festgestellt, dass Alice verschwunden war. Auch ihr Vater war erschüttert. Sie hatten sich gegenseitig vorgeworfen, zu beschäftigt gewesen zu sein, und sich nicht um Alice gekümmert zu haben. Sie vermissten beide ihre Tochter. Natürlich waren sie auf der Polizeistation gewesen und hatten eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Bisher waren aber noch keine hilfreichen Hinweise eingegangen, niemand hatte Alice seit jener Nacht gesehen. Wenn sie nur ihre Tochter lebend wieder in die Arme schliessen könnten. Sie würden ihr garantiert mehr Aufmerksamkeit schenken.
Alice betrat gerade den Landeplatz des Raumschiffs, welches immer noch an der gleichen Position stand. Sie betrat das Schiff über die offene Schleuse und begab sich in den zentralen Raum. Sie wollte zur Erde zurückkehren, auch wenn sie nicht wusste, wie das Raumschiff zu steuern ist. Sie untersuchte die gläserne Apparatur in der Mitte des Raums. Sie war sich sicher, dass sich das Raumschiff damit steuern lassen konnte. Nur wie konnte man dies bewerkstelligen? Nach einer erfolglosen Prüfung der Apparatur musste Alice aufgeben. Sie hatte keine Ahnung, wie sie das Raumschiff zurück zur Erde steuern konnte. Enttäuscht setzte sie sich neben der Apparatur auf den Boden und vergrub ihr Gesicht in den Tentakeln. «Ich werde wohl für den Rest meines Lebens auf Margar gestrandet sein. Wenn ich aber noch länger auf diesem Planeten bleiben muss, dann sorgen die Marganer sicher für ein schnelles Ende meines Lebens.» Eine grüne Träne tropfte aus ihrem Auge auf den Boden.
Sie wusste nicht wieviel Zeit vergangen war, während sie so verharrte. Doch plötzlich vernahm Alice ein Geräusch aus dem Korridor. Waren das wieder irgendwelche Marganer, die ihr aus unerfindlichen Gründen ans Leder wollten? Sie wollte nicht gefunden werden und schaute sich um. Sollte sie sich hinter einem der Sessel verstecken? Nein, da würde sie vermutlich rasch gefunden werden. In panischer Angst schritt Alice den Raum ab und suchte nach einem Versteck. Hinter einem der Sessel entdeckte sie eine Wartungsklappe in der Wand, die gross genug war, um hineinzuschlüpfen. Zum Glück liess sie sich ganz einfach öffnen. Alice duckte sich und krabbelte in die Vertiefung, die gerade gross genug war für einen Marganer. Sie schloss die Klappe hinter sich und hielt den Atem an. Dies alles geschah keine Sekunde zu früh. Kaum war Alice in der Wartungsnische verschwunden, betraten mehrere Marganer den Raum. Einer davon war Patash. Durch einen Schlitz in der Verschlussplatte konnte Alice alles im Raum beobachten. Die Marganer brachten mehrere Kisten auf einer schwebenden Transportplatte. In der Mitte des Raums blieben sie stehen. Sie entnahmen den Kisten kleine grüne Steine und setzten sie vorsichtig auf die Sessel. Als sie auf jeden Sessel einen Stein verteilt hatten, nickte Patash zufrieden. «Wunderbar, vielen Dank für die Hilfe. Es wird Zeit die neue Brut in die Aufzucht zu bringen.» Alice spitzte in ihrem Versteck die Ohren. Die kleinen grünen Dinger auf den Sesseln waren also keine Steine, sondern frisch geschlüpfte Marganerbabys, die auf einem fremden Planeten grossgezogen werden sollten. «Welcher Planet ist denn für die Kleinen vorgesehen?» fragte einer der Marganer. «Jetzt, wo wir die Kinder von der Erde abgeholt haben, können wir dort die nächste Brut aussetzen.» erklärte Patash. Das Herz von Alice machte einen Freudensprung, als sie das hörte. «Was für ein unglaublich glücklicher Zufall.» dachte sie. «Wenn ich nicht hierher zurückgekommen wäre, hätte ich meine einzige Chance verpasst, um wieder auf die Erde zurückkehren zu können. Ich wäre wohl für viele Jahre auf Margar gestrandet.»
Die Marganer verliessen mit den Transportplattformen den Raum, nur Patash blieb zurück. Sie begab sich zur gläsernen Apparatur in der Mitte des Raums und bediente sie mit ihren Tentakeln. Wie genau das funktionierte konnte Alice aus ihrem Versteck nicht sehen. Die gläsernen Röhren der Apparatur füllten sich erneut mit grüner Flüssigkeit. Das Raumschiffs begann leise zu vibrieren. Patash begab sich nun zum Korridor und schaute sich noch einmal kurz um. «Lebt wohl, meine Kleinen. Wir sehen uns in ein paar Jahren wieder, wenn ihr ausgewachsen seid.» Dann verliess sie das Raumschiff. Die Decke wurde transparent und das Raumschiff setzte sich in Bewegung. Es durchpflügte zuerst die Atmosphäre von Margar und danach das Universum. Alice freute sich auf die Rückkehr zur Erde. Aber trotz ihrer Aufregung konnte sich Alice nicht wachhalten und schlief ein.
Als Alice wach wurde, waren die gläsernen Röhren leer und die Apparatur war stumm. Durch die Decke konnte Alice auch nichts mehr erkennen. Sie öffnete die Wartungsklappe und verliess ihr Versteck. Nach der Reise in dieser engen Vertiefung waren ihre Glieder steif. Sie bewegte sich mühsam und musste sich zuerst einmal strecken. Ein Schmerz durchzuckte ihren Körper, eine unliebsame Erinnerung an die Behandlung durch die Marganer. Der Raum war leer, die Marganerbabys verschwunden. Sie mussten bereits kurz nach der Landung das Raumschiff verlassen haben, um sich neue Pflegeeltern zu suchen. «Sie werden sich nicht daran erinnern, woher sie kommen. Genauso wenig, wie ich es tue.» überlegte Alice. «Vermutlich gehen sie automatisch nach draussen und passen sich an ihre neue Familie an. Genauso, wie sich Schildkrötenbabys instinktiv aus dem Sand graben und ins Meer krabbeln.»
Plötzlich realisierte Alice ein Summen hinter sich. Sie blickte sich um und sah, dass sich die gläsernen Röhren erneut mit grüner Flüssigkeit füllten. «Oh nein!» Patash musste das Raumschiff so programmiert haben, dass es nach der Ablieferung der Jungen selbständig nach Margar zurückkehrte. Alice rannte so rasch sie konnte durch den Korridor. Vor sich lag die grosse Schleuse, welche sich eben zu schliessen begann. Sie beeilte sich noch mehr. Noch zehn Meter, noch fünf, noch drei. Kurz vor der Schleuse kam Alice jedoch ins Straucheln, konnte sich aber wieder fangen und stolperte einigermassen unbeholfen durch die Schleuse. Sie landete draussen auf dem harten, matschigen Boden. Hinter sich hörte sie das Geräusch der zufallenden Schleusentore. Sie rappelte sich auf und drehte sich um. Vom Raumschiff war nichts mehr zu sehen, genauso wie bei ihrer Abreise von der Erde nach Margar. Im Gegensatz zu Margar war es hier gut getarnt und für die Bewohner dieses Planeten unsichtbar. Ein plötzlicher Windstoss warf Alice beinahe um. Das Raumschiff musste nun gestartet sein. Hier war sie nun, zurück auf der Erde.
Es war dunkle Nacht. Alice scannte die verlassene Umgebung. Sie fand sich aber nicht auf dem Sportplatz ihrer Schule wieder, nicht an der Stelle, wo ihre Reise begonnen hatte. Diesmal war das Raumschiff im Industriegebiet im Westen der Stadt gelandet. Also genau auf der anderen Seite der Stadt. Sie freute sich auf ihr zu Hause und ihre Eltern und wollte sich soeben auf den Heimweg machen, als es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel: sie hatte immer noch ihr marganisches Äusseres. Jeder, der sie so sah, würde vor Schreck tot umfallen, oder zu schreien beginnen, mit dem Handy Aufnahmen von ihr machen und im Internet veröffentlichen, die Polizei oder das Militär rufen, sie gefangen nehmen, angreifen oder Schlimmeres. Dies durfte nicht passieren. Zum Glück hatte sie noch niemand entdeckt, denn das Industriegebiet war nachts menschenleer. Sie konzentrierte sich auf ihr menschliches Äussere. Die Tentakel wurden kürzer und sahen bald darauf aus wie Arme und Beine, kurz: Alice war wieder sie selbst. Sie betrachtete ihr Spiegelbild in einer Fensterscheibe und war zufrieden.
Alice rannte nach Hause so rasch sie ihre Beine trugen. Sie flog förmlich durch die Stadt, getragen von der Vorfreude, ihre Eltern wieder zu sehen. Endlich erreichte sie das Haus und eilte die Stufen zur Haustüre hinauf. Natürlich war diese verschlossen und Alice hatte keinen Schlüssel dabei. Sie hämmerte mit ihren Fäusten an die Türe, bis sich im Haus etwas regte. «Macht auf! Ich bin es, Alice.» schrie sie. Drinnen schrie ihre Mutter auf. Es war ein Schrei der Überraschung und Freude. Alice hörte, wie ihre Eltern die Treppe hinuntereilten und die Türe aufschlossen. Sie waren überglücklich, als sie ihre Tochter wiedersahen. Alice flog in die ausgebreiteten Arme ihrer Eltern und die drei umarmten sich innig. Sie verharrten lange in dieser Umarmung. Alice fühlte sich glücklich. Sie war zu Hause. Ihr ihrem richtigen zu Hause, auch wenn es dies eigentlich nicht war. Aber dies blieb ihr Geheimnis.
Ich hätte mir hier etwas mehr Entwicklung der Person und innere Handlung gewünscht. Gefühle!
AntwortenLöschenHier kommentiert ein allwissender Erzähler die gesamte Geschichte und die Gedanken von Alice und ihren Eltern. Dadurch fühlt sich das Lesen an, wie eine lange Beschreibung, bei der man darauf wartet, dass die eigentliche Geschichte endlich losgehen möge. Schade, weil einige schöne Ideen dabei waren. So bleibt Alice's Konflikt eher oberflächlich. Wir als Lesende erfahren nicht, worin ihr Streit mit den Eltern besteht, warum ihr Verhalten oder Aussehen auf dem fremden Planeten ein Problem ist, wie zur Hölle Alice es mit Hilfe ihrer Gedanken schafft, sich in ihr menschliches Äußeres zurückzuverwandeln und warum seit dem Abheben des Raumschiffes und der Wiederankunft auf der Erde keine Zeit vergangen ist (kurz hatte ich die böse Hoffnung, dass Alice an der Tür ihres Elternhauses klopft und die mittlerweile längst verstorben oder ausgezogen sind). Die Anspielungen auf "Alice im Wunderland" und den "Zauberer von Oz" haben mir gefallen, auch die Idee mit der Kristallwelt. Aber dadurch, dass alles direkt im nächsten Satz erklärt/kommentiert wird, entsteht bei mir keine richtige Neugier oder Interesse.
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