DACSF2025_73

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Im falschen Nest

Tom

Ich spüre ihren Blick auf mir, noch bevor ich meine Augen öffne. Mira ist mal wieder vor mir wach. Natürlich ist sie das, wie fast jeden Morgen. Blinzelnd sehe ich in den sonnendurchfluteten Raum, wo sie auf der Bettkante sitzt, die Beine verschlungen in ihrem berühmten Knoten. Ich weiß bis heute nicht, wie sie das hinkriegt. Für mich sieht es jedes Mal aus als müsste man ihr danach die Kniescheibe neu einsetzen.

In der einen Hand hält sie einen Lippenstift und in der anderen eine Bürste. Kein Spiegel weit und breit. Natürlich nicht, in diesem Haus gibt es keine. Nie habe ich mich getraut zu fragen, ob das irgendeine spirituelle Überzeugung ist oder einfach nur eine seltsame Eigenheit. Mira braucht jedenfalls keinen Spiegel. Sie zieht den Bogen ihrer Lippen ruhig und gleichmäßig nach, fast so, als hätte sie eine innere Vorlage in sich gespeichert. „Wie machst du das eigentlich?“, murmle ich, meine Stimme noch rau vom Schlaf. „Ich fühle das einfach“, erwidert sie, ohne mich anzusehen.

Sie war vermutlich wieder stundenlang wach. So etwas würde mich vollkommen unbrauchbar machen. Bei Mira ist das anders. Sie schläft selten durch. Oft höre ich sie nachts in der Küche. Ganz leise, als würde sie versuchen, nicht mal die Luft zu stören. Manchmal kocht sie sich einen Tee. Manchmal schreibt sie irgendwas auf kleine Zettel, die sie morgens verbrennt. Ich habe aufgehört zu fragen. Sie meint, sie müsse dem inneren Zyklus folgen, nicht dem äußeren. Verstehen kann ich es nicht, aber ich habe aufgehört, nach Antworten zu suchen.

Ich drehe mich zur Seite, ziehe mir die Decke bis zur Brust und betrachte sie noch einen Moment. Ihr Profil im schrägen Morgenlicht, der Nacken, den ich so gut kenne. Die feine Linie zwischen Haaransatz und Nasenspitze. Es gibt Tage, da wirkt sie wie ein vollkommen fremdes Wesen auf mich. Wenn ich meine kleine Elfe so betrachte, ist da dieses unerschütterliche Gefühl: ich gehöre zu ihr und sie zu mir.

Als sie aufsteht, geht sie barfuß über den kalten Dielenboden. Sie gleitet fast, leise und mühelos. Ich dagegen humpel immer durch dieses Haus, als wäre es für zartere Wesen gebaut worden. Vielleicht ist es das auch, denn auch Miras Eltern haben ein Talent dafür, sich geräuschlos zu bewegen. Wie oft haben sie mich schon aus dem Nichts erschrocken. Und doch mag ich die beiden sehr. Sie tragen dieselbe Ruhe in sich wie Mira, und dieselben liebenswürdigen Schrullen.

Nachdem ich aufgestanden bin, zieh ich mir mein Shirt über den Kopf und gehe ins Wohnzimmer. Mira sitzt, natürlich in ihrem verdrehten Lieblingssitz, auf dem Boden. Beine unter ihrem Körper verknotet, Rücken gerade und Hände auf den Knien. Sie sieht nicht meditierend aus, sondern eher bereit. Als könnte sie jederzeit aufspringen und wegrennen.

Sie hebt den Blick, als ich reinkomme, und lächelt. Ich schenke ihr ein Lächeln zurück. Unsere Welt ist klein in solchen Situationen, sie gehört dann nur uns. Es ist einer dieser stillen Momente, in denen alles stimmt, so wie es ist.

In der Stille solcher Augenblicke erinnere ich mich daran, wie sie mir erzählt hat, dass sie sich nie ganz zugehörig fühlte. Schon als Kind nicht. Nicht in der Schule, nicht bei Geburtstagen, nicht mal bei sich selbst. Ich habe das nie ganz verstanden, aber ich nehme es ernst. Weil sie es ernst meint. Und weil ich glaube, dass es Menschen gibt, die einfach einen anderen Rhythmus haben. Einen, der nur wenige spüren.

Sie ist mein Lieblingsrätsel und ich mag die Vorstellung, dass ich es ein Leben lang erforschen darf.

Mira

Ich erkenne seinen Blick sofort. Diesen leicht schiefen, liebevollen Blick, den er mir schenkt, immer wenn ich in meiner Pose sitze. Als müsste er mich daraus befreien. Dabei fühlt es sich für mich ganz normal an, mehr noch sogar sehr bequem.

„Da bist du ja. Frühstück ist fertig“, sage ich. „Mama hat sich mal wieder selbst übertroffen.“ Er reicht mir die Hand und zieht mich zu sich hoch. Gemeinsam gehen wir in die Küche, wo meine Eltern schon auf uns warten. Der Kaffee dampft in der großen gelben Kanne und der Tisch ist reich gedeckt: Brot, Butter, Marmelade, gekochte Eier, Käse, ein Teller mit Gemüse.

Papa sitzt da mit einem großen, exakt geschnittenen Stück Butter auf seinem Teller. Kein Brot, kein Belag, nur Butter. Er löffelt sie langsam, fast andächtig, als wäre es ein teures Dessert. Tom wirft mir einen feixenden Blick zu, ich zucke grinsend mit den Schultern. Nach so vielen Frühstücken mit meinen Eltern hat er sich langsam an den Anblick meines butterlöffelnden Papas gewöhnt.

Meine Mutter stellt frische Brötchen auf den Tisch, Tom greift nach dem Käse, ich zum Aprikosengelee. „Wir könnten heute in die Altstadt gehen“, schlägt sie vor, während sie sich eine Tomatenscheibe auf ihr Brötchen legt. „Oder zum See fahren. Das Wetter soll schön werden“, ergänzt mein Vater und nimmt sich ein weiteres perfektes Stück Butter.

Ich liebe diese Momente. Wenn wir alle zusammen frühstücken, wenn Papas Butterritual niemanden mehr wundert und Mamas Brötchen exakt symmetrisch durchgeschnitten sind. Alles wie immer. Es liegt so eine Ruhe in diesen kleinen Gewohnheiten, eine Ordnung, die mich immer beruhigt hat. Ich glaube, für Tom ist manches an meinen Eltern ein kleines Mysterium. Aber das hat er mich nie spüren lassen. Nicht mit einem Wort. Höchstens mit diesem schiefen Lächeln, das sagt: ich versteh‘s nicht, aber ich liebe dich und deine Familie.

Tom

Gerade als ich mich zum Salz vorbeuge, um mein Ei zu würzen, sehe ich draußen den Postboten zur Tür laufen. Unsere Blicke treffen sich durch die große Fensterfront, er winkt mir lächelnd zu. Ich hebe die Hand und winke kurz zurück. Als ich meinen Arm wieder sinken lasse, sehe ich jedoch, dass seine noch immer in der Luft steht, regungslos, als hätte jemand auf Pause gedrückt.

Ich blinzle, warte einen Moment. Doch der Postbote bewegt sich weiterhin nicht. Kein Schritt, kein Wimpernschlag. Selbst sein Lächeln scheint eingefroren, als wäre es nur noch eine Erinnerung in seinem Gesicht. Und auch alle anderen Menschen auf der Straße stehen wie Statuen plötzlich ganz still.

„Äh, seht ihr das auch?“, frage ich die anderen, während ich mich leicht zur Seite lehne, um besser aus dem Fenster schauen zu können. Mira schaut fragend auf. Ihre Mutter streicht gerade verträumt Frischkäse auf ein Brötchen, ihr Vater ist in seine Zeitung vertieft. Hier drinnen scheint alles ganz normal. Nur draußen, da stehen die Menschen wie versteinert.

Plötzlich überkommt mich ein Schwindel, so heftig, dass ich mich im Sitzen am Tisch abstützen muss. Es ist, als würde mir der Boden unter den Füßen weggerissen werden. Dann ein Knall: nicht außen, im Innen. Etwas reißt in meinem Kopf auf. Kein Schmerz, eher wie ein mentaler Riss. Etwas will heraus, ein Gedanke, ein Wort, aber alles kommt auf einmal.

Ich falle, nicht mit dem Körper, nur mit meinem Bewusstsein. Ein Licht, das zu grell ist, um es zu sehen. Für einen Moment ist alles leer, dann Bilder, Gedanken, Gefühle, Worte, Konzepte. Kein Anfang und kein Ende, nur ein unendlicher Strom.

Da sind sie, da sind wir, eine Spezies geformt aus Verstand, ein Kollektiv, eine Einheit. Ein unsichtbares Netz, gespannt über Welten.

Meine Geburt erscheint mir: Fremde Hände und doch wirken sie vertraut. Sie legen mich auf der Erde ab, getarnt als Menschenkind. So schützen sie mich, innerlich und äußerlich werde ich zu einem Menschen. Nur das tief vergrabene Bewusstsein bleibt. Wartend, schlafend, bis der Ruf kommt – so wie bei tausenden anderer Kinder, die auf Welten weit entfernt abgelegt werden.

Da sind sie, meine Adoptiveltern, sie denken, ich bin ihr eigener Sohn. Eine Erinnerung, die verdreht wurde, also erziehen sie mich wie ihr eigenes Fleisch und Blut. Und wenn der Moment gekommen ist, so wie jetzt, dann kehren wir zurück.

Ich sehe mich. In vielen Varianten, in vielen Leben, auf vielen Planeten. Meine Rolle und meine Aufgabe liegen klar vor mir. Ich bin bereit. Nie war ich ein Mensch, nie Tom – sondern schon immer ein Orvani.

Langsam, wie durch Nebel, sickert die Welt um mich herum zurück. Geräusche dringen zu mir, dumpf, fern, dann plötzlich scharf: „Mira, Mira!“, ihre Eltern rufen sie laut und panisch.

Mira steht aufrecht neben dem Tisch, ihr ganzer Körper angespannt, als hätte jemand sie in der Bewegung gefangen. Die Arme hängen steif an ihr herab, der Kopf ist in den Nacken gefallen, ihre Augen weit aufgerissen. Sie starrt nach oben, ins Nichts, ins Alles.

„Mira?“, meine Stimme ist kaum mehr als ein Hauch, aber irgendetwas in mir weiß, dass ich sie damit eh nicht erreiche. Sie ist gerade nicht hier, sie ist ganz woanders. Noch.

Und dann ein Zucken. Ihr ganzer Körper zuckt so schnell, dass es fast unmerklich ist. Ihre Schultern sacken ab, der Blick fällt. Ein Atemzug durchfährt sie, tief und rau. Und sie ist wieder da. Ihre Augen blinzeln suchend und verwirrt.

Ich stehe auf, gehe langsam zu ihr. Ganz vorsichtig nähere ich mich, als könnte ich sie verschrecken. Ihre Eltern reden auf sie ein, aber sie hören sich an wie aus einer anderen Welt. Alles andere verblasst, nur Mira bleibt. Sie sieht mich an, und ich weiß: ich bin nicht der Einzige, der das alles gesehen hat. Nicht der Einzige, der sich plötzlich erinnert.

Mira

Es dauert, bis ich wieder richtig atmen kann. Doch als mein Atem zurückkehrt, spüre ich es: ich bin nicht allein. Sie sind da. Immer noch. Nicht als Stimmen, nicht als Bilder, sondern als eine Art Präsenz. Ich fühle sie, die anderen, die Orvani.

Sie denken nicht laut. Sie drängen sich nicht auf. Aber sie sind da – in mir, um mich, durch mich hindurch, wie ein riesiges Netz aus kollektivem Bewusstsein. Kein Geräusch, kein Geruch, keine Sprache und doch ist da die Gewissheit: Ich bin nicht allein. Und werde es nie wieder sein.

Ein Teil von mir schreit, weil alles zu viel ist. Weil meine ganze Welt gerade zerbricht. Und gleichzeitig ist da dieses Vibrieren, das jede Faser meines Körpers durchzieht. Ich gehöre zu ihnen. Ein Kuckuck, eines der weggebrachten Kinder. Und plötzlich macht alles Sinn. Das Gefühl nicht ganz dazuzugehören, es lag nicht an den anderen. Es lag an mir. Ich war nie eins mit dieser Welt, weil ich kein Teil von ihr war.

Ein Geräusch reißt mich aus meiner Starre. Stühle rücken, etwas bewegt sich „Mira!“, ruft mich meine Mutter panisch. „Was ist los mit dir?“, fragt mein Vater. Er beugt sich nach vorne, versucht mein Gesicht zu sehen.

Aber in meinem Blick verschwimmt alles. Meine Eltern stehen direkt vor mir, an genau dem Platz, an dem sie eben noch ganz selbstverständlich ihr Frühstück gegessen haben. Aber jetzt ist nichts mehr selbstverständlich. Die Hände meiner Mutter zittern. Mein Vater ist bleich, die Lippen angespannt. „Kind…?“, wendet er sich an mich. Seine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern.

Ich kann nicht antworten, noch nicht. Kaum ertrage ich es, sie anzusehen. Denn irgendwie ist es mir sofort klar. Sie haben es geahnt, wahrscheinlich sogar erkannt. „Ihr habt es die ganze Zeit gewusst“, presse ich hervor. Meine Mutter sieht mich lange an, bevor sie langsam nickt. „Ja, wir wussten es.“ Ihre Stimme klingt weich, bedauernd. Nicht entschuldigend, aber aufrichtig.

Kopfschüttelnd frage ich: „Wie konntet ihr mir das antun? Wie konntet ihr mich aufwachsen lassen, ohne…ohne je was zu sagen?“ Mein Vater setzt sich wieder, als bräuchte er Halt. Dann antwortet er: „Weil du unser Kind bist, Schatz.“

„Bin ich eben nicht“, entgegne ich während meine Stimme bricht. „Doch Mira“, sagt meine Mutter entschieden. „Ich habe dich nicht geboren. Aber das macht keinen Unterschied. Du bist unser Kind!“ Papa schaut mich eindringlich an und erklärt: „Wir…Wir sollten dich nur beobachten, als ein Forschungsprojekt. So hat alles begonnen.“

Mir wird gleichzeitig kalt und heiß. Ich sehe ihre Gesichter, die ich schon mein Leben lang kenne. Die ich liebe. „Und dann?“, frage ich mit schriller Stimme. „Dann hast du uns verändert.“ Mein Vater sieht mich an. Zum ersten Mal in meinem Leben hat er Tränen in den Augen. Er erwidert: „Du warst neugierig, dickköpfig, laut und wunderschön. Wir sollten dich studieren und haben uns stattdessen in dich verliebt.“

Schmerzvoll schlucke ich den Knoten in meinem Hals herunter. Mein Herz hämmert, ich weiß nicht wohin mit mir. Ich öffne den Mund, doch komme nicht dazu, etwas zu sagen. Mamas Stimme ist schneller: „Wir sind Velari, Mira.” Sie hält kurz inne, als müsse sie ihre Worte erst selbst ertragen. „Unser Planet existiert nicht mehr, er wurde zerstört. Darum verstecken wir uns seitdem auf der Erde, getarnt als Menschen.” Ihre Stimme wird leiser, der Schmerz der Erinnerung deutlich hörbar.

Ich starre sie an. Velari, das Wort fühlt sich fremd und doch irgendwie vertraut an. Als hätte ich es schon mal gehört, tief in mir, aber nie verstanden. „Und deshalb…?”, meine Stimme bricht. „Deshalb haben deine Artgenossen dich bei uns abgelegt. Sie haben uns nicht erkannt und dachten wir sind Menschen,” ergänzt Papa meinen Satz.

„Und warum wisst ihr noch davon?”, frage ich irritiert. Mama fährt fort: „Unseren Verstand konnten die Orvani nicht manipulieren. Das funktioniert bei unserer Spezies nicht. Wir wussten immer woher du wirklich kommst.”

Ein schrilles Klingeln schneidet in meine Gedanken. Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, was es ist: das Telefon im Flur. So ein alltägliches Geräusch, und doch trifft es mich, als hätte jemand den Faden meiner Gedanken zerrissen. Auch Tom fährt erschrocken zusammen und plötzlich wird mir klar, dass ich ihn vollkommen vergessen habe. Als hätte es für einen Moment nur mich und meine Eltern gegeben.

Ich starre ihn an. Und plötzlich schreit alles in mir: wir sind Aliens!

Tom

Miras Blick ruht auf ihren Eltern. Sie sagt nichts, aber ihr ganzer Körper steht unter Spannung. Als müsste sie sich selbst festhalten, um nicht nach hinten zu kippen. Ich weiß, was sie sieht, was sie gesehen hat, ich hab es ja auch gesehen. Und sehe es noch.

Aber während sie noch verarbeitet, dass ihre Eltern nicht ihre Eltern sind, bin ich längst einen Schritt weiter. Meine Eltern, besser die Menschen, die mich großgezogen haben, sind wie verblasst. Keine Wut, kein Schmerz, nur Leere. Als hätte der Knall in meinem Kopf die Verbindung gekappt, radikal und endgültig.

Ich erinnere mich an alles, was sie für mich getan haben. Aber es fühlt sich nicht mehr nach mir an. Als hätte ich ein anderes Leben beobachtet, nicht meins gelebt. Nicht hier ist mein Zuhause. Das ist keine Entscheidung, es ist einfach so, wie ein inneres Gesetz, das auf einmal sichtbar geworden ist. Der Ruf meiner echten Familie ist unausweichlich, und ich weiß, dass ich ihm folgen werde. Nicht irgendwann, sondern jetzt.

Mira sitzt da, regungslos, doch ich erkenne sofort, wie sehr es gerade in ihr arbeitet. Wie sie alles, was gerade passiert, zu fassen versucht und dabei kaum Luft bekommt. Langsam dreht sie sich zu mir um. Ihr Blick ist glasig, ihre Stirn gerunzelt, als würde sie nach Worten greifen, die nicht existieren. „Wir müssen zurückkehren“, sagt sie leise. Nicht als Frage, nicht als Vorschlag. Einfach, weil es so ist. „Zurück…“, wiederholt sie, als müsse sie das Wort an sich erst an sich heranlassen.

„Aber…“, ihre Stimme zittert. „Meine Eltern, ich kann sie doch nicht einfach…“, sie bricht ab, schüttelt leicht den Kopf, als wüsste sie nicht, wie der Satz weitergeht. Dann presst sie die Lippen aufeinander, ringt um Fassung.

Ich will etwas entgegnen, aber sie ist noch nicht fertig: „Ich weiß, was du sagen willst. Dieses Drängen zur Heimkehr spüre ich doch auch.“ Sie legt sich eine Hand auf die Brust, als wolle sie den Ursprung greifen. „Aber es ist nicht so leicht für mich. Ich will bei Ihnen bleiben“, sagt sie und schaut zu ihren Eltern. „Und trotzdem weiß ich, dass ich nicht bleiben kann. Aber ich will es.“

Ihr Blick trifft meinen, unruhig, fordernd, verletzlich. Doch ich bleibe stumm. Denn für mich gibt es nichts zu diskutieren. Aber für sie ist es ein Riss, ein Riss zwischen Herkunft und Liebe. Zwischen dem, was sie weiß, was sie kennt und dem, was sie jetzt fühlt und sieht.

Mira

Kälte breitet sich in meinem Körper aus. Nicht von außen, sondern von innen, als hätte jemand flüssiges Metall in mich gegossen, das sich über meine Adern verteilt. Ich kann noch stehen, ich kann noch atmen, ich kann noch fühlen. Aber ich weiß nicht, wie lange noch.

Tom sieht mich nicht mehr wirklich an. Nicht so, wie er es sonst tut. In seinen Augen liegt etwas Verschlossenes, als hätte er die Tür längst zugemacht. Die Tür zu mir? Zur Welt? Ich weiß es nicht. Vielleicht zu beidem.

Meine Mutter kommt einen Schritt auf mich zu. Zögerlich. „Du musst nicht…“, beginnt sie, aber dann bleibt sie stehen. Ihre Schultern sinken, ihre Finger umklammern den Stoff ihres Pullovers, als wolle sie sich selbst festhalten. Die Frau, die mich jeden Abend zu Bett gebracht hat, als ich klein war. Die mich gepflegt hat, wenn ich krank wurde. Die mir das Lesen beigebracht hat, als ich bei jedem Wort stockte. Die mich nie gedrängt hat, zu sein wie andere. Vielleicht weil sie wusste, dass ich das ohnehin nie sein würde. „Bitte“, flüstert sie. Ein einziges Wort, keine Forderung, kein Versuch, mich zu halten. Nur eine Erinnerung daran, dass ich ihr Kind bin.

Mein Körper ist ruhig geworden, aber eine Frage nagt an mir, tief in meinem Inneren. Ich will wissen, wie sie es ertragen hat, mich all die Jahre zu lieben und zu wissen, dass ich nicht bleibe. Mich zu halten und zu wissen, dass ich nicht dazugehöre. Ich will meine Eltern so viel fragen, aber ich traue mich nicht. Weil ich Angst habe vor den Antworten.

Tom bewegt sich plötzlich auf mich zu. Und irgendetwas ist anders. Seine Schritte sind zu präzise, zu leicht. Als würde er den Boden kaum noch berühren. Seine Schultern wirken schmaler, als würden sie den Halt verlieren.

„Du wirst gehen“, sage ich. Nicht fragend, nicht anklagend. Es ist einfach nur eine Feststellung. Er nickt. „Und ich?“, frage ich. „Was ist, wenn ich bleibe? Was, wenn ich den Sog spüre und mich trotzdem entscheide, ihm nicht zu folgen?“ „Dann wirst du dich verlieren“, ist seine kurze und knappe Antwort. Seine Stimme ist glatt, ohne Härte. Es ist eine Tatsache, wie ein Gesetz. Aber in mir zieht sich alles zusammen, als hätte er ein Urteil ausgesprochen, gegen das ich mich nicht wehren kann.

Er hat recht. Ich spüre es genauso, doch ich will es nicht wahrhaben. Also wende ich mich von ihm ab. Nicht weil ich es will, sondern weil ich den Gedanken nicht ertrage, dass ich zu etwas gehöre, das ich mir nie ausgesucht habe. Dass mein Weg vielleicht kein eigener ist, sondern Teil eines kollektiven Plans einer fremden Spezies. Und dass Liebe dagegen keine Chance hat.

Meine Eltern schweigen, aber ich fühle ihre Nähe hinter mir. Zwei Schatten mit offenen Herzen und ich, ein Kuckuckskind in ihrem Nest, das sie lieben, obwohl es nie ihr Eigenes war.

Und doch, ich erinnere mich an den Geruch von Zimt in der Küche, wenn Mama gebacken hat. An Papas Geschichten, die zu lang und zu absurd waren, mich aber am Ende doch immer zum Lachen gebracht haben. An meine ersten Tage in der Schule und wie stolz meine Eltern mich ansahen, als ich mit meiner Schultüte mit Prinzessinnen Motiv auf der Bühne stand. Das war keine Forschung. Das war Familie. „Ich will nicht zurück.“, sage ich leise und dann lauter: „Ich will nicht, dass alles hier endet.“

Plötzlich bemerke ich, dass Tom kaum noch atmet. Seine Brust bleibt still und unter seiner Haut schimmert etwas, als würde ein anderes Wesen durch ihn hindurchscheinen. Er ist wirklich einer von ihnen, aber bin ich es auch?

Ich drehe mich zu meiner Mutter. „Zeigt es mir“, sage ich. „Zeigt mir, wie ihr wirklich ausseht.“ Ihr Gesicht zieht sich erschrocken zusammen. „Mira… bitte.“, fleht sie mich an. Aber mein Blick ist unnachgiebig und ihr ist klar, sie haben keine andere Wahl, wenn ich bleiben soll.

Ein Moment vergeht. Dann noch einer. Und dann geschieht es – langsam, aber unaufhaltsam. Vor meinen Augen beginnen sich die Körper meiner Eltern zu verändern. Zuerst sind es nur Details, die Haut ihrer Gesichter wird grünlich-blau und bekommt einen ledrigen Schimmer. Dann verändern sich ihre Schädel, werden länger, fast majestätisch.

Ihre Augen vergrößern sich zu schwarzen, mandelförmigen Spiegeln. Keine Pupillen, kein Weiß, nur endlose Tiefe. Der Blick meiner Mutter bleibt weich, aber gleichzeitig wirkt er fremd. Ihr Mund ist nur noch ein feiner, gespannter Strich, und ihre Ohren wachsen in die Länge, spitz und elfenhaft.

Auch ihre Körper verändern sich. Die Kleidung fällt nicht ab und reißt nicht auf. Sie passt sich einfach an, als gehöre sie zu ihnen. Ihre Gestalten wirken groß, schlank, sehnig und voller Kraft. Und doch: sie wirken nicht bedrohlich, vielmehr freundlich, fast schon liebevoll.

So sehen also Velari in ihrer echten Gestalt aus. Bei diesem Anblick wird mir schmerzhaft klar: ich gehöre nicht dazu. Ich werde nie so aussehen wie sie. Ich bin eine Orvani, das weiß ich jetzt. Aber sie haben mich geprägt, nicht die, von denen ich abstamme.

Tom

Sie verwandeln sich direkt vor meinen Augen. Von einem zum anderen Moment haben die Gestaltwandler ihre menschliche Hülle abgelegt und sich zu ihrem wahren Ich verwandelt. Die Haut wirkt jetzt grünlich, glatt und fest. Die Köpfe weiten sich nach oben, die Stirn zieht sich in tiefe, symmetrische Furchen. Und diese Augen. Riesig, schwarz und es ist klar: sie sehen alles. Vielleicht haben sie schon immer alles gesehen.

Ich starre auf diese beiden Wesen, die so fern von den Eltern sind, die Mira großgezogen haben. Von den Menschen, die ich seit Jahren zu kennen glaubte. Und gleichzeitig weiß ich, dass genau das die Wahrheit ist. Ich empfinde keine Ablehnung, keinen Schrecken, nur die innere Wahrheit, dass wir genau das sind, was wir sind. Denn während Mira noch mit sich kämpft, noch zögert, hat sich bei mir längst alles gelöst.

Auf meinen Händen verschwimmen die Konturen leicht. Etwas schimmert unter der Haut. Es sieht aus wie Öl auf Wasser, irisierend und ständig in Bewegung. Auch meine Umrisse wirken weicher als vorher, durchlässiger, als würde ich langsam meine Form verlieren, ohne sie aufzugeben. Diese Veränderungen fühlen sich warm und vertraut an. Ich weiß, dass es richtig ist und dass ich werde, wer ich wirklich bin.

Dann gibt es draußen ein lautes Geräusch. Tief und vibrierend, wie ein metallischer Pulsschlag. Ich trete am Fenster einen Schritt zur Seite, da wo das Licht auf den Boden fällt. Draußen auf der Wiese landen zwei Kapseln. Sie sind glatt, grau und wirken fast organisch. Keine Fenster, keine Schrift, kein sichtbarer Eingang und doch weiß ich, wo sie sich öffnen werden und wo sie uns hinbringen sollen. Ich spüre, wie es in mir arbeitet, wie das kollektive Bewusstsein mich leitet. Kein Befehl, keine Stimme, nur ein inneres Wissen, das sich durch jede Entscheidung zieht.

Langsam, aber bestimmt wende ich mich zur Tür. Meine Schritte sind ruhig und fest. Niemand hält mich auf. Miras Eltern, die Velari, stehen noch immer dort, wo sie sich offenbart haben. Ihre Körper unbeweglich, ihre Augen schwarz glänzend. Miras Blick ist zu Boden gerichtet, ihre Arme hängen an ihr herab, ihr Gesicht wirkt leer und überfordert.

Draußen ist die Luft kühl und klar, wie nach einem Gewitter. Mit sicherem Schritt gehe ich auf eine der Kapseln zu, weil ich genau spüre, dass sie meine ist. Und als wäre mein ganzer Körper ein Code, der den Eingang nur für mich öffnet, schiebt sich ein Teil der Kapsel nach oben und gibt eine breite Öffnung ins Innere frei.

Für einen Moment verharre ich, höre hinter mir mehrere Schritte. Ich drehe mich nicht um, aber ich weiß auch so, dass Mira und ihre Eltern mir folgen. Vor mir regt sich die Kapsel, als würde sie meine Anwesenheit spüren. Eine dünne Rampe fährt heraus und die Kapsel beginnt leuchtend zu pulsieren, fast wie ein Atmen. Ein Schritt, dann wäre ich im Inneren. Doch ich warte. Nicht, weil ich zweifle, sondern weil ich weiß, dass Mira sich noch nicht entschieden hat. Ihr Ringen ist für mich spürbar, nicht durch Worte, sondern durch das Bewusstsein, das uns verbindet. Aber Mira ist eine Orvani und wir haben den Auftrag, gemeinsam heimzukehren. Also warte ich.

Nicht aus Liebe – nicht mehr. Was ich früher für sie empfunden habe, ist irrelevant geworden. Wie die Erinnerung an mein altes Kinderzimmer oder die Stimme meiner Mutter. Vergangene Erinnerungen. Es bleibt nichts davon, keine Wärme und kein Schmerz.

Mira

Draußen riecht die Luft anders, schwer und elektrisch. Die Straße glänzt feucht, obwohl es nicht geregnet hat. Vielleicht von der Hitze der Kapseln. Vielleicht bilde ich es mir auch einfach ein.

Im Vorgarten meiner Eltern spielt sich eine groteske Szene ab: Der Postbote steht wie versteinert vor unserem Briefkasten, ein Bein in der Luft, ein Brief halb aus seiner Hand gefallen. Neben ihm steht unsere Nachbarin Frau Gruber, regungslos, der Mund noch offen, als hinge ihr letzter Satz unvollendet in der Luft. Nur ihr Mops Hugo scheint nicht betroffen zu sein. Gefangen an seiner Leine bellt, zerrt und stemmt er sich gegen die Starre um ihn herum.

Mein Blick wandert zu Tom. Er steht vor der einer der Kapseln, bereit hineinzugehen. Das bunte Licht aus dem Inneren taucht seine schimmernde Gestalt in leuchtende Farben, fast wie flüssiges Metall. Wie ein Wesen, das längst nicht mehr hierher gehört. Und doch wartet er. Noch.

Vor der Haustür bleibe ich stehen, meine Eltern direkt hinter mir.Ihre Gesichter sind ernst, flehend, traurig. Ich fühle ihre Liebe, auch wenn sie kein Wort sagen. Sie ist wie eine Umarmung, die mich hält, und gleichzeitig weiß ich, dass ich sie nicht mitnehmen kann.

Tom dreht sich leicht. Er sieht mich nicht direkt an, aber ich weiß, dass er mich wahrnimmt, nicht aus alter Nähe, nicht aus dem, was einmal war. Das scheint bei ihm vollkommen verschwunden zu sein. Sondern weil ich eine Orvani bin, weil wir verbunden sind. Aber ich bin auch Velari. Nicht durch Geburt oder meine Form. Aber durch alles, was mich geprägt hat und durch alles, was mich hier hält.

Trotzdem drängt sich der Ruf der Orvani in den Vordergrund. Er ist stark, ruhig, aber fast unwiderstehlich. Sie rufen mich nicht mit Worten, sondern mit einer Macht, die keinen Widerstand kennt.

Aber ich kann nicht. Noch nicht. Vielleicht nie. Ich bin nicht bereit, meine Eltern einfach zurückzulassen. Nicht solange ich noch Liebe empfinde. Nicht nach allem, was ich in den letzten Minuten erfahren habe. So viele Fragen schwirren noch durch meinen Kopf. Und ich ahne, nein weiß, wenn ich jetzt gehe, werde ich keine Antworten mehr kriegen. Auf keinen Fall kann ich mitgehen. Aber ich kann auch nicht einfach der Anziehung meiner Artgenossen widerstehen.

Tom hebt den Fuß und betritt die Rampe. Nur noch ein Schritt. Nur ein Moment, dann würde er im Inneren der Kapsel verschwinden.

„Tom, warte.“ Der Rest verschwindet im Dröhnen der Kapsel.

3 Kommentare

  1. Interessante Geschichte, hat mir gut gefallen, obwohl ich eigentlich nicht auf science fiction stehe.
    Ich musste über die vielen hessischen "schs" der Sprecherin schmunzeln.

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  2. Toll, wie hier aus zwei Perspektiven erzählt wird und so eine starke Entwicklung / Veränderung in der Kürze bei Tom sichtbar wird. Auch der doppelte Twist mit den anderen Aliens, den Eltern, gefällt mir und wie sie knapp und treffend in ihren Eigenheiten beschrieben werden. Mira bleibt als nachdenkliches Kind dreier Welten zurück. Was für ein lustiger Zufall, dass in der folgenden Geschichte auch eine Mira und regenbogenfarbige Aliens mitmischen.

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  3. Der Schreibstil gefiel mir nicht so. Wie man sagt: "Show, don´t tell!"

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