DACSF2025_70

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Greys

Los Angeles, USA, 2018

Professor Philis erwachte langsam aus seinem Schlaf. Ein Telefon klingelte schrill. Im Dunkeln tastete Philis nach dem Schalter seiner Nachttischlampe. Dabei fiel ein Buch herunter. Das Licht flammte auf.

Blinzelnd schaute Professor Philis auf die Uhr neben seinem Bett.

„Hallo?“

„Professor Philis!“

„Was zum Teufel treibt dich dazu, mich mitten in der Nacht anzurufen? Ich hoffe, es gibt dafür eine gute Erklärung“, schimpfte Professor Philis in den Hörer.

„Ich bedaure die Störung, Chef. Wir haben vermutlich einen neuen Planeten entdeckt!“

„Ich komme vorbei, sobald ich umgezogen bin!“

Mit einem Mal war Professor Philis hellwach. Sein Blick fiel auf ein zerknittertes Blatt Papier mit einigen Notizen darauf, die er heute festgehalten hatte. Mit einer Erfolgsbilanz nach jahrelangem Absuchen des Weltalls nach einem neuen Planeten hätte Professor Philis nicht gerechnet. Wenn es stimmen würde, würden Veröffentlichungen und Bezuschussungen folgen. Gelder könnte man in die Anschaffung eines neuen Teleskopes investieren. Professor Philis saß inzwischen aufrecht in seinem Bett, erhob sich schwungvoll und ging hastig zu seinem Kleiderschrank.

„Musst du schon wieder so früh zu deiner Arbeit?“, meldete sich eine verschlafene Frauenstimme zu Wort. Sie gehörte zu seiner Ehefrau Katherine.

„Ein neuer Planet wurde entdeckt! Ist das nicht toll?“

„Wenn es kein Fehlalarm wie beim letzten Mal ist, dann ist es toll! Ich freue mich für dich mit, wenn sich herausstellt, dass wirklich ein neuer Planet entdeckt worden ist. Aber sei mir bitte nicht böse. Ich schlafe weiter.“

„Wenn wir wirklich einen neuen Planeten entdeckt haben, wirst es bald erfahren, Liebling!“

Seine Frau nickte und legte sich wieder zurück ins Bett. Als Philis Handy während seiner Fahrt zur

Sternwarte klingelte, reagierte Philis mit lautstarker Heiterkeit.

Irgendwo im unendlichen Weltall auf dem Planeten LHS 475b

A.Y. war jung, neugierig und befand sich in dem Lebensabschnitt, in dem für sie als Wissenschaftlerin der Greys noch alles möglich schien. Greys bezeichneten sich selber als eine hochintelligente Spezies im All. Allerdings waren sie auch ziemlich klein. Manche wurden kaum größer als 120 bis 150 Zentimeter. So wie alle Greys, besaß auch A.Y. nur vier Finger. Manchmal schimpfte A.Y. darüber, dass sie sehr lange brauchte, wenn sie Befehle in den Computer eingab. Doch heute freute sie sich. Ihre sonst tiefschwarzen, mandelförmigen Augen erschienen vor Freude fast kreisförmig. Sofern man bei Greys von Gefühlsregungen sprechen konnte. Im Allgemeinen waren sie eher gefühlskarg.

„Ich habe Signale von einem fremden Planeten empfangen!“, teilte A.Y. mit.

„Lass mal sehen!“

Ihr Kollege Yxonnixar sah angestrengt auf den Monitor.

„Der Absender scheint sich mit der Technologie auf einem noch recht primitiven Status zu befinden“, stellte Yxonnixar fest. „Die Nachricht hat viele Jahre gebraucht, um uns auf LHS 475 b zu erreichen.“

„Wie nennt sich der Planet, von dem die Nachricht stammt?“

„Erde.“

„Erde“, wiederholte Yxonnixar nachdenklich. Er sah blicklos auf den Monitor. Darauf erschien eine blaufarbene Kugel. Yxonnixar drückte einige Tasten auf der Armatur vor ihm. In Sekundenschnelle erschien eine Datentabelle in der Sprache der Greys.

„Die Atmosphäre scheint stabil zum Leben zu sein“, stellte Yxonnixar fest. „Ich schlage vor, dass wir noch einige Routineuntersuchungen durchführen, und dann ein Raumschiff mit Eiern losschicken.“

„Du willst den Planeten besiedeln?“

„Die Vermehrung unserer Rasse stand schon immer an erster Stelle!“, belehrte Yxonnixar. „Es interessiert den Codex von uns Wissenschaftler-Greys nicht, ob die Rasse, die auf dem Planeten lebt, unter der Verbreitung von uns Greys leiden wird oder nicht. Es gilt das Gesetz Der Stärkere überlebt.“

„Also senden wir Nachkömmlinge aus, sobald die Forschungen abgeschlossen sind, und sich ergibt, dass die Erde als neues Territorium in Frage kommt?“

„Genau diesen Plan verfolgen wir.“

USA, Alien- Highway in Nevada, 2019

Die Wüstenlandschaft Nevada bestach mit karger Schönheit. Der elfjährige Nicolas langweilte sich, als seine Eltern mit ihm durch die karge Landschaft fuhren.

„Wann sehen wir endlich etwas Spannendes?“, beschwerte sich Nicolas.

„Warte, bis wir in Rachel sind“, munterte ihn seine Mutter Amanda auf.

„Hoffentlich ist es dort nicht so öde!“

Vorerst fuhr die Familie stundenlang geradeaus. Der Highway, auf dem sie fuhren, schlängelte sich wie ein dünnes Band zwischen Wüste und Bergen, bis der graue Asphalt des Highways am Horizont zu verschwimmen schien. Auf dem ganzen Weg sah man nichts. Keine Menschenseele. Nicht einmal Kühe, Schweine oder Schafe. Irgendwann erreichte die Familie die kleine Ortschaft Rachel. Hier lebten 100 Einwohner.

„Und was gibt es hier zu sehen?“

„Das Restaurant The Little A'Le'Inn“, verkündete Amanda euphorisch. „Dort gibt es auch einen Souvenierladen.“

„Prima!“

Schon war Nicolas Laune wie ausgewechselt. Er konnte sich kaum satt sehen, an dem vielen Material für Ufo-Fans. Kaum verließ die Familie den Shop, kam Nicolas aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Ist das eine Art Showeinlage?", erkundigte sich Nicolas und zeigte irritiert auf einen hellen Punkt am Himmel, der zwar einem Flugobjekt ähnelte, jedoch flacher war, als alles andere, was Nicolas bisher in seinem Leben am Himmel beobachten konnte.

„Mich laust der Affe!“, schrie Nicolas mit einem Mal kreischend auf. „EIN ECHTES UFO!“

Louisiana-Metropole, New Orleans, USA, 2022

Nachrichtensprecher:„Verheerende Tornados sorgten für Verwüstungen in dem Stadteil Louisiana- Metropole in New Orleans. Ein Toter, sowie acht Verletzte wurden gemeldet. Die Explosion von Strom-Transformationen wurden gemeldet. Es ist mit Stromausfällen zu rechnen. Der Gouvaneur von Louisiana ruft den Notstand aus"

French Quarter, New Orleans, USA, 2025

Nachrichtensprecher:„In der Silvesternacht fuhr ein Mann mit einem Pick-up-Truck in New Orleans in eine Menschenmenge auf einem Bürgersteig hinein. Dies geschah im French Quarter, als viele Menschen unterwegs waren. Nach Angaben der Polizei raste der Mann mit großer Geschwindigkeit über mehrere Straßenblöcke entlang, bevor er in ein Baustellenfahrzeug fuhr. Es war kein Fall von Alkohol am Steuer. Bei der Gewalttat kamen 15 Menschen ums Leben und es gab 35 Verletzte. Nach der Fahrt muss der Täter einen Schusswechsel mit Polizisten geliefert haben. Rettungskräfte waren mit einem Großaufgebot vor Ort im Einsatz. Im Fahrzeug muss ein Sprengsatz gefunden worden sein! Bei Ermittlungen hat man herausgefunden, dass der Täter so viele Menschen töten wollte, wie möglich. "

USA, Mai, 2025

Nachrichtensprecher:„In New Orleans sind mehrere Männer aus einem Gefängnis ausgebrochen! Zehn Häftlinge entkamen. Die Geflohenen waren wegen schwerer Gewaltakte verklagt. Die Bevölkerung ist aufgerufen, wachsam zu sein, und sich den Tätern nicht zu nähern!“

USA, September 2025

Nachrichtensprecher:„Der Präsident hat nun auch der Touristenhochburg New Orleans mit einem Militäreinsatz gedroht. Er könne mithilfe des Militärs in New Orleans in circa zwei Wochen für Sicherheit sorgen und das Kriminalproblem lösen.“

St. Claude, New Orleans, USA, Januar 2026

Charles rang keuchend nach Atem. „Wenigstens bist du noch am Leben“, ging durch seinen Kopf.

„Michel!“, rief er seinem am Boden liegenden Bruder zu, der ihm helfen wollte, sich aufzurichten, jedoch in Panik wie gelähmt neben ihm stand. Michels angstvoller Blick klebte an Charles.

„LAUF!“

„Ich kann dich doch nicht einfach zurücklassen!“, kreischte Michel aufgebracht.

„Hör endlich auf deinen älteren Bruder und LAUF um dein Leben!“

Die nächsten Sekunden vergingen für Michel wie in Zeitlupe. Wie hypnotisiert starrte Michel auf die Schusswunde an Charles Bauch, aus der eine Blutfontäne auf den Boden lief. Das Blut färbte den Boden rot. Michel überkam das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Er hörte jemanden Rufen, doch der Schrei klang wie Watte in Michels Ohren. Als der Schrei seines Bruders zu ihm durchdring, war Michel mit einem Mal hellwach. Was sollte er tun? Seinem Bruder helfen? Oder vor dem Angreifer, der Charles vor wenigen Minuten mit der Pistole angeschossen hatte, fliehen? Verdammt! Michel war sich bewusst, dass eine falsche Entscheidung verheerende Folgen haben könnte. Vielleicht würden er und sein Bruder nicht lebend davon kommen? Ein zweiter Schuss fiel!

„CHARLES“

Innerhalb kürzester Zeit rann ein Blutschwall von dem leblosen Körper seines Bruders.

„Verabschiede dich von deinem Bruder“, hörte er die Stimme des Angreifers. Die Stimme war eiskalt und erschreckend nahe. Nun sah der Angreifer direkt in Michels Augen. Michel versuchte, sich so viel von dem Angreifer einzuprägen, wie möglich. Silhouettenhaft konnte er die blasse Haut wahrnehmen, die ihn an ein Gespenst erinnerte. Die weißen Haare und dunkelroten Pupillen ließen erahnen, dass es Michel mit einem Albino zu tun haben musste. Ein Albino in New Orleans kam selten vor. Was wollte er von Charles und ihm? Michel war zu jung, um zu verstehen, dass manche Viertel von New Orleans von Kriminalität beherrscht wurden. Woher sollte er es auch zu diesem Zeitpunkt wissen? Es wurde einem ja auch nicht gerade in der Schule mitgeteilt! Der Albino visierte Michel mit einem gefährlichen Feuer in seinen Augen an. Michel brach der Schweiß aus. Was passierte nun?

„Da ich heute gut gelaunt bin“, grinste der Albino „Gebe ich dir zehn Minuten. Wenn du zu langsam bist, werde ich ebenfalls eine Kugel in deinen Körper jagen.“

Der Albino machte schlechte Scherze? Oder etwa nicht? Doch die langsam auf Michel gerichtete Pistole ließ Michel erahnen, wie verfahren die Situation für ihn war.

„Die Zeit ist um!“

Die Waffe dröhnte! Michel spürte eine sengende Hitze in der Kniegegend, als ihn die Kugel traf. Der Schmerz riss ihn von den Füßen. Er fiel vornüber. Langsam rollte er sich auf die Seite. Der Albino legte die Pistole an Michels Kopf an. Michel schloss die Augen. In seinem Gehirn tobte ein Sturm aus Angst, Panik, Trauer, Wut. Er sah sich bereits im Jenseits. Sekunden fühlten sich wie eine Ewigkeit für ihn an! Er schauderte! „Gott“, dachte er in diesem Moment „Egal wie! Hilf mir!“

Der erwartete Schuss fiel nicht. Ein Klicken verriet ihm, das die Pistole leergeschossen war.

„Dein Glück, Junge!“ Der Albino lief davon. Als Michel an sich heruntersah, verfärbte sich seine Jeans rasch rot. Ein dichter Nebel aus Schmerz legte sich um ihn.

Michel streifte den blutigen Verband seines Knies ab. Auf seinem rechten Knie war eine hässliche Narbe zu sehen. Er war im Begriff das Bett zu verlassen, das in einem Krankenzimmer stand, als eine Gesundheitspflegerin das Zimmer betrat und ihn am Körper zurückdrückte.

„Die Wunde muss noch ausheilen. Das Bein sollte noch vor Belastung geschont werden!“

„Was mache ich hier?“, erkundigte sich Michel.

„Ein Passant fand dich im Upper 9th Ward. Er rief direkt den Krankenwagen.“

Ob es eine Art Kreislaufversagen war, konnte Michel nicht sagen, denn in diesem Moment wurde ihm leicht schwarz vor Augen. Während sich die deprimierende Finsternis um ihn ausbreitete, flammten Bilder von einer dunklen Gasse auf. Er sah sich, mit seinem Bruder in einer dunklen Gasse gehend, aber aus einer befremdenden Perspektive von oben, als sie ohne jede Vorwarnung Schüsse wahrnahmen. Als sich Michel umdrehte, um zusehen, woher die Schüsse kamen, sah er seinen Bruder neben ihn auf den Boden sinken. Die schmerzhafte Erinnerung riss ihn augenblicklich aus dem vernebelten Moment des Kreislaufversagens heraus. Michels Magen verkrümmte sich vor Schmerzen. Tränen liefen an Michels Wange herunter. Sein Herz raste.

„MEIN BRUDER! WAS IST MIT MEINEM BRUDER?“

„Bitte beruhige dich!“

Michel schluckte und sah die Gesundheitspflegerin herausfordernd an „Was ist mit meinem Bruder?“

„Der Krankenwagen fand zwei Personen. Dich und einen älteren Mann.“

„Das ist mein Bruder gewesen. Wo ist er?“

„Es tut mir leid, es dir mitteilen zu müssen. Ihr wurdet beide angeschossen. Der Schuss hat das Herz von deinem Bruder getroffen. Er hat nicht überlebt.“

„MEIN BRUDER! MEIN BRUDER! ICH WILL ZU MEINEM BRUDER!“

„Ich brauche zusätzliches Personal!“, schrie die Gesundheitspflegerin, während sie mit aller Kraft versuchte Michel davon abzuhalten, das Bett zu verlassen.

„Und einen Arzt mit einem Beruhigungsmittel. Ein Patient dreht gerade durch!“

Innerhalb von Sekundenbruchteilen stand eine weitere Gesundheitspflegerin neben Michel und hielt diesen ebenfalls mit aller Kraft fest. Ein Arzt erschien, zuckte eine Spritze, setzte sie an und leerte deren Inhalt in Michels Arm. Michel spürte, wie sich alles um ihn herum erneut vernebelte und fiel erneut in Schwärze.

St. Claude, New Orleans, mehrere Jahre später

„Kommst du dieses Wochenende wieder zum Gemeindehaus, Bro?“, fragte Carter, Michels bester Freund, in seinem spanischen Akzent. Carter und Michel kannten sich seit dem Kindergarten und besuchten die Senior Klasse der High School. Sie befanden sich in ihrem Abschlussjahr, welches entscheidend darüber sein würde, wie es in der beruflichen Zukunft der Schüler weitergehen würde.

„Was steht an?“

„Mit der Clique abhängen“, begann Carter aufzuzählen „Spass haben. Tanzen bis zum Umfallen. Heiße Chicas kennenlernen. Druck von den Prüfungsphasen ablassen. Nicht mehr und nicht weniger“

„Außerdem möchte ich dir jemanden vorstellen.“

„Eine heiße Chica?“, lachte Michel belanglos.

„Nein. Er heißt Brendon und kann dir bei deinem Problem mit dem Prüfungsdruck helfen. Du hast mir doch mal erzählt, dass du kaum schlafen kannst und deine Gedanken nicht sortieren kannst.“

„Ja, leider. Das ist in letzter Zeit immer schlimmer geworden“, seufzte Michel. „Ich kann es mir einfach nicht erklären, was mit mir los ist.“

„He, Bro“, munterte Carter Michel auf „Nimm es easier. Ich seh dich die meiste Zeit nur noch mit der Nase in Büchern hängen. So wird das nichts! Du brauchst auch mal eine Auszeit. Unterhalb der Woche wird gelernt. Am Wochenende heißt es dann, Inventursaufen und tanzen. Ich mache das bereits seit einem halben Jahr. Und sieht es schlecht für mich aus?“

„Nein, du bist ja auch einer der besten Schüler.“

„Dank dem Wunderzeug, das mir Brendon verkauft.“

„Was ist es?“

„Verrate ich dir erst einmal nicht. So wie ich dich kenne, stehst du dem Ganzen dann nur überbesorgt entgegen. Ich bin doch dein bester Freund, oder etwa nicht?“

„Klar!“

„Beste Freunde vertrauen sich doch untereinander?“

„Ja. Das tue ich, seit wir in den Kindergarten gehen.“

„Dann probier das gute Zeug einfach mal aus. Ich spendier dir die erste Runde. Wenn es dir gut tut, kannst du es problemlos bei Brendon nachbeordern. Bezahlen musst du dann wohl selber.“

„Find ich klasse von dir, dass du dich überhaupt mit meinem Problem auseinandersetzt. Dieses Gedanken-Hin und Her ist an manchen Tagen nicht auszuhalten. Manchmal kommt es mir so vor, als würde ich die Stimmen der Lehrer hören. Verrückt, nicht?“

„Du stehst einfach nur unter Prüfungsdruck, Bro. Chille mit der Clique am Wochenende ab, probier das Wundermittel, das alle von uns nehmen, und du wirst sehen, wie die Probleme verschwinden.“

„Gut. Einmal probieren kann ja nicht schaden.“

„Außerdem kommst du dann auch mal wieder aus deiner Bruchbude heraus. Nichts gegen dein Zuhause. Aber das Haus könnte mal rennoviert werden. Vor allem euer Keller. Der müffelt fürchterlich!“

„Seit dem Tod von meinem Bruder Charles hat sich mein Vater stark verändert. Er kommt damit einfach nicht klar. Er hat vor drei Jahren zur Flasche gegriffen. Den Job hat er auch verloren und hängt nur noch daheim herum. Mutter ist für alles alleine verantwortlich. Sie verdient zwar, aber es reicht gerade Mal bis zum Ende des Monats. Da sich Vater um nichts kümmert, obwohl er handwerklich fit ist, verfällt das Haus nach und nach. Ein Jammer, wenn du mich fragst.“

„Du leidest doch selber unter dem Tod deines Bruders, Bro“, erläuterte Carter. „Du hast dich seither sehr verändert. Ich bin froh, dass du dich überhaupt mit uns triffst. Anfangs wäre ja fast ein Einsiedler aus dir geworden, wenn du dem guten alten Carter nicht vertraut hättest und ab und an mit der Clique rausgegangen wärst. Das Gemeindehaus besuchen wir schon seit Jahren. Du warst noch nicht einmal dort. Fast die halbe Klasse hält sich dort auf. Du weißt gar nicht, was dir alles entgeht. Und wenn du erst einmal mit uns das Wunderzeug nimmst, bist du bei den anderen der King! Dann bist du voll angesagt.“

„Meinetwegen. Ich kann tatsächlich etwas brauchen, was mir hilft, etwas mehr Spass am Leben zu haben, und die Prüfungen leichter zu nehmen.“

„Du wirst nicht enttäuscht sein, Bro. Wir sehen uns am Samstag im Gemeindehaus. Aber erzähl erst einmal deinen Alten nichts von dem Zeug. Die stellen dann nur unnötige Fragen, die nicht sein müssen.“

Michel nahm Carters Rat an. Ein wenig Ablenkung, so dachte, er, konnte nicht schaden. Am Samstag verbrachte Michel viel Zeit damit, seine schwarzen Haare in Form zu bringen. Falls er durch Carter und die Clique Mädchen kennenlernen würde, wollte er beeindrucken. Ob Haarspray ausreichen würde? Wenn, dann müsste er welches kaufen. Das konnte er ja auf dem Weg zum Gemeindehaus erledigen.

Michel hatte die meiste Zeit seines Lebens in seinem Wohnquartier, dem Upper 9th Ward, verbracht. Lebte man lange genug in New Orleans, so wusste man, dass St. Claude als Upper 9th Ward bezeichnet wurde. Die amerikanische Stadt New Orleans hatte insgesamt 13 Bezirke und 72 Stadtteile. Darunter gab es ärmere, reichere und auch Viertel, die von einer hohen Kriminalitätsrate betroffen waren. St. Claude gehörte dazu. Als Kind hatte Michel noch keine Ahnung davon, wie es in manchen Straßen von New Orleans zuging, doch entwickelte er mit den Jahren ein Gespür dafür, in welchen Gegenden er besser auf der Hut war. Seit Hurrikan Katrina hatte sich das Bild von New Orleans zunehmend verändert. Manche Gegenden blieben von den Verwüstungen unberührt und in anderen waren die Folgen noch sichtbar. Die Straße, in der er mit seiner Familie lebte, blieb glücklicherweise von der Überschwemmung verschont, doch das Glück hatte längst nicht jedes Gebäude! Michel überkam jedes Mal ein Gefühl des Unwohlseins, als er an verlassenen Häuserreihen vorbeikam. Dann beschleunigte Michel seinen Gang, so, wie er es gerade tat. Für die gemeinsame Zeit mit seinen Freunden wollte er kein Gefühl des Trübsals mitbringen. Mit einem sturen Tunnelblick in eine Richtung gerichtet, war er froh, nachdem er die zerstörten Häuserreihen hinter sich lassen konnte. Zielgerichtet bog er um die Ecke und befand sich auf der Hauptstraße. Hier ging es schon viel lebendiger zu! Da der Großteil von New Orleans Bevölkerung aus Schwarzen bestand, war es schon auffällig, wenn jemand mit einer helleren Hautfarbe unterwegs war. Durchquerte Michel die Straßen, so fielen manchmal starrende Blicke auf ihn. Seine Hautfarbe war für einen Afroamerikaner heller, als man es gewohnt war. Mit elf hatte Michel den Grund für seine abweichende Hautfarbe bei seinen Eltern hinterfragt, doch keine eindeutige Antwort erhalten. Irgendwann war es Michel gewohnt, keine Antworten auf manche Fragen zu bekommen und fand sich damit ab, dass er etwas anders aussah als sein Umfeld.

„Schön, dich mal wieder zu sehen, Michel“, grüßte ihn Frau Miller. Frau Miller trug einen langen, blau schimmernden Rock und dazu passend ein Batik-T-Shirt. Sie führte einen kleinen Laden mit gemischten Waren zu fairen Preisen, den Michel seit Jahren aufsuchte.

„Ich hätte gerne Haarspray“, lächelte Michel. „Ich möchte meine Frisur etwas aufstylen. Wie viele Stunden hält dieses Spray?“

Frau Millers Miene hellte sich auf. „Wenn du nicht gerade in einen Regenschauer gerätst, hält es viele Stunden. Ich nehme mal an, du möchtest junge Damen beeindrucken?“

„Woher wissen Sie das?“

Frau Miller kicherte leise. „Nimm es mir nicht übel, Michel. Ich habe selber einen Sohn. Er benutzt das Spray auch. Knete es ordentlich in deine Haare, und richte sie damit hoch. Wenn du magst, kannst du das Hinterzimmer benutzen. Ich gehe mal davon aus, so schick, wie du angezogen bist, dass du es für heute brauchst?“

„Danke, Frau Miller!“

„Du kommst schon so lange in meinen Laden, da kann man einem treuen Kunden auch mal etwas Gutes tun.“

Michel knetete die Haare gut mit dem eingesprühten Spray durch und stellte sich im Anschluss kurz vor Frau Miller, die ihn prüfend betrachtete.

„Hevorragend, junger Mann! Ich hoffe, du hast einen angenehmen Abend.“

„Den werde ich haben. Bis demnächst, Frau Miller.“

„Du bist hier gerne jederzeit gesehen.“

Michel marschierte weiter die Avenue entlang. Hier und dort bewunderte er einige Graffitis, die auf vielen Häuserwänden zu sehen waren. Manche Bilder waren kleine Kunstwerke. Sie stellten Menschen oder Tiere wie Vögel dar. Leider gab es auch hässliche Kunstwerke, so Michels Meinung bei einem Bild, das einfach nur bizarr wirkte, weil sich zu viel Bilder überlappten. Manche Ladenbesitzer beschwerten sich über die Graffiti, doch wirklich etwas dagegen machen, konnte man nichts, wenn man die Täter nicht auf frischer Spur ertappte. Strafen konnten hoch ausfallen, konnten jedoch aufgrund von Armut nicht von jedem bezahlt werden. Darum war das Graffiti-Problem kaum in den Griff zu kriegen. Kunstvolle Bilder zogen jedoch auch Touristen an. So nahmen die Graffitis manche Ladenbesitzer wie Frau Miller in Kauf. Auf ihrem Laden wurden wenigstens farbenfrohe Papageien mit Palmen aufgebracht. Das Bild, was Michel gerade betrachtete, füllte eine ganze Hauswand aus. Ob der Künstler dafür bestellt worden ist?

„Betrachtest du Bilder, Bro?“, wurde Michel von Carter aus den Gedanken gerissen, der gerade zufällig in dieselbe Straße gebogen war, und Michel über den Weg lief.

„Jedes Mal“, gestand Michel. „Ich male doch auch gerne. Aber nicht so gut, wie dieser Maler.“

„Übung macht den Meister“, grinste Carter. „Deine Haare sehen übrigens gut aus, Bro. Gehen wir zusammen zum Gemeindehaus?“

„Klaro.“

„Ich kaufe wohl unterwegs noch einen Kasten Bier. Das ist für die Clique. Beteiligst du dich? Damit lässt es sich leichter feiern.“

„Ich steuer etwas hinzu.“

Die beiden Freunde suchten einen Supermarkt auf, in dem sie erst ihren Ausweis zeigen mussten. Michel hätte kein Bier bekommen. Dazu wäre er zu jung gewesen. Carter eigentlich auch, jedoch hatte er sich den Ausweis seines Zwillingsbruders geliehen. Sie sahen sich so zum Verwechseln ähnlich, so, dass er trotz Minderjährigkeit problemlos an Bier kam.

„Gerissen“, grinste Michel. „Es hat noch keiner bemerkt, dass der Ausweis deinem Bruder gehört?"

„Er leiht ihn mir ab und an. Praktisch, nicht? Bis heute nicht einmal aufgefallen, dass ich keine 21 Jahre alt bin. Bin mal gespannt, was du zu deinem ersten Bier sagst. Das wird Eindruck auf die Chicks machen.“

„Klingt ein vielversprechender Abend zu werden.“

„Hauptsache, du vergisst die Lernerei und entspannst dich mal, Bro.“

Kurze Zeit später erreichten Michel und Carter das Gemeindehaus. Der Zugang des Geländes wurde durch zwei veraltete, rostende Gittertore gebildet, die tagsüber offen waren und nachts zugezogen wurden. Hinter dem Toreingang befand sich eine heruntergekommene Halle, die, wie die meisten Gebäude mit Graffiti übersprüht war. Michel erkannte einige Klassenkameraden wieder, die auf umgestellten Paletten saßen, und Zigaretten rauchten. Michel wurde von vereinzelten Kameraden freundlich begrüßt, manche unterhielten sich mit ihm, und einer bot ihm eine Zigarette an. Michel lehnte diese ab. Das Gebäudeinnere wurde in mehrere Räume unterteilt. Carter erklärte Michel, dass es eine Diskothek, einen Aufenthalsraum, eine Spielhalle und einen Bereich für Streetdancer im anschließenden Außenhof gab. In dem Außenhof traten erfahrene Streetdancer in Einzelkämpfen gegeneinander an. Die Moves weckten das Interesse vieler Jugendliche, die einen Kreis um die performenden Tänzer bildeten und diese anfeuerten. Michel war schnell von der Atmosphäre begeistert, die seine Stimmung aufhellte. Eine halbe Stunde später traf er sich in einer hinteren Ecke der Diskothek mit seinen Freunden. Es waren drei Mädchen und vier weitere Jungs, die die Clique bildete. Für Carter und Michel hatte man zwei freie Plätze auf Paletten angeboten, bevor man sich wieder unterhielt. Dabei fiel Michel auf, dass Päckchen mit mehreren Pillen darin auf dem Tisch verteilt lagen.

„Das ist das Zeug, von dem ich dir erzählt habe“, lächelte Carter. Er griff nach einer Tüte und gab sie Michel. „Die schenke ich dir. Wenn du mehr haben willst, gehst du zu Brendon. Das ist der Typ mit der Totenkopfkappe dort hinten.“ Carter zeigte auf einen jungen Mann in schwarzer Lederkleidung, der eine auffällige Kappe mit einem Totenkopf trug.

„He! Brendon!“, schrie Carter zu Brendon herüber und winkte diesen euphorisch heran.

„Hi Carter!“, grüßte Brandon per Handschlag.

„Ich erzählte dir doch von Michel. Der möchte den Stoff auch mal probieren.“

Brandon lächelte zufrieden.

„Ich habe das Gratispäckchen bereits zu den anderen Päckchen gelegt. Genieß es. Wenn du mehr haben willst, such mich einfach auf. Du findest mich im Gemeindehaus. Euch anderen noch einen schönen Abend.“

Vorsichtig nahm Michel das Tütchen, das ihm Carter gegeben hatte.

„Eine reicht am Anfang pro Tag. Danach kannst du nach Bedarf steigern“, erklärte eines der Mädels , das Mandy hieß.

Zuerst zögerte Michel noch, ob er die Pillen, über die er nicht viel wusste, überhaupt nehmen sollte. Doch da alle um ihm herum Pillen nahmen, und Bier tranken, schloss er sich dem Umfeld an. Kaum hatte er die Pille geschluckt, wurde es warm in ihm. Nicht verglichen mit der Wärme, die er damals bei dem Blutverlust gespürt hatte. Es war ein ihm völlig neues Wärmegefühl. Gleichzeitig kribbelte es in ihm. Er verspürte Lebensdrang. Heiterkeit. Leichtigkeit. „Klasse“, dachte Michel. Genau das Gefühl hatte ihm im Leben gefehlt. Die Zeit verging und es folgten einige Flaschen Bier. Später fand sich Michel auf der Tanzfläche wieder. Er wusste nicht, was er tat, da alles mechanisch ablief, doch es fühlte sich einfach nur gut an. Wie krass seine Freunde beim Tanzen abgingen! Sie hüpften, johlten und benahmen sich wie jüngere Teenager! Im Kreise dieser Freunde feierte Michel ab, bis er irgendwann umkippte. Ihm wurde schwarz vor Augen.

Michel wachte am nächsten Morgen völlig verwirrt zuhause auf. Er hatte das Gefühl, dass alles um ihn herum auf dem Kopf stand. Das war die Nachwirkung der eingeworfenen Drogen und des konsumierten Alkohols. Je wacher Michel wurde, desto mehr bemerkte er, dass sein Zimmer wie sonst aussah. Es bestand aus einfachen Holzwänden, da die meisten Häuser in den USA Holzbauten waren. Viele Möbel befanden sich nicht in dem Zimmer, da die Familie nicht gerade wohlhabend war. Das Geld reichte für einen einzigen, jämmerlichen Holzschrank, einem Bett aus Holz und einem Schreibtisch aus Holz.

Die Bücher, die Michels Regal bestückten, konnte man an zwei Händen abzählen. An Lernerei wollte Michel heute nicht denken! Dazu fühlte er sich nicht in der Lage! Michel lag auf dem Bett, stützte den Kopf in die Hände, und stöhnte.

„Na toll“, dachte Michel und warf eine von den Pillen, die er noch übrig hatte, ein, ohne darüber nachzudenken, dass es die Pillen waren, die die Kopfschmerzen und den Drehschwindel herbeigeführt hatten. Da war es wieder! Das Gefühl der Leichtigkeit! Genau das wollte Michel empfinden. Weg mit diesen Gedanken an Lernerei und Prüfungsstress! Das Leben war durch diese kleinen Pillen so viel schöner und bunter. Wenn er die Pillen nur früher gehabt hätte! Michel warf einen überprüfenden Blick in die Tüte. Viele waren nicht mehr da. Er brauchte Nachschub! Dummerweise hatte er vergessen, danach zu fragen, wie teuer die Pillen waren. Für einige Stunden würde die aufheiternde Wirkung bestimmt anhalten. Aber was, wenn die Pillen aufgebraucht waren? Würde er sich dann wieder so schwermütig fühlen? Dazu hatte Michel einfach keine Lust. Er wollte an dem heiteren, unbefangenen Gefühl festhalten.

Alea iacta est. Die Entscheidung war gefallen! Er würde das Gemeindehaus noch heute aufsuchen und hoffte, dass er Brendon dort antraf und ihm die Pillen verkaufen würde. Entschlossen holte Michel sein Portemonnaie aus dem Schrank. In Windeseile zählte er die klägliche Anzahl von Münzen. Ob die Summe ausreichte? Vorsichtig schlich er die Treppe in den ersten Stock herunter. Seine Eltern schliefen für gewöhnlich am Wochenende immer länger, weswegen er davon ausging, dass er niemanden antreffen würde, wenn er das Portemonnaie seiner Mutter durchsuchen würde, das sich in ihrer Tasche an der Garderobe im Flur befand.

„Du kannst doch nicht deine eigene Mutter bestehlen“, plagte Michel einerseits das Kopfkino von schlechtem Gewissen, doch andererseits war das Verlangen nach den bunten Gute Laune Pillen einfach zu groß. Schon landeten zwei Dollarscheine in seiner Hosentasche. Keine Stunde später befand sich Michel auf der Suche nach Brendon im Gemeindezentrum.

Erleichterung stieg in Michel auf, als er die schwarze Kappe mit dem Totenkopf wiedererkannte. Schnell war der Kauf der neuen Pillen verhandelt. Das Problem war nur, dass die Menge gerade Mal für zwei Wochen ausreichen würde. Was dann? Montags überlegte Michel zusammen mit Carter, wie er an neue Pillen kommen könnte.

„Wie bist du denn eigentlich dieses Mal daran gekommen?“, erkundigte sich Carter, wobei Michel Carters durchbohrenden Blick geradezu spüren konnte.

„Ich habe es mir von meiner Mutter geborgt.“

„Geborgt?“

„Ja, geborgt! Hast du ein Problem damit?“

Michels sonst so freundlicher Tonfall wechselte zu einer Mischung aus Streit und Zickerei.

„Eh, reg dich nicht auf, Bro. Alles gut. Manchmal nimmt Brendon vertrauenswürdige Leute als Dealer hinzu.“

„Was meinst du mit Dealer? Was macht man da?“

„Wenn ich für dich bürge, dann kannst du ihm helfen, die Pillen zu verkaufen. Es ist nichts dahinter. Du darfst dich nur nicht von der Polizei erwischen lassen. Geb den Leuten, denen du die Pillen verkaufst einfach nur nie deinen echten Namen mit. Und keine Nummern oder Adressen herausgeben. Du machst einen Treffpunkt und eine Zeit mit dem Käufer aus, du bekommst von dem Käufer das Geld, und der Käufer die Pillen. So einfach läuft das Geschäft.“

„Machst du das auch?“

„Was meinst du, wie ich mir manche Extras finanziere? Aber kein Wort zu niemanden. Das geht nur uns beide etwas an. Da kann ich mich doch auf dich verlassen, oder?“

„Ich bin doch keine Petze!“

„Gut. Ich rede mit Brendon und sage dir diese Woche Bescheid, was Sache ist.“

Seit Michel unter die Drogen Dealer gegangen war, war inzwischen ein halbes Jahr vergangen. Das Jugendzentrum aufzusuchen, wurde zu einem wöchentlichen Wochenendritual. Darüber verringerte sich die Zeit zum Lernen. Die Schulnoten sanken in den Keller. Es gab Streit mit seinen Eltern. Sie verstanden nicht, warum sich Michel negativ veränder hatte.

„Wenn du weiterhin jedes Wochenende deine wertvolle Zeit mit Partys verschwendest, statt zu lernen“, schimpfte sein Vater Greg an einem Abend „dann wirst du den High School Abschluss nicht schaffen.“

„Na und?“, antwortete Michel gereizt. Der Abschuss interessierte ihn schon länger nicht mehr. Schließlich verdiente er bereits sein Geld und das Geschäft lief gut. „Außerdem lasse ich mir von dir nichts sagen. Du hängst selber an der Flasche.“

„Das haben wir nun davon!“, schimpfte sein Vater. „Wir adoptieren dich, ziehen dich groß und du nimmst nicht einmal einen Ratschlag an!“

„Ich bin adoptiert? Warum habt ihr mir davon nie etwas erzählt? Woher komme ich? Wer bin ich? Wer sind meine richtigen Eltern? Warum haben die sich nicht mit mir in Verbindung gesetzt? Wollten die mich nie sehen?“

Tausende Fragen schossen durch Michels Kopf. Die neue Erkenntnis über ihn quälte ihn geradezu. Unsicherheit machte sich in ihn breit, ob er die Fragen jemals beantwortet bekommen würde.

„Ich kann dir nicht sagen, warum dich deine Eltern zur Adoption freigegeben haben. Du warst noch ein Baby und wir konnten kein zweites Kind mehr kriegen. Dann haben wir dich einfach adoptiert. Ist doch egal, woher du kommst. Wir haben dich wie einen eigenen Sohn großgezogen. Nach dem Tod von deinem Bruder bist du alles, was uns geblieben bist.“

„Ihr habt den Tod genauso wenig verkraftet wie ich! Vielleicht hättet ihr mir am besten schon früher erzählt, dass ich nicht euer eigener Sohn bin. Dann hätte ich es wenigstens gewusst!“

„Was macht das aus?", tobte Michels Vater. Er warf mit einer Bierflasche nach Michel.

„Viel. Und das geht zu weit. Ich will euch nie wiedersehen.“

„WAS HAST DU VOR?“

„Ich packe meine Sachen und verschwinde. Hauptsache weg von euch!“, brüllte Michel.

„Wenn du dieses Haus verlässt, brauchst du nie wiederkommen!“

„Ich komme auch gut ohne euch klar!“

„Michel“, flehte seine Mutter Amanda verzweifelt „Überleg es dir. Mach jetzt bitte keine Dummheiten.“

„Ich habe mich bereits entschieden. Ich gehe. Euch kann doch egal sein, was mit mir ist. Ihr seid eh nicht meine richtigen Eltern.“

Eine Ohrfeige folgte. Michel blickte seinen Vater entsetzt an. Dann stürzte er auf sein Zimmer, packte flink seine wenigen Kleidungsstücke zusammen und hastete aus dem Haus, ohne seinen Adoptiveltern ein Wort des Abschieds entgegenzubringen.

Gemeindezentrum, St. Claude, New Orleans, ein weiteres Jahr später

Ein abgemagerter, mit zerfetzten Hosen, im Gesicht ausgezehrter, junger Mann lag auf einer Matratze im Zweitgebäude des Gemeindezentrums. Es durfte nur von Mitarbeitern von Brendon benutzt werden. Nach dem Auszug hatte Michel verzweifelt bei Brendon nachgefragt, ob er vielleicht helfen konnte, wo Michel für längere Zeit übernachten konnte. Brendon bot ihm den Schlafsaal im Zweitgebäude des Gemeindezentrums als Unterkunft an, den er sich jedoch mit anderen teilen musste. Anfangs war es ungewohnt mit fremden Leuten auf engem Raum leben zu müssen, doch mit der Zeit machte sich das Gefühl der Bedeutungslosigkeit in Michel breit. Das Verlangen nach Drogen wurde stärker, so, dass er zu stärkeren Drogen wechselte. Was er nahm, interessierte ihn nicht. Hauptsache er fühlte sich leicht! Den Schulabschluss nicht geschafft zu haben, scherte ihn nicht. Auch kümmerte es ihn nicht, dass sich seine Hautfarbe in einen grauen Farbton veränderte. Seinen immer zunehmenden verkümmerten Mund nahm er zwar wahr, doch bei seinem einzigen Arztbesuch, kam nur heraus, dass das Nachwirkungen von Drogen sein könnten, die über sein Blutbild nachgewiesen wurden. Michel lehnte eine empfohlene Drogenberatung ab.

Bei einer späteren Auseinandersetzung mit einem anderen Drogenabhängigen kam es zu einer Messerstecherei! Michel, aus dessen Körper schwarzes Blut ausströmte, schrie bei dem Anblick des seltsamen Blutes in Panik auf.

„Was passiert mit mir?“

Der Angreifer ließ von ihm aus Irritation ab.

Im Gemeindezentrum versuchte Michel das schwarze Blut abzuwaschen, doch es klebte fürchterlich an ihm. Ein modriger Gestank nach alten Motten stieg in Michels Nase. Doch was er im Spiegel sah, übertraf alles. Ihm sahen zwei pechschwarze, mandelförmige Augen entgegen, eine grauschwarze Hautfarbe, die den ganzen Körper überzog und ein Kopf, der während er zusah, wuchs. Was passierte mit ihm? Ein Kribbeln in seinen Händen zog seinen Blick auf seine Hände. Wo war der fünfte Finger? Michel verstand die Welt nicht mehr. Wie in Trance, nicht weiter über irgendetwas nachdenken wollend, suchte Michel die Kirche auf, die sich in der Nähe befand. Stufe für Stufe führte im Inneren des alten Kirchturms eine Treppe hinauf. Auf dem allerletzten Treppenabsatz sah er ein großes Fenster. Das Gesims ging ihm kaum bis zum Knie. Mit einer Hand öffnete er den Fensterflügel, mit der anderen hievte sich Michel auf den Sims. Die frische Luft wehte über seine Stirn. Ihm war jetzt ganz klar, was er wollte. Von hier oben aus sah er über die Dächer von New Orleans. Michel breitete die Arme aus und sprang. Mit einem Mal war alles still in ihm. ENDE

1 Kommentare

  1. Diese Geschichte hat mich gleich zu Anfang in ihren Bann gezogen. Sie startet dynamisch und bleibt durchwegs äußerst spannend. Die verschiedenen Ereignisse aus den Nachrichten haben zwar - zumindest auf den ersten Blick - keinen Bezug zum Grundthema, aber erhöhen die Spannung ungemein. Die Szene, wo der ältere Bruder von Michel, Charles, ums Leben kommt, hat mich gepackt. Als Carter, Michels Freund ins Spiel kam, hatte ich gleich ein ungutes Gefühl - Wunderpillen! Was wird das wohl sein!!!
    Das Ende ist tragisch. Trotzdem passt es und macht die Geschichte rund. Hat mir wirklich sehr gut gefallen.
    Im Text gibt es auch einige Fehler. Manche Widersprüche sind so krass, dass ich lachen musste. Ich zähle einige auf:
    "... rief seinem am Boden liegenden Bruder zu, der ihm helfen wollte, sich aufzurichten, jedoch in Panik wie gelähmt neben ihm stand." Das hat mich an die Kamelle aus der Schulzeit erinnert "Dunkel war's, der Mond schien helle, als ein Wagen blitzesschnelle langsam um die runde Ecke fuhr, usw.".
    Dann sagt Carter in einem Satz zu Michel "Kommst du wieder zum Gemeindehaus?", dabei heisst es weiter oben (auch Carter zu Michel) "Das Gemeindehaus besuchen wir schon seit Jahren. Du warst noch nicht einmal dort."
    Und Michel und Carter kaufen Bier. Da sie beide noch minderjährig sind, zeigt Carter den Ausweis, denn er sich von seinem Zwillingsbruder geliehen hat. Hallo!!! Der Bruder ist ein Zwillingsbruder, weil er an haargenau dem gleichen Tag geboren wurde. Da hilft der Ausweis gar nichts.
    Dabei will ich es belassen. Die Geschichte ist gut und über die Widersprüche habe ich mich köstlich amüsiert.

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