Was geht mich das an
Was würdest du hergeben, wenn du damit einen geliebten Menschen wieder lebendig machen könntest?
Ich hätte alles hergegeben – und noch mehr.
Der Tag, an dem mein Opa starb, war der letzte meiner Kindheit. Es fühlte sich wie der letzte Tag meines Lebens an. Nie mehr sein erstauntes Gesicht sehen, wenn ich ihn besuchte – er machte immer ein erstauntes Gesicht, auch wenn er wusste, dass ich kommen würde –, nie mehr seinen Geruch wahrnehmen (ein Gemisch aus Essen, Pfeifenrauch und Mief), nie mehr mit ihm auf der Bank vor seinem Häuschen schweigen. Dieses ‚nie mehr‘ konnte nicht sein, andere sollten es denken, aber nicht ich, es war undenkbar.
Als mein Vater uns die traurige Nachricht überbrachte, saßen meine Mutter, meine Schwester und ich am Tisch. Ich hatte ihn noch nie so alt gesehen, und so klein. Mein Opa, sein Vater, war gestorben, und das Erste, was er sagte, war: „Wenn die eigenen Eltern tot sind, dann beginnt ein anderes Leben.“
Aber wie konnte ein anderes Leben beginnen, wenn dieses Leben gerade in mir gestorben war? Ich weiß nicht mehr, wie ich aufsprang und rausrannte und was meine Mutter mir hinterherrief. Ich erinnere mich daran, wie ich mit meinem Fahrrad durch den Wald die Bühler Höhe hochjagte. Die Augen voller Tränen und mit jeder Kurbelumdrehung ein Wort wiederholend: „Nein, nein, nein …“ Immer das Bild von Opa vor Augen, wie er brummend lachte, mir die Hand auf die Schulter legte oder eine Birne mit seinem Taschenmesser schälte, um sie mir verschmitzt zu geben: „Das ist Eis am Stiel.“
Es dämmerte, als ich auf der Kuppe ankam, die den Wald überragte und einen weiten Blick über die Stadt freigab. Dort warf ich mich heiser und verschwitzt auf meine Bank.
„Jeder braucht eine Bank“, sagte Opa, wenn wir vor seinem Haus saßen und auf die Obstbäume schauten. Ich konnte ihm alles erzählen, und er hatte mir schweigend zugehört. Ich liebte meine Eltern, aber mit Opa war es anders. Mit 15 Jahren war ich anders, und mein Opa verstand das.
Es war dunkel, als ich mich aufrichtete und mir mit dem Ärmel über das Gesicht wischte. Ich war allein. Auf dem Weg war mir niemand begegnet. Hatte ich überhaupt etwas gesehen? Das leise Rauschen der Stadt mischte sich mit dem Flüstern der Bäume. Meine Brust schmerzte. Am klaren Nachthimmel schienen die ersten Sterne und ich erkannte Sternzeichen, mit denen mich Opa vertraut gemacht hatte. Der große Wagen, der Orion und dazwischen die helle Venus. Ich starrte sie an, bis alles vor meinen Augen verschwamm. Dann sprang ich auf und hielt den Sternen meine Faust entgegen. „Euch ALLE würde ich hergeben!“, schrie ich.
Ich weiß nicht, wie lange ich auf diese Weise tobte. Irgendwann war der Himmel voller Sterne und in mir alles leer. Ich tastete nach dem Fahrrad, das ich ins Gras geworfen hatte und erinnerte mich, dass die Lampe kaputt war. Ich schrie wieder und trat in blinder Wut um mich. Als mein Schienbein die Bank traf, ging ich zu Boden. Der Schmerz war glühend heiß; er war mir willkommen. Auf einmal kamen mir meine Eltern in den Sinn, die sich Sorgen um mich machten. Ich brauchte lange, um den Rückweg in der Dunkelheit zu finden, einzig begleitet vom schwachen Sternenlicht.
Als ich in die Straße zum Haus einbog, kam mir mein Vater entgegengelaufen. Im grellen Licht der Laterne sah ich sein bekümmertes Gesicht, und mir fiel zum ersten Mal die Ähnlichkeit zwischen ihm und Opa auf. Er nahm mich still in die Arme und wir weinten leise.
Nach der Beerdigung wurde Opas Haus entrümpelt und verkauft. Ich weigerte mich auch nur einen Blick darauf zu werfen und schloss mich oft in meinem Zimmer ein. Wenn meine Mutter ansetzte, mich aufzumuntern, legte mein Vater seine Hand auf ihren Arm, wofür ich dankbar war. Die Trauer meiner älteren Schwester dauerte nicht lange, sie zog aus und ging ihrem Beruf nach, während die Schule mir zur Qual wurde. Meine Leistungen ließen nach und ich wurde zum Einzelgänger.
Der Mai war ungewöhnlich warm und der Gesang der Vögel drang durch die offenen Fenster – alles war mir gleichgültig. Ich war allein im Haus, als es an der Tür klingelte. Ich öffnete und bereute sofort, dass ich nicht die Sprechanlage benutzt hatte. Vor mir standen eine Frau und ein Mann, beide mit einem Lächeln im Gesicht. Irgendwie sahen sie einander ähnlich. Sie trugen die gleichen Klamotten, einen leichten silbergrauen Mantel und ebenso graue Hosen. Und hatte das Haar nicht auch diese Farbe? Typisch Sektenmitglieder, dachte ich und schloss die Tür bis auf einen Spalt. Sie behielten ihr Lächeln und schwiegen, was mich ärgerte.
„Was wollen Sie?“, kiekste ich, was mich noch mehr ärgerte, denn ich war seit dem Stimmbruch stolz auf meine Stimmlage. Ich riss die Tür weit auf und stellte mich breit in den Rahmen.
„Wir möchten mit dir sprechen“, sagte die Frau, die ihr Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte.
„Kein Bedarf“, sagte ich unfreundlich und war froh, dass ich das mit meinem dröhnenden Bass hinbekommen hatte. Ich wollte ihnen die Tür vor der Nase zuknallen, aber das tat ich dann doch nicht. Bevor ihre Gesichter – immer noch lächelnd - hinter der Tür verschwanden, vernahm ich ein seltsames Geräusch, das mich erstarren ließ. Es klang, als würde ein Nagel über ein rostiges Blech kratzen. Hastig schloss ich die Tür und drehte den Schlüssel zweimal um.
Ich erzählte meinen Eltern nichts davon. Nicht, weil ich es vergessen hatte, sondern – und das irritierte mich – weil ich es nicht vergessen konnte. Besonders dieses Geräusch, das in meinen Ohren unangenehm geklungen, aber so angenehm in mir gewirkt hatte, beunruhigte mich. Ich wollte es noch einmal hören, hatte aber zugleich Angst davor.
In den nächsten Tagen hatte ich andere Probleme. Meine Versetzung war gefährdet und die Matheprüfungen würden darüber entscheiden, ob ich eine Ehrenrunde drehen musste. Der Gedanke war mir unerträglich.
Auf dem Weg zur Schule wäre ich fast in ein Paar gelaufen – ich hatte mir angewöhnt, die Gehwegplatten zu zählen. Im letzten Augenblick erkannte ich den Mann und die Frau. Ich hörte wieder dieses Geräusch von kreischendem Metall. Ein Gefühl überflutete mich, als läge ich mit Gänsehaut im warmen Wasser.
„Timotheus, wir müssen mit dir sprechen.“
Ich zuckte zusammen. Niemand nannte mich Timotheus, nicht mal meine Eltern, die mir diesen bescheuerten Namen verpasst hatten.
„Bevor es zu spät ist“, sagte der Mann.
Wenn die doch endlich mit diesem scheiß Lächeln aufhören würden.
„Es ist nie zu spät“, zitierte ich den Lieblingsspruch meines Vaters und rannte davon.
Zuhause erzählte ich wieder nichts von der Begegnung. Stattdessen wollten meine Eltern mit mir reden. Wie es mir ginge, ob ich Freunde hätte und so weiter. Sie machten sich wirklich Sorgen um mich.
Nachdem die Grauen – ich nannte sie so nach den grauen Gestalten aus einem Kinderbuch – immer wieder auftauchten, fing ich auch an, mir Sorgen zu machen. Auf dem Heimweg, beim Einkaufen, selbst im Fußballstadion in der Fankurve, sah ich sie und traute mich nicht, meinen Vater auf sie aufmerksam zu machen.
Apropos Aufmerksamkeit. Meine Eltern versuchten alles Mögliche, um meine Stimmung zu heben und manchmal gelang ihnen das auch. Bis zu dem Tag, als die Grauen auf dem Schulhof auftauchten. Ich stand abseits und aß mein Pausenbrot, und da waren sie, mitten auf dem Schulhof. Zuerst wollte ich einen Lehrer holen, aber dann entschied ich mich, die Sache ein für alle Mal zu klären.
Ich glaube, ich war noch nie so wütend. Ich drohte ihnen mit allem, was mir in den Sinn kam. Zuletzt schrie ich ihnen ins Gesicht, sie sollten sich verpissen. Dabei hatte ich nicht gemerkt, wie sich eine Traube Schüler hinter mir gebildet hatte. Wenigstens lächelten die Grauen nicht mehr, aber danach gingen sie mir nicht mehr aus dem Kopf.
Eines Tages, als meine Mutter mein Lieblingsessen kochte – Spaghetti, was sonst – räusperte sich mein Vater, was mich sofort in Alarm versetzte.
„Tim, wir müssen etwas besprechen.“
Ich ließ die Gabel sinken. Meine Eltern verwandelten sich in graue Gestalten. Ich schloss meine Augen und schüttelte den Kopf. Sofort spürte ich die Hand meiner Mutter. „Geht es dir nicht gut?“
Ich zwang mir ein Lächeln auf. „Mir ist etwas in die Augen gekommen.“
„Wir haben uns überlegt, diesen Sommer ausgiebig Urlaub zu machen“, fuhr mein Vater fort. „Irgendwo in Italien am Strand.“
Italien? Am Strand? Wo er doch den Strandrummel hasste.
„Einmal richtig abschalten in schöner Umgebung“, sagte meine Mutter.
Manchmal hatte ich das Gefühl, dass meine Eltern die letzten drei Jahre verdrängten. Es gab keinen Grund, mich wie einen Zwölfjährigen zu behandeln. Ich war satt und müde; also lächelte ich und spielte mit.
In dieser Nacht fragte ich mich, ob ich die Grauen im Urlaub abhängen könnte.
Der Italienurlaub erfüllte seinen Zweck, zumindest in den ersten zwei Wochen. Ich tat nicht viel mehr, als am Strand zu liegen, die heiße Sonne hinter den Augenlidern zu spüren und zur Abkühlung ins warme Meer zu springen, und ich habe noch nie so viel Spaghetti gegessen.
Ich lernte Ludwig kennen, einen gleichaltrigen Jungen aus Deutschland. Wir blödelten die meiste Zeit rum und schauten verstohlen den Mädchen hinterher. Nicht nur mir tat die Abwechslung gut, auch meinen Eltern war anzusehen, dass sie die Zeit genossen. Mein Vater kam sogar ab und zu mit an den Strand und ich versuchte ihn zu einem Bad im Meer zu überreden, aber das war nicht seine Sache.
In der dritten Woche sah ich sie wieder. Ich war kurz im Liegestuhl eingenickt und glaubte erst zu träumen, als ich mit den Augen blinzelte und sie auf dem Strand stehen sah. Mitten zwischen braun gebrannten Urlaubern, die um sie herumliefen, Ball spielten oder sich ins Meer stürzten. Sie hatten die gleichen Mäntel an, obwohl das Thermometer über dreißig Grad zeigte, standen unbewegt da und schauten in meine Richtung. Trotz der Hitze lief mir ein Schauer über den Rücken und gleichzeitig stieg diese Wut in mir auf, die ich schon auf dem Schulhof verspürt hatte. Ohne nachzudenken, ging ich auf sie zu, um dem Ganzen ein Ende zu setzen. Aber etwas hatte sich verändert. Das Lächeln, das mich an ihnen so genervt hatte, war verschwunden und ihre Gesichter wirkten ernst. Mir fielen ihre Augen auf, die einen ähnlich silbrigen Glanz hatten wie ihre Kleidung.
„Lasst mich in Ruhe“, war alles, was ich herausbrachte. Meine Stimme zitterte vor Wut und am liebsten hätte ich meine Hände um ihre Hälse gelegt.
„Wir müssen mit dir reden“, sagten sie ganz ruhig.
„ICH WILL NICHT MIT EUCH REDEN“, brüllte ich. Es war mir egal, dass um mich herum die Leute erstarrten und zurückwichen.
„ICH WILL EUCH NIE WIEDER SEHEN, ODER ICH WERDE … “ Meine Stimme überschlug sich und ich weiß nicht mehr, was ich alles noch schrie. Aus einem Liegestuhl starrte mich Ludwig entsetzt an. Ich raffte meine Sachen zusammen und lief ins Hotel. Als meine Eltern von ihrem Ausflug zurückkamen, hatte ich schon meinen Koffer gepackt.
„Ich will nach Hause“, sagte ich nur, und ich musste so verstört ausgesehen haben, dass wir noch am selben Tag zurückfuhren. Auf der Fahrt sprach ich kein Wort und zwischendurch musste ich weinen. Wenn ich nirgendwo vor den Grauen sicher war, dann wollte ich ihnen lieber in vertrauter Umgebung begegnen.
Zuhause angekommen, schloss ich mich in mein Zimmer ein und schlief bis in den Mittag. Da wir den Urlaub abgebrochen hatten, war mein Vater noch nicht auf der Arbeit und saß in der Küche. Sein schütteres Haar war zerzaust und auf der Stirn sah ich Falten, die ich nicht kannte. Er wies mit der Hand auf einen Stuhl. Mit schlechtem Gewissen setzte ich mich ihm gegenüber. Wahrscheinlich hatte er gehofft, dass ich etwas sagen würde, aber ich schwieg. Und zum ersten Mal sagte mein Vater einen wichtigen Satz, ohne sich vorher zu räuspern: „Du brauchst Hilfe.“
Ich sah ihn an und nickte stumm.
Dr. Rosenberg hatte seine Praxis am Ende der Stadt im dritten Stock eines alten Gebäudes. Ich fuhr jedes Mal mit dem Fahrrad dorthin, auch wenn es regnete. Meiner Mutter gefiel das nicht, aber ich lehnte ihr Angebot stets ab, mich fahren zu lassen. Die Praxis war einfach eingerichtet und Dr. Rosenberg hatte immer die gleiche hellbraune Weste an. Die ersten Male tat es mir gut, alles zu erzählen, ohne schiefe Blicke zu erhalten. Aber dann fing er an, in meiner Kindheit zu bohren und über den Tod meines Großvaters Fragen zu stellen. Opa und ich waren ein Team gewesen, das ohne viele Worte auskam, und ich wollte mir diese Erinnerungen nicht verderben lassen.
Nach der fünften Sitzung rannte ich schlecht gelaunt das Treppenhaus hinunter und blieb an der Haustür stehen. Durch das vergitterte Glas sah ich auf der anderen Straßenseite die Grauen. Eine Zeitlang wusste ich nicht, was ich tun sollte. Dann rannte ich die Treppe wieder hoch in die Praxis und platzte in das Behandlungszimmer. Dr. Rosenberg saß im Raum mit einer Patientin, aber ich stürzte zum Fenster.
„Da stehen sie! Sie sind wieder da!“
Der Psychiater stellte sich neben mich und lehnte sich vor. Sein Gesicht zeigte keine Regung. „Wir sprechen das nächste Mal darüber, jetzt bitte ich Sie die Praxis zu verlassen.“
Ich ging die Treppe hinunter. Durch die Tür. Über die Straße. Die Grauen erwarteten mich.
„Morgen Abend. Sechs Uhr. Auf dem Friedhof, am Grab von meinem Großvater“, sagte ich zu ihnen und drehte mich um.
In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Würden die Grauen kommen? Was, wenn nicht? Ich dachte mir einen Plan aus.
Es war schwül-heiß, als ich mit dem Fahrrad zum Friedhof fuhr; drei Sätze in meinem Kopf: „Wer seid Ihr? Was wollt Ihr von mir? Verschwindet!“
Das Grab von Opa lag am westlichen Rand des Friedhofs, direkt am Zaun. Ich ließ mein Fahrrad stehen und ging von hinten über eine Wiese auf den Friedhof zu. Durch den Maschendraht konnte ich sie schon hinter einer hüfthohen Hecke sehen. Sie waren mir zugewandt, als hätten sie mich aus dieser Richtung erwartet.
„Wer seid Ihr?“, krächzte ich, noch bevor ich den Zaun erreichte.
„Wir sind deine Eltern.“
Es dauerte, bis die Worte meinen Verstand erreichten. Dann musste ich lachen. Die Vögel flogen aus den Bäumen und Büschen. Ich lachte immer noch. Nun glaubte ich wirklich, ich sei verrückt. Es war die einzige Erklärung. Ich warf mich ins Gras und lachte in den Himmel. Verzweifelt. Dann hörte ich das Geräusch wieder. Dieses Schaben auf rostigem Blech. Ich wusste nicht wieso, aber es beruhigte mich. Ich stand auf und ging zum Zaun, wo die Grauen mir ernst entgegenblickten. Zum ersten Mal wollte ich sie wieder lächeln sehen. Wenn schon, dann lächelnd.
„Ich komme rüber“, sagte ich heiser und fuhr zum Friedhofseingang, wo sie mich erwarteten.
Wir gingen um die Friedhofsmauer herum in ein angrenzendes Wäldchen. Die Sonne schien, aber die Grauen warfen keine Schatten. Es war heiß, aber ihre Haut schien kühl zu sein. Ging ich mit Gespenstern spazieren?
Ich blieb abrupt stehen.
„Was wollt ihr von mir?“
„Wir wollen dich zu uns bringen, nach Hause,“ sagte die Frau.
„Mich entführen?“
Das rostige Quietschen war wieder zu hören. Ich atmete tief ein, und mein Verstand wurde klar.
„Deine Zeit hier ist bald abgelaufen. Du gehörst nicht länger hierher,“ sprach der Mann.
„Wer sagt das? Habt ihr schon meine Eltern gefragt?“
„Bald sind sie nicht mehr deine Eltern.“
„Ach ja? Gibt es euch überhaupt, oder seid ihr nur Einbildungen meines kranken Hirns?“
„Wir können dir alles erklären.“
Die Frau trat einen Schritt vor.
„Äußerlich bist du ein Mensch und nicht von anderen Menschen zu unterscheiden. Deine Kindheit und Jugend hast du bei Eltern verbracht, die wir ausgesucht haben. Unsere Spezies kann nur von Körperwesen geboren werden, weil wir aus immateriellen Strukturen bestehen. Darüberhinaus lernen wir durch die Geburt und Kindheit den Umgang mit Körperwesen. Das ist für unsere diplomatischen Beziehungen sehr wichtig. Noch bist du ein Mensch, aber wenn du 16 Jahre alt wirst, musst du dich entscheiden. Du kannst mit uns kommen in deine Heimat, oder du wirst an deinen Körper gebunden bleiben hier auf der Erde.“
Erst wollte ich wieder anfangen zu lachen, aber je länger ich nachdachte, umso unheimlicher wurde es mir, im Wald mit zwei Fremden zu stehen, die vorgaben, meine Eltern zu sein und mich irgenwohin mitnehmen wollten. War das ein übler Traum?
„Moment. Ich habe also die Wahl, entweder so wie ihr zu werden und grau herumzulaufen oder ich darf so bleiben, wie ich bin?
Der Mann nickte. „Aber sei gewarnt. Diejenigen von uns, die auf der Erde zurückbleiben, führen ein unerfülltes Leben. Ständig auf der Suche nach einem Sinn. Manche von ihnen werden große Künstler oder Philosophen, aber viele beenden ihr Leben in Wahn und Verzweiflung.“
Ich musste an Vincent van Gogh und seine Bilder denken.
„Und was ist mit meinen Eltern? Ich kann doch nicht einfach so verschwinden?“
„Die meisten unserer Art suchen schlechte Eltern aus, um die Kinder hinterher leichter zur Heimkehr bewegen zu können, sodass viele von ihnen froh sind, die Erde verlassen zu dürfen. Wir sind ein Risiko eingegangen, indem wir dich in eine liebevolle Familie gegeben haben. Aber deine Eltern werden nichts merken. Wenn du mit uns kommst, bleibt Timotheus zurück, der dir im Wesen ähnlich ist. Sein Geist existiert hinter deiner Matrix. Er wird kurze Zeit verwirrt sein und dann sein Leben ohne Schaden aufnehmen. Und deine Eltern werden bald von der Geburt eines Enkels abgelenkt sein.“
„Meine Schwester bekommt ein Kind?“
Beide Grauen nickten ernst.
„Werde ich mich an das Leben hier erinnern können?“
„Nein, du beginnst ein neues Leben wie durch eine zweite Geburt.“
Mir fiel etwas ein.
„Warum habt ihr am Anfang dauernd gelächelt?“
„Das Lächeln der Menschen ist einzigartig im Universum. Uns ist keine Spezies bekannt, die etwas so Schönes hervorgebracht hat. Wir freuen uns auf das Lächeln, wenn wir die Erde besuchen. Aber es hat dich beunruhigt, darum haben wir es eingestellt.“
Eine Frage gab es noch, die mich nächtelang wachhielt.
„Können alle Menschen euch sehen, oder nur ich?“
„Gewöhnliche Menschen sehen uns nicht. Du kannst uns sehen, weil deine Augen beginnen, sich umzustellen. Vermutlich siehst du uns nur in Grau. In Wirklichkeit bestehen wir aus dem ganzen Farbspektrum des Lichts.“
Ich musste daran denken, wie ich auf dem Schulhof und am Strand geschrien hatte. Und Dr. Rosenberg konnte die Grauen auch nicht sehen. Mir schoss das Blut ins Gesicht. Ich würde die Existenz der Grauen nie beweisen können.
„Mein Geburtstag ist erst in zwei Monaten. Kann ich so lange noch überlegen?“
Meine Eltern nickten.
Die Zeit bis zu meinem Geburtstag verbrachte ich sehr bewusst. Jeden Tag sprach ich mit meiner Familie, die über mein verändertes Verhalten sehr froh war. Gleichzeitig lauschte ich in mich hinein und entdeckte Gefühle, die mir vorher nicht aufgefallen waren. Ich wurde immer empfindsamer gegenüber Licht, das ich aufnehmen und in mir spüren konnte. Eines Tages kam mein Vater in mein Zimmer und gab mir ein Lederetui mit Opas Taschenmesser. Ich legte es kaum noch aus der Hand, öffnete es immer wieder und erinnerte mich an die Stunden mit Opa auf der Bank vor seinem Haus.
In den letzten Tagen und Wochen verabschiedete ich mich im Stillen von allen, die mir lieb waren. Ich dachte daran, Timotheus einen Brief zu schreiben. Er kam mir vor wie ein Bruder, den ich mir immer gewünscht hatte. Aber ich befürchtete, dass ihn der Inhalt verstören würde; ich hatte schon genug Gewissensbisse, was ihn betraf. Gegenüber meinen Eltern – meinen neuen Eltern – äußerte ich die Bitte, den Ort und Tag meiner Abreise bestimmen zu dürfen.
An einem Abend im Herbst fuhr ich mit dem Fahrrad durch den Wald hinauf zur Bühler Höhe, wo mich meine Eltern lächelnd empfingen. In der Dämmerung waren die ersten Sterne zu sehen und wir setzten uns auf meine Bank.
Das letzte, was ich als Mensch empfand, war ein rostiges Quietschen, das plötzlich in Wohlklang überging: Ich hörte die Stimmen meiner Eltern, die meinen Namen riefen.
Mein Sohn,
ich weiß nicht, wie es mir gelungen ist, diese Erinnerungen zu behalten. Es ist eine sehr seltene Ausnahme in meinem Volk und für mich ein großes Glück. Vielleicht ist es das starke Band der Liebe, das in mir die Erinnerungen an meine irdische Familie bewahrt hat. Dennoch habe ich meine Entscheidung nie bereut.
Ich bin froh, dich auf diese Weise auf unser Treffen vorbereiten zu können. Du wirst uns erkennen. Deine Mutter und ich freuen uns auf dich.
Dein Vater
Eigentlich eine schöne, sprachlich gut erzählte Geschichte.
AntwortenLöschenMich irritieren aber trotzdem noch etliche Dinge …
Vor allem verstehe ich überhaupt nicht den Schluss … welcher Vater erzählt (?) denn da welchem Sohn etwas? Hat das mit dem Opa zu tun? Das erschließt sich mir gar nicht. Der Opa nimmt anfangs eine große Rolle ein, aber wie er mit dem Rest der Erzählung verbunden ist, erkenne ich nicht.
Auch, weshalb immaterielle Wesen durch einen Körper geboren werden müssen, finde ich unlogisch … wenn sie immateriell sind, weshalb sollte das dann notwendig sein?
Und wer ist der Timotheus, der zurückbleibt? Hat das Alienwesen die ganze Zeit nur als eine Art Geist in seinem Körper verbracht und zieht nun mit 16 Jahren aus? Ich vermute das, aber sicher bin ich mir nicht, ob es so gemeint ist in der Geschichte.
Es fehlt mir also einiges an Klarheit und Logik in der Geschichte.
Es ist ein Brief vom Vater an den Sohn. Dieser Twist macht eine neue Perspektive auf, die Geschichte muss neu eingeordnet werden. Der Vater erzählt seine Geschichte, um seinen Sohn vorzubereiten auf das erste Treffen mit ihm und auf die ausstehende Entscheidung. Er will es besser machen, als seine eigenen Eltern in der Geschichte.
AntwortenLöschenEr beschreibt seine Gefühle, die er damals empfunden hat und möchte darstellen, dass er Trennungsschmerz kennt. (Das Opa-Motiv). Der Mensch Timotheus existiert hinter der Matrix des Alien und wird zum Vorschein kommen, wenn das Alien verschwindet. Die Geburt in einem Körper ist für die Alien wichtig, um diplomatischen Kontakt zu anderen Körper-Spezies haben zu können.
Du musst zugeben, dass das Insiderwissen ist. Aus der Geschichte selbst nicht herauszulesen.
LöschenGebe ich zu, ich bin der Autor. Damit habe ich mich wahrscheinlich disqualifiziert. Die Geschichte disqualifiziert sich aber schon an sich, weil sie im entscheidenden Punkt nicht verständlich ist, leider.
LöschenHerauslesen kann man die eigentliche Aussage der Geschichte nur dann, wenn man sie konsequent aus der Perspektive des Vaters (Tim) im Zusammenhang mit der Perspektive des Adressaten (Sohn von Tim) ein zweites Mal liest. Dann wird jedes Wort nicht nur der reinen Erzählung geschuldet, sondern auch dem Sohn. Es stünde hinter jedem Wort die Frage: Was will der Vater dem Sohn damit sagen und warum? Selbst eine Nebensächlichkeit, wie: „Spaghetti, was sonst“ würde eine andere Konnotation erfahren. Um die Doppelbödigkeit geht es mir. Hier beschreibt ein Alien sein ehemaliges Menschsein gegenüber seinem jugendlichen Sohn.
Sollten meine Erläuterungen wettbewerbsverzerrend sein, so wäre mir eine Disqualifikation weniger wichtig, als der Hinweis für den Leser, der sich die Mühe gemacht hat, den Text zu lesen. Wer will schon unverstanden bleiben.
Mit diesem Wissen die Geschichte noch einmal zu lesen, hat tatsächlich eine ganz andere Wirkung auf mich gehabt. Es machte jetzt alles einen Sinn. Danke für die Anleitung.
LöschenBis auf den Schluß hat mir die Geschichte gut gefallen. Ich spürte die wachsende Unruhe und Verzweiflung von Tim, als "die Grauen" überall auftauchten und er letztendlich merkte, dass andere sie nicht sehen und ihn zwangsläufig für verrückt halten mussten. Auch die Aussage, dass ein anderes Leben anfängt, wenn die Eltern sterben, hat mich berührt. Es ist tatsächlich so, dass man sich auf einmal mutterseelenallein und verwaist fühlt. Ganz gleich ob man 15, 25 oder 60 ist.
AntwortenLöschenDen letzten Abschnitt von "Mein Sohn" bis "Dein Vater" habe ich auch nicht auf Anhieb kapiert, das letzte Viertel mindestens vier Mal gelesen. Ich denke mir jetzt, das ist ein Brief oder Entwurf - Jahre später - von dem, was Tim seinem eigenen Sohn mitteilen wird, wenn er ihn von Pflegeeltern auf der Erde abholen will.
Rechtschreibung prima, nur ganz oben ein überflüssiges Komma nach dem Gedankenstrich bei "... dass ich kommen würde -, nie mehr ..." So eine Konstellation gibt es eigentlich nicht. Da wäre stattdessen ein Punkt und neuer Satz geschickter gewesen. Ansonsten fand ich die Geschichte sehr flüssig erzählt und spannend war sie auch.
Mir hat vor allem der erste Teil gefallen, in dem die Beziehung zu dem Opa und Tims nachvollziehbare Verzweiflung über dessen Tod beschrieben werden. Das finde ich richtig gut und berührend geschrieben. Dazu passt auch der sich anbahnende Wahnsinn mit dem Auftauchen der Grauen. Danach verliere ich ein bisschen den Anschluss. Den letzten Teil habe ich jetzt, nach Durchlesen der Kommentare, gecheckt. Aber irgendwie wird mir selber trotzdem nicht so ganz klar, was der doch sehr ausführliche, lange Teil mit dem Opa mit dem Rest der Geschichte zu tun hat. Oder geht es einfach darum, dass Tim Liebe und Trennungsschmerz kennt, wie im Kommentar? Dann wundert es mich etwas, dass er (für seinen Sohn) dann nicht die Trennung von seinen Eltern beschreibt.
AntwortenLöschenVom Stil her finde ich die Geschichte toll geschrieben!
Sehr schön. Nicht so gruselig, besonders da wir ja schon wissen, dass die Stalker seine Eltern sind. Witzig fand ich die Idee, dass Künstler und Philosophen in Wirklichkeit auf der Erde gestrandete Aliens sind. :-)
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