DACSF2025_57

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Ardurianische Kundschafter

Eigentlich hatte ich ja immer schon geahnt, dass etwas mit mir anders war. Weder meine Geschwister noch meine Eltern interessierten sich für Philosophie, Astronomie und Botanik. Genaugenommen lasen sie nicht einmal. Ich dagegen stürzte mich auf jede Zeitung und erst recht jedes Buch, das ich fand. Vorausgesetzt natürlich, dass niemand das mitbekam. Ich hatte schon früh bemerkt, dass Menschen kein Verständnis dafür hatten, wenn ein Hund las.

Daher lag der Gedanke nahe, dass ich trotz aller äußerlichen Ähnlichkeit mit meinen Geschwistern adoptiert sein könnte. Bei Menschen war das gar nicht so ungewöhnlich, wie ich aus verschiedenen Zeitungen und Magazinen erfahren hatte, und wenn ich mich ab und an vor lauter Langeweile vor den Fernseher legte, wo Frauchen nach der Arbeit meist wenig anspruchsvolle Programme ansah, stellte ich fest, dass Adoptionen zu jeder guten Vorabendserie gehörten.

Nachdem ich diese Frage zu meiner Zufriedenheit geklärt hatte, hätte ich mir eigentlich ein ruhiges Leben machen können. Dummerweise hatte ich noch viele weitere Fragen, und ich wurde das Gefühl nicht los, dass weder Frauchen noch meine Adoptivmutter sie beantworten konnten, von meinen Geschwistern ganz zu schweigen. Letztere waren völlig zufrieden damit, Socken zu zerkauen, ihren eigenen Schwanz zu jagen und sich bei jedem Spaziergang in irgendwelchen Pfützen zu wälzen. Ich dagegen wollte immer mehr lernen.

Leider gab es im Haus meines Frauchens nicht sehr viele Bücher, und die meisten davon waren nicht allzu wissenschaftlich. Daraus konnte ich zwar einiges über die Fortpflanzungsgewohnheiten der Menschen lernen, aber kaum etwas über den Rest der Welt. Doch ich lernte bald, zu welchen Zeiten ich welches Fernsehprogramm einschalten musste, solange Frauchen arbeiten ging. Offensichtlich war Fernsehen auch für meine Adoptivmutter und meine Geschwister eine akzeptable Form der Freizeitbeschäftigung, zumindest störten sie mich dabei viel weniger, als wenn ich ein Buch oder die Tageszeitung las. Auf diese Weise lernte ich Mathematik, Biologie, ein wenig Englisch und Spanisch … doch am meisten interessierten mich die Sendungen über Astronomie und Astrophysik. Ich lernte, wie das Sonnensystem und das Weltall aufgebaut waren, welche Theorien es zu Schwarzen Löchern und Dunkler Materie gab, wie man sich den Urknall vorstellte und welche Deutungen die Allgemeine Relativitätstheorie zuließ. Und wenn ich nicht gerade vor dem Fernseher saß oder ein Buch las, um mehr über die Welt und die Menschen darin zu lernen, dann blickte ich manchmal vom Garten aus hoch zum Himmel und stellte mir vor, wie es wohl wäre, wenn Hunde durch den Weltraum fliegen und den Mond, die nächsten Planeten oder gar weiter entfernte Ziele besuchen könnten.

Was soll ich sagen – genau an meinem ersten Geburtstag lernte ich, dass dies tatsächlich möglich war. Nun, vielleicht nicht für Hunde im Allgemeinen – aber für mich. An diesem Tag kamen nämlich meine biologischen Eltern vorbei, um mich abzuholen.

Aber der Reihe nach: Eigentlich begann mein Geburtstag genau wie jeder andere Tag, nur dass meine Geschwister und ich zum Frühstück schon ein zusätzliches Leckerli bekamen und Frauchen versprach, uns am Abend nach der Arbeit noch ein richtiges Geschenk mitzubringen. Da es sich dabei vermutlich nicht um ein Buch über die String-Theorie handelte, die ich unbedingt besser nachvollziehen wollte, fand ich diese Ankündigung längst nicht so spannend wie meine Geschwister, die zwar die Sprache der Menschen immer noch nur bruchstückhaft verstanden, aber das Wort „Geschenk“ zuverlässig erkannten. Daher waren mein Bruder und meine beiden Schwestern auch den ganzen Tag sehr aufgeregt, nicht nur beim morgendlichen Spaziergang, sondern auch danach, als sie wie an jedem Tag mit schönem Wetter die Gartentür öffneten, um draußen herumzutollen. Eigentlich sollten sie das nicht, aber sie waren eben noch jung und ungestüm … und ich war mir ziemlich sicher, dass Frauchen das auch wusste. Ihr musste längst aufgefallen sein, dass wir meist schon im Garten waren, wenn sie mittags kurz nach Hause kam, um uns in den Garten zu lassen. Auch wenn sie keine wissenschaftlichen Bücher las, war sie sicherlich schlauer als meine Geschwister.

Normalerweise hätte ich die Gelegenheit genutzt, um mir eine Dokumentation über verschiedene Tiere oder auch den Weltraum anzusehen. Heute war mir ausnahmsweise eher danach, mich draußen auf den Rasen zu legen und in den Himmel zu starren. Daher war ich auch der erste, der das Raumschiff langsam näherkommen sah. Meine Geschwister waren so in ihr Spiel vertieft, dass sie es erst bemerkten, als es schon gelandet war. Und auch dann waren sie eher irritiert als interessiert. Mein Bruder und meine Adoptivmutter liefen sogar vorsichtshalber ins Haus zurück, während meine Schwestern sich nur ein Stück von dem unbekannten Objekt zurückzogen und es auf Verdacht kräftig anbellten. Man wusste ja nie …

Als sich eine Luke öffnete, war ich dementsprechend der einzige, der schnurstracks hineinsprang und sich umsah. Das Raumschiff war nicht sonderlich groß, aber aus meiner Augenhöhe erschien mir tatsächlich einiges zu hoch, so als sei es eher für kleine Menschen oder für sehr große Hunde gebaut.

Und nur einen Moment später sah ich, weshalb das so war. „Mama? Papa?“, fragte ich, obwohl ich mir eigentlich sicher war. So etwas fühlte man. Auch wenn die beiden nicht ganz so aussahen wie erwartet. Dass sie die Nasenöffnungen seitlich auf dem Kopf trugen und der kreisrunde Mund viele Reihen spitzer Zähne enthüllte, störte mich nicht, aber das dritte Auge auf ihrer Stirn schien geradewegs in mich hineinzusehen – dieses Gefühl kannte ich bisher nicht. Auf der Erde war ich noch keinem Lebewesen begegnet, das ein solches spezielles Auge besaß.

„Ach, was bist du groß geworden!“ Mama – oder Papa, da war ich mir nicht ganz sicher – beugte sich zu mir herab und drückte mich innig. „Und was haben wir dich vermisst …“

„Ihr hättet ja hierbleiben können“, entgegnete ich trocken.

„Aber wir haben doch eine Aufgabe zu erfüllen!“, widersprach Papa, und ich glaubte zu erkennen, dass er seine drei Augenbrauen fast entsetzt hochzog. „Ardurianische Kundschafter haben den wichtigsten Beruf der Welt, da kann man keine Pause einlegen, nur weil man Nachwuchs bekommen hat.“

„Und auf die Idee, mich mitzunehmen, seid ihr nicht gekommen?“, fragte ich nach.

„Aber Kind, das wäre doch viel zu gefährlich gewesen“, entgegnete Mama. „Im ersten Lebensjahr vertragen wir Ardurianer die Strahlung im Weltraum noch nicht so gut wie später, wenn wir älter werden. Deshalb sind wir ja jetzt auch hier – um dich endlich zu uns zu holen.“

Das klang gut – auch wenn ich sicherlich noch eine ganze Weile brauchen würde, um mich an ihre Gestalt zu gewöhnen. Wobei mir eine wichtige Frage einfiel … „Sagt mal, weshalb sehe ich eigentlich ganz anders aus als ihr? Und bleibe ich so … oder verändere ich mich, wenn ich älter werde?“

„Das dient nur zu deinem Schutz“, erklärte Papa. „Mit der Bevölkerung dieses Planeten haben die Ardurianischen Botschafter noch keinen Kontakt aufgenommen, das soll erst in einigen Erdenjahren geschehen. Bei solchen unzivilisierten Planeten halten wir es immer so, dass wir unsere Nachkommen optisch an die Bevölkerung anpassen. Aber mach dir keine Sorgen, das wird sich ändern, sobald du mit uns nach Hause geflogen bist. Auf Arduria werden die besten Mediziner dafür sorgen, dass du bald wieder deine natürliche Gestalt hast – und nicht dieses unzivilisierte Fell“, jetzt zog er die äußeren Augenbrauen zusammen und nur die obere hoch.

Zweimal „unzivilisiert“ in einem Satz, und einmal direkt auf mich bezogen – das war nicht ganz das, was ich vom ersten Kontakt mit meinen leiblichen Eltern erwartet hätte. Ganz abgesehen von den drei Augen … „Wenn ihr in ein paar Jahren mit den Menschen Kontakt aufnehmen wollt, solltet ihr vielleicht auch eine andere Gestalt wählen“, sagte ich trotzig. „Vor eurer jetzigen Gestalt hätten sie vermutlich Angst.“

Meine leiblichen Eltern blickten sich an, und ich konnte ihre Verwirrung sehen, obwohl mich ihre Gesichter noch immer irritierten. „Menschen?“, fragte Papa schließlich nach. „Was sollen wir mit denen? Wir wollten mit den Herren dieser Welt Kontakt aufnehmen, und das sind doch wohl Hunde und Katzen.“

Jetzt war ich verblüfft. Wie konnte man sich so irren? „Hunde und Katzen glauben das zwar“, sagte ich schließlich, „aber es sind die Menschen, mit denen ihr sprechen müsst. Die denken über den Weltraum nach, über die Relativitätstheorie … und natürlich die String-Theorie.“ Dass ich Letztere noch immer nicht verstanden hatte, weil Frauchen einfach kein vernünftiges Buch zu dem Thema hatte, brauchte ich ihnen ja nicht verraten. „Hunde und Katzen interessieren sich eigentlich nur für Essen und Spielen – und Erwachsenenkram.“ Zumindest darüber hatte ich ja schon einiges gelesen.

„Oh.“ Die beiden sahen sich wieder an. „Das ändert aber eigentlich nichts. In wenigen Erdenjahren schicken wir einen Botschafter zur Erde und bieten dann eben den Menschen einen Platz im Galaktischen Handelsrat an. Hauptsache, sie verkaufen uns die Gewürze, die es anderswo nicht gibt.“

Ich schüttelte lachend den Kopf. „Wenn der Botschafter genauso aussieht wie ihr, dann wird das nichts mit dem Galaktischen Handelsrat. Da solltet ihr lieber jemanden schicken, dessen Gestalt den Menschen vertraut ist, den sie nicht fürchten …“ Die Idee nahm ganz ohne mein Zutun Gestalt an. „Zum Beispiel jemanden, der aussieht wie ein Hund.“

Nun, was soll ich sagen – ich sehe weiterhin aus wie ein Hund, und wenn ich nicht alleine bin, versuche ich mich auch so zu benehmen. Bei jedem Spaziergang und wenn ich abends aus dem Fenster in den Himmel sehe, stelle ich mir vor, wie meine leiblichen Eltern weiter den Weltraum erkunden und neue Spezies finden, und vielleicht habe ich inzwischen schon weitere leibliche Geschwister, die alle ganz anders aussehen. Vielleicht werde ich sie irgendwann kennenlernen. Ich versuche derweil, immer mehr über die Erde und ihre Bewohner zu lernen, und bereite mich darauf vor, in einigen Jahren als Botschafter meiner Heimatwelt die Menschen langsam an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie nicht alleine im Universum sind. Denn wer sollte das besser hinbekommen als ein Hund, der beste Freund des Menschen?

4 Kommentare

  1. Süße Geschichte! Gut geschrieben. Hätte vielleicht etwas mehr Handlung oder Spannung vertragen, aber war wie ein süßes Bonbon zwischendurch. Der Hund könnte sich mal mit dem Kater aus Geschichte 25 treffen ;)

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  2. Eine wirklich süße Geschichte. Hat Spaß gemacht zu lesen. Das Einzig tragische ist, dass leider keine Spannung aufkommt. Davon abgesehen eine nette Story!

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  3. Sehr liebenswürdige Geschichte! Trotz der spitzen Zähne ist sie gar nicht gruselig. Ich konnte mir jede Szene auch gut als Film vorstellen.

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  4. Ach, ist das eine schöne kleine Geschichte. Hat richtig gut getan, die zwischen all den anderen Grusel-Geschichten zu lesen. Ich musste gleich am Anfang spontan laut loslachen. War bisher hier das einzige Mal. Wirklich sehr süss und liebenswert. Ist auch alles Geforderte erfüllt. Und Rechtschreibung und Grammatik ist tippi toppi. Chapeau!

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