Der extraterrestrische Wechselbalg
Es war einmal ein Dorf inmitten eines grünen Tals. Spitze Berge und ein uralter Wald schnitten es vom Rest des Königreichs ab. Man munkelte, es sei wohl der einsamste Ort der Welt. Wer zu ihm gelangen wollte, musste eine Tagesreise über einen engen Pfad machen, der sich wie eine Schlange durch das Dickicht wandte und immer in Nebel gehüllt war. Nur einmal im Jahr kam ein Gesandter des Königs mit einer kleinen Gefolgschaft herbei, um die Steuer einzuholen. Auch eine Handvoll Händler nahmen die schwere Reise auf sich und versorgten die Dorfbewohner, um die dreihundert an der Zahl, mit allem, was sie selbst nicht schon dahatten. Das Dorf hatte schon Vieles von dem, was es zum Leben brauchte: Wälder und Holzfäller, Früchte und Bauern, Vieh und Metzger. Vor allem Getreide musste jedoch aus dem Flachland herbeigebracht werden, weil es sich auf den steilen Bergen nicht gut anbauen ließ. Trotz seiner Abgeschnittenheit hatte das Dorf Berühmtheit erlangt. Grund dafür war ein seltener Edelstein, der sich nur in den tiefen Minen seines Tals finden ließ. Rund geschliffen glitzerte er in satten Lila- und Rottönen. Hie und da blitzten kleine goldene Sprenkel hervor, wenn man sie im Sonnenlicht drehte. Das Gestein trug den Namen Theobald, benannt nach dem ehemaligen König, dem Urgroßvater des derzeitigen Thronfolgers. Durch die königliche Steuer und die Händler gelangte der purpurne Edelstein in die Hände aus den entferntesten Winkeln des Landes. Wie ein Herz pumpte das Dorf so seinen Schatz unermüdlich in den Rest des Königreichs hinein. Jeder wusste, es handelte sich um das einzigartige Theobald aus Winkelstein, dem Dorf inmitten des Kiefergebirges.
Auch ohne Kontakt zum Rest der Welt war das Leben der Winkelsteiner schön und interessant genug. Die Leute hielten zusammen, feierten jeden Monat ein gemeinsames Fest und beschäftigten einander mit lustigen und wunderlichen, manchmal aber auch gruseligen Sagen. Gerade die Kinder liebten Schauergeschichten besonders, weshalb sie viele davon einfach selbst erfanden. Immer wieder handelten ihre Erzählungen vom kleinen Alberic, einem seltsamen Kind aus dem Dorf, mit dem es sich nicht gut spielen ließ und das deshalb oft allein war. Nein, nicht ganz – sein großer Bruder Warin wachte über ihn wie ein Schatten. Der junge Mann machte einen imposanten Schutzmann. Groß war er und stärker als alle anderen Siebzehnjährigen der Gegend. Seine grünen Augen, die unter dunklen Strähnen hervorblitzen, gaben einem das Gefühl, er blicke einem direkt in die Seele. So kam es, dass dem kleinen Alberic viele Grausamkeiten erspart blieben. Wenn auch nicht jede. Einmal war Warin tagelang krank im Bett gelegen – seine Eltern selbst fast krank vor Sorge um ihn – und Alberic war draußen vorm Haus im Schlamm vergessen worden, in dem er gerade gespielt hatte. Eine Bande Kinder, die stets um die Häuser zog, um Schabernack zu treiben, entdeckte ihn und sah ihre Gelegenheit. Der stille Alberic beachtete sie kaum, als sie sich um ihn scharten, um seinen eigenartigen Körper zu begutachten. Zuerst stupsten sie ihn in seinen Kopf, der schon immer seltsam groß gewesen war, fast wie der eines Erwachsenen. Blass war Alberic, sodass sich sichtlich ein Netz aus bläulichen Adern und Venen über seinen ganzen Körper erstreckte. Ähnlich blau waren auch die Augenringe unter seinem Blick, der immer auf etwas gerichtet schien, das sehr weit weg war. Nachdem sie ihn untersucht hatten, langweilte die Kinder seine Stille. Mit einem festen Ruck warfen sie ihn um, sodass er vorwärts mit dem Gesicht in einer Pfütze landete. Lachend liefen sie davon. Sie sahen nicht, dass er sich allein nicht aufrichten konnte. Er kämpfte um Luft, versuchte schnappend, sich hoch zu drücken, doch plumpste er nur wieder und wieder in den Dreck zurück. Seine dünnen Arme waren zu schwach. Drinnen lag der kranke Warin und fragte sich, ob das schallende Kinderlachen vor dem Fenster denn Wirklichkeit war oder aus seinen fiebrigen Träumen nachhallte. Doch als er langsam aus seinem Schlummer auftauchte wie aus einem dunklen Teich, durchzog ihn plötzlich ein spitzer Schreck. Schnell sprang er mit so viel Schwung aus dem Bett, als wäre er noch nie in seinem Leben krank gewesen. Von einer düsteren Vorahnung beflügelt, flog er fast schon durch die Haustür hinaus und packte seinen Bruder am spärlichen Schopf, um sein Gesicht aus dem Schlamm zu ziehen. Die Eltern wirkten nicht erleichtert, als Warin ihnen später von dem Vorfall erzählte. Seitdem fragte er sich manchmal, ob sie sich insgeheim gewünscht hätten, Alberic möge verschwinden. Doch sprach Warin diese Gedanken niemals aus. Vielleicht verstand er nur ihre Ermüdung falsch. Einfach war es wirklich nicht mit dem Kleinen. Er war schwächlich, brauchte viel Pflege und Aufmerksamkeit, die die Eltern, die sich den ganzen Tag um den Hof kümmerten, nicht aufbringen konnten. Manchmal erzählte die Mutter, mit einer Mischung aus Entsetzen und Belustigung, wie ihre Milch niemals ausgereicht habe, um Alberics Säuglingshunger zu stillen. Schrecklich geschrien habe er damals, anders als jedes andere Kind. Als wäre er nicht von dieser Welt.
Das war jetzt drei Jahre her. Seitdem hatte sich der Kleine kaum verändert. Während andere Kinder laufen lernten, kroch er die meiste Zeit und musste sich an irgendetwas hochziehen, um überhaupt auf zwei Beinen stehen zu können. Und als gleichaltrige Kinder sprechen lernten, konnte er nur eine Handvoll Wörter, »Ja«, »Nein«, und »Warin«, waren die wichtigsten. Am liebsten war Alberic für sich. Das heißt, am liebsten war er in Warins Gegenwart, aber er beschäftigte sich selbst, versunken in seinen eigenen Gedanken. Manchmal glaubte Warin, sein kleiner Bruder sähe eine zweite wundersame Welt, die sich wie ein schöner Schleier über die Wirklichkeit legte und seinem eigenen Blick verborgen blieb. Es kam vor, dass er so gewöhnliche Gegenstände wie ein welkes Blatt von allen Seiten untersuchte, als ließen sich die größten Mysterien des Kosmos in seinem Muster enträtseln. Oder er ließ einen Käfer eine halbe Ewigkeit zwischen seinen Händen hin und herwandern und beobachtete ihn dabei so aufmerksam, als wollte er herausfinden, was sich der Schöpfer bei seiner Erschaffung nur gedacht haben mochte. Dass Alberic seltsam war, tat für Warin nichts zur Sache. Er liebte seinen Bruder. So sehr, dass es ihm mehr zu schmerzen schien als Alberic selbst, wenn die Leute wieder über ihn tuschelten, ihre gräulichen Theorien zu seiner Andersartigkeit preisgaben, oder ihm Beleidigungen wie ‘Satansbraten’ oder ‘Rabenaas’ wie Gift vor die Füße spuckten.
Zum Glück hatten die Brüder eine Freundin, die sich nicht so schnell durch Andersartigkeit beleidigt fühlte, sondern sie wie die Pflanzen in ihrem wilden Garten mit liebevoller Neugier bedachte. Die Alte Ruth hielt immer warme Worte für Warin bereit, wenn er mal wieder betrübt von der Gehässigkeit der Leute erzählte. »Die Menschen haben nur Angst vor dem, was sie nicht verstehen«, hatte sie einmal gesagt. »Eigentlich sind sie nichts als Feiglinge, die die Welt möglichst einfach haben wollen.« Neben weisen Ratschlägen hatte sie immer ein paar Heilpflanzen und selbstgemischte Mittel bei sich, mit denen sie Alberics Wehwehchen linderte, unter denen er offensichtlich zu leiden schien. Oft saßen die beiden Jungen in ihrem Garten, während sie dem Kleinen komisch schmeckende Tränke einflößte und dabei altertümliche Lieder sang, von denen Warin nur einzelne Worte verstand.
Wie einige andere Winkelsteiner waren die Eltern der Brüder der Alten Ruth gegenüber skeptisch. Gemeine Mäuler im Dorf munkelten, sie habe mit dem Teufel zu tun und würde nur deshalb über so machtvolle Heilmittel verfügen. Jedoch war das eher eine Mindermeinung. Zu viele Winkelsteiner gingen bei körperlichen Leiden lieber zu ihrer Hütte, statt zum Haus des Arztes, weil sie mit ihr bessere Erfahrungen gemacht hatten. Und weil die Eltern sowieso schon genug um die Ohren hatten, waren sie doch dankbar, dass die Alte so oft ein Auge auf die Jungen legte, damit sie in Ruhe arbeiten konnten. Warin half jeden Tag ein wenig auf dem Hof aus, doch sie überließen ihm auch gerne Zeit für sich. Ein Bauer sollte eh nicht werden aus ihm, fanden sie, dafür sei er zu schlau. Vielleicht würde er ja Pfarrer oder Lehrer werden, oder, wenn sie besonders verwegen träumten, eines Tages die Theobald-Minen verwalten. Warin selbst wusste noch nicht so richtig, was er mit seinem Leben vorhatte. Die Träume seiner Eltern teilte er nicht. Er hatte wenig übrig für den Theobald, von dem die meisten Leute so besessen schienen. Er sehnte sich nach etwas, das Sinn hatte, die Welt und ihn selbst bereicherte, etwas, mit dem er für den Rest seines Lebens seinen Wissenshunger stillen konnte. Es zog ihn in die Ferne. Am liebsten wollte er durch die Welt umherziehen und dabei alle Weisheiten erlernen, die ihm dabei über den Weg liefen, so wie Ruth es getan hatte. Doch hatte er noch keine Ahnung, wie er das anstellen sollte. Es war, als würde Warin nur darauf warten, dass sich eines Tages aus dem Nichts ein neuer Pfad vor ihm auftat, der ihn auf die richtige Reise schickte. Und so verbrachten die Brüder ihre Jugend, die zwar nicht einfach, doch ebenso oft auch schön war. Bis die dunkle Jahreszeit kam.
Im Spätsommer hatte der Himmel ein aschfarbenes Grau angenommen. Die Luft war matt und ein hellgrauer Staub legte sich über das Dorf. Alles verlor ein wenig von seiner Farbe. Kaum Sonnenlicht drang durch die seltsamen Wolken, sodass es schon im September bitterkalt wurde. Die Alte Ruth erzählte Warin, irgendwo in der Welt habe wohl ein großer Berg Feuer gespuckt und das Firmament mit seiner Asche bedeckt. Ihm fiel es schwer zu glauben, dass es so etwas zwischen Himmel und Erde gab, aber vielleicht hatte sie ja Recht. Was auch immer die Ursache war, es kamen harte Zeiten auf sie zu. Ein Händler berichtete, das ganze Königreich sei in Dunkelheit gehüllt, doch hier in Winkelstein sei es besonders düster. Er hatte es eilig, schnell wieder die Rückreise anzutreten. Mit seinen Worten säte er Zweifel daran, dass im Dorf bald wieder alles beim Alten sein könnte. Für sein Getreide verlangte er die doppelte Menge an Theobald als gewöhnlich. Der Bürgermeister kaufte sein ganzes Korn auf und bat den Händler, bald wieder mit einer Lieferung zurückzukehren. Die dunkle Zeit verschonte auch die Ernte nicht. Das Gemüse gefror im Boden, sodass es verdarb, und viele Früchte wollten einfach nicht heranreifen. Ohne Sonne und Regen verkümmerte das Weidegras und das Vieh wurde mager und schwach, sodass es weniger Milch gab. Der nächstgelegene Fluss fror bereits im Oktober zu. Schnee fiel kaum. Bis zum Dezember waren die Getreidespeicher des Dorfes fast leer. Seit vielen Wochen hatte es kein einziger Händler mehr nach Winkelstein gewagt. Die Bäcker streckten das Brot mit einem Pulver aus Baumrinde, wodurch es immerhin den Bauch halbwegs füllte. Ein paar Minenarbeiter beschlossen, hinaus ins Flachland zu reiten, um Hilfe zu holen. Sie verschwanden in der Dunkelheit des Pfades und kehrten nicht zurück, nicht nach drei Tagen, nicht nach fünf, niemals wieder. Ein paar weitere Reiter brachen auf, um die Verschwundenen zu suchen und selbst Hilfe zu holen, doch auch sie wurden für immer vom Wald verschluckt. Niemand wagte einen dritten Versuch. Zu all dem Unglück gesellte sich noch eine seltsame Seuche, die durch Winkelstein wütete. Die Kranken hatten einen schwachen Herzschlag, ihr Blut wollte nicht mehr richtig fließen. Arme und Beine wurden kalt und blass, bei manchen starben sogar Finger und Zehen ab. Das Wenige, was sie essen konnten, erbrachen sie. Die Alte Ruth versuchte die armen Teufel zu versorgen. Sie erzählte von einer fernen Insel im Süden, auf der sie der Seuche schon begegnet war. In einem Kloster heilten Mönche die Kranken mit einem speziellen Balsam. Sie versuchte, ein ähnliches Mittel zu mischen, doch sie hatte nicht ganz die richtigen Zutaten da und auch ihr eigener Vorrat an Heilpflanzen ging in diesem lebensfeindlichen Winter langsam zur Neige. Etwa die Hälfte aller Kranken, es waren schon um die drei Dutzend, starben. Der Hunger breitete sich jeden Tag ein wenig weiter aus. Er zehrte an den Menschen, machte sie schwach und ließ die stechende Kälte noch tiefer in ihre Knochen kriechen. Er trieb sie dazu, bei ihrer Nahrungssuche nach zunehmend erniedrigenden Mitteln zu greifen, um die Leere in ihren Bäuchen zu bekämpfen. Manche aßen Schlamm, andere kauten sich ihre Fingernägel wund und ihre Haare kurz, manche stopften sich das Leder alter Schuhe in den Rachen. Auch nach Monaten drang kein einziger tröstender Sonnenstrahl durch den staubig-grauen Himmel zu den Winkelsteinern herunter. Alles war immerzu in eine ewige Dämmerung gehüllt, und es fühlte sich an, als würde nie mehr ein sonniger Morgen folgen.
Angst und Wut brodelten in den Menschen. Sie fragten sich, wie das alles nur geschehen konnte. Warum wurden sie mit der Hölle auf Erden bestraft? Warum nur hatte Gott sie verlassen? Theorien wanderten durchs Dorf, immer abstrusere Ideen wurden von einem Ohr zum anderen geflüstert. Manche handelten von der Alten Ruth, die vielleicht doch nicht so eine harmlose Heilerin war, wie sie vorgab. Und vom kleinen Alberic, der doch kein gewöhnliches Menschenkind sein konnte. Warin spürte, wie die anderen Dorfbewohner zunehmend seine ganze Familie mieden. Der angebliche Fluch, oder was auch immer sie in Alberic zu sehen glaubten, haftete jetzt auch ihm und seinen Eltern an. Niemand außer Ruth wollte noch mit ihnen zu tun haben. Warin machte sich nicht viel daraus. In den Augen seiner Eltern jedoch nahm er zunehmend eine Sehnsucht und Verzweiflung wahr, die über den Hunger ihrer Leiber hinausging.
In der längsten Nacht des Winters saß die Familie zusammen am Feuer in der Stube, als es an der Tür klopfte. Als der Vater die Tür öffnete, stand da ein Fremder im Dunkeln. Ein wenig schmutzig, doch in einen eleganten Pelzmantel gekleidet, die Augen dunkel glänzend. Er stellte sich als einen noblen Gesandten des Hofes vor, der für den König durch das Land zog, um von der Hungersnot und den Seuchen zu berichten und ihn wissen zu lassen, wo Hilfe am dringendsten nötig war. Er bat um Obdach für sich und sein Pferd. Die Nacht sei viel zu dunkel, um weiter durch die steinige Berglandschaft zu reisen. Daraufhin ließen die Eltern ihn sofort ein. Der Vater hastete nach draußen, um das Pferd im Stall unterzubringen, und die Mutter führte den Fremden zum Sessel am Feuer. Warin wurde unruhig. Warum würde der Fremde genau ihren Hof wählen, der so abseits vom Rest des Dorfes lag? Wie kam es, dass es dieser Noble durch den Wald schaffte, während die Einheimischen Reiter spurlos verschwunden waren? Schweigend bedachte er den Gast mit einem skeptischen Blick. »Sagen Sie nur, königlicher Botschafter, wie schlecht steht es im Rest des Landes?«, fragte die Mutter aufgeregt. »Hart ist es überall«, sagte der Fremde mit tiefer Stimme. »Doch nirgends ist es so schlimm wie hier. Mir scheint, es grenze an ein Wunder, wenn auch nur einer aus eurem Dorf diesen Winter überstehen wird. Die königlichen Propheten glauben, die Dunkelheit wird bis in den April hinein andauern.« Die Mutter schnappte schockiert nach Luft. »Bis in den April? Gott helfe uns!« Gerade war der Vater wieder zur Tür hineingetreten und sagte: »Gnade sei mit uns! Dürfen wir denn Hilfe vom König erwarten? Wir sind fromme Leute. Wir haben so eine Strafe nicht verdient!« »Wie ich schon sagte, ist es nirgends so schlimm wie hier. Es ist gerade nahezu unmöglich, Nahrung hierher zu schaffen. Die Reise über eiskalten Berge ist langwierig und gefährlich. Der König befürchtet, Männer bei der Lieferung zu verlieren«, erklärte der Fremde. Angespannt beugte er sich näher ans Feuer, sodass Warin die tanzenden Flammen in seinen Augen gespiegelt sah. »Klar ist, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Die Propheten glauben, der Fluch auf diesem Dorf sei so mächtig, dass womöglich kein einziges Getreidekorn durch seine Tore gelangen soll. Irgendetwas will, dass die Leute hier leiden, es hungert nach den Schmerzen und Wahnsinn Anderer.« Nun blickte er auf den kleinen Alberic. »Ein seltsames Kind. Spricht es denn?«, verlangte er zu wissen.
»Ein wenig«, sagte Warin und schaute ihn feindselig an. Wollte der Fremde auf etwas hinaus? Er drückte seinen schlummernden Bruder fester an sich. Nachdenklich musterte der Fremde Warin. An die Eltern gerichtet sagte er: »Ich glaube, es wäre das Beste, wenn sie ihre Söhne ins Bett schicken.« »Natürlich, sie haben Recht«, sagte die Mutter sofort. »Warin, bring den Kleinen ins Bett und leg dich zu ihm, sonst will er nur wieder nicht einschlafen und schreit. Wir sind genug mit unserem Gast beschäftigt.« Missmutig gehorchte Warin. Das alles war ihm nicht geheuer. Offensichtlich wollte der Fremde etwas besprechen, das nicht für seine Ohren bestimmt war. Während er zum Schlafzimmer ging, fragte er sich, ob der Fremde überhaupt nach Winkelstein geschickt worden wäre, wenn dort nicht das Theobald abgebaut wurde. Vielleicht befürchtete der König, seine Schatzkammer nicht mehr mit dem Edelstein füllen zu können, sollte das ganze Dorf umkommen. Warin bemühte sich, den Gedanken zu verscheuchen, denn ihn auszusprechen war sowieso nicht gestattet. Er legte Alberic sanft ins Bett und öffnete die Zimmertür einen Spalt breit, um dem Gemurmel der Erwachsenen zu lauschen. Doch er verstand nur wenige Worte des Gesandten, darunter ein besonders fremdartiges, das er noch nie zuvor gehört hatte: »Wechselbalg.«
Als Warin aufstand, war der Fremde schon wieder weg. Die Eltern mieden seinen Blick, wirkten still und doch nervös. Nachdem Warin Alberic auf seinen Stuhl gesetzt hatte, kam die Mutter mit einer Schüssel voller mit Sägespänen gestreckten Haferbrei daher. Mit einem nachdrücklichen Wumms ließ sie sie vor Alberics Latz fallen, sodass es in alle Richtungen spritzte. »Wird dir eh nicht reichen, du unersättliches Biest!«, zischte sie scharf. Alberic brach in Tränen aus und Warin legte schützend einen Arm um seine Schultern. »Was soll das nur?«, fragte er entrüstet. »Hat er was Falsches getan?« »Zerbrich dir nicht den Kopf über Dinge, die du sowieso nicht verstehst«, mahnte der Vater. »Solange eure Beine unter meinem Tisch baumeln, hab ich hier das Sagen. Und jetzt wird gegessen!« Warin stopfte sich schweigend seinen Brei in den Mund. Er hatte das Gefühl, dass er seine Eltern nicht aus den Augen lassen sollte. Der Hunger schien sie langsam wahnsinnig zu machen. Er konnte es ihnen nicht mal verübeln. Warin selbst merkte, wie seine Kräfte nachließen, sein Kopf immer langsamer und zäher wurde. Jede Nacht träumte er von Speisen und Sonnenschein, nur um mit einem knurrenden Magen an einem weiteren grauen Morgen aufzuwachen.
Später ging Warin mit seinem Bruder zurück in ihr gemeinsames Zimmer, um ihm warme Kleidung anzulegen. »Warin«, flüsterte Alberic dort mit zitternder Stimme und streckte die Arme nach ihm aus. Warin umschloss ihn fest. Natürlich spürte er, dass ihn die Eltern ablehnten. Ihre Gleichgültigkeit ihm gegenüber schien sich in einen ungezügelten Hass verwandelt zu haben. »Was auch immer geschieht, ich bin bei dir«, flüsterte Warin seinem Schützling ins Ohr. Selbst, wenn sein Bruder die Bedeutung der Worte nicht verstand, schien er doch die wohlwollende Absicht dahinter zu begreifen und schien etwas beruhigt.
Später schuftete Warin im Hof. Mit den wenigen Kräften, die ihm noch blieben, hackte er Holz. Die Mutter hatte verlangt, er solle neun verschiedene Arten kleinmachen. Warin kannte den Grund nicht, doch gehorchte, ohne ihn zu hinterfragen. Die Eltern waren auch so schon schlecht genug gelaunt. Alberic hatte er nur wenige Meter entfernt hingesetzt, auf einen Haufen Stroh, sodass er nicht direkt auf dem kalten Boden sitzen musste. Er spielte mit kleinen Puppen und war wieder völlig in seiner Welt versunken. Als Warin gerade dazu ansetzte, das nächste Scheit zu spalten, hörte er plötzlich ein Rascheln im Gebüsch. Er drehte sich um. Vielleicht ein hungriges Wildschwein oder Reh auf Nahrungssuche? Etwas knackte etwas weiter links im Unterholz. Warin kniff die Augen zusammen und erkannte etwas Graues davonhuschen. Ihm wurde schwindelig und er setzte sich auf den Baumstumpf, auf dem er das Holz hackte. Warin schüttelte den Kopf. Sein ausgezehrter Verstand spann nun auch schon Wahnbilder. Er schaute besorgt zu Alberic, der müde weiterspielte. Wenn er schon so litt, was machte dieser Hunger dann mit einem so kleinen Kind? Plötzlich hörte er einen Schrei von drinnen. Seine Mutter. »Warin!«, kreischte sie. »Etwas stimmt mit deinem Vater nicht!« Hastig lief er in die Stube und sah prompt seinen ohnmächtigen Vater auf dem Küchenboden liegen. Mit angstverzerrtem Gesicht kniete die Mutter neben ihm, das Ohr auf seine Brust gelegt. »Ich höre keinen Herzschlag. Schnell, hol die Alte Ruth!«, schrie sie. Sofort rannte Warin los. Die eisige Luft brannte in seinen Lungen. War der Weg schon immer so weit gewesen? »Ruth!«, schrie er immer wieder aus vollster Kehle, als er die Hütte in der Ferne erblickte. Als er schon fast da war, ging die Tür auf und die Heilerin kam mit besorgtem Blick heraus. »Was schreist du denn wie am Spieß? Ist etwas mit Alberic?«, fragte sie entgeistert. »Es ist mein Vater. Keine Zeit zum Erklären, komm schnell!« Und so zog er sie wieder zurück zu ihm nach Hause, so zügig es mit einer alten Frau eben ging. Als sie fast beim Hof waren, drang wieder ein Schrei nach draußen. »Das war Alberic!«, keuchte Warin entsetzt. Sie rissen die Haustür auf und stürzten hinein. Der Vater hielt den Kleinen, der einen ganz roten Kopf hatte und aus voller Kehle schrie, an den Beinen über einen großen Topf kochenden Wassers. Die Mutter schichtete zusätzliche Holzscheite unter dem Kessel auf. Die Stube war in das leuchtende Rot der Flammen getränkt. Warin begriff, dass die Eltern ihn getäuscht hatten. Der Vater war kerngesund. »Bei Gott, sie sind schon da. Mach schneller!«, schrie die Mutter den Vater an. »Das liegt nicht an mir, sondern an dem kleinen Biest hier«, schimpfte er und schüttelte Alberic heftig. »Es soll sein wahres Gesicht zeigen! Deine echte Familie soll dich holen kommen, sonst sollst du schmoren!« »Wir haben alles richtig gemacht, wie er gesagt hat!«, sagte die Mutter mit zittriger Stimme. »Die neun Hölzer, das Wasser …« »Seid ihr komplett wahnsinnig geworden?«, schrie Warin. »Wollt ihr ihn etwa essen, ihr Irren?« Die Alte Ruth fasste ihn am Arm. »Nein«, sagte sie eindringlich. »Sie denken, er sei nicht wahrhaftig ihr Kind. Sie glauben, der echte Alberic sei vor langer Zeit durch ein anderes Wesen ausgetauscht worden.« Jetzt wandte sie sich mit vorwurfsvollem Ton an die Eltern. »Ist es nicht so?« »Ja!«, rief die Mutter stolz. »Wir hatten es endlich kapiert, als der noble Herr vorbeigekommen war. Er hat uns von den falschen Kindern erzählt. Widerliche kleine Wesen, die wie Kuckuckseier unschuldigen Menschen untergejubelt werden.« »Die Brut von Elfen oder Dämonen, bösen Wesen, die der Menschenwelt schaden wollen. Deshalb sehen die hinterlistigen Wechselbälger auch immer so seltsam aus«, spuckte der Vater die Worte aus. Heiße Tränen stürzten entlang Warins Wangen herunter. Das bedeutete also dieses Wort, ‘Wechselbalg’. »Der Kopf zu groß, der Hunger unersättlich, die Augen schielend, und insgesamt recht blass und hässlich. Ich hätte es wissen müssen, als du bei der Taufe den Pfarrer in die Hand gebissen hast!«, zischte die Mutter Alberic an. Dessen Gesicht hatte einen leeren Ausdruck angenommen, als sei er schon nicht mehr richtig da. Wie lange hing er schon kopfüber? Der Vater stupste ihn fest in den Bauch. »Ah ja, tu nur so! Ihr tut immer nur so, als wäret ihr klein und zerbrechlich, wie ein Menschenkind. Oder als wärt ihr dumm, aber das ist nur Teil der List!« »Bitte!«, stieß Ruth mit schwacher Stimme hervor. »Bitte, tut ihm nichts! Ihr irrt euch. Wechselbälger gibt es nicht. Manche Kinder sind einfach anders, das macht sie nicht falsch!« »Schweig, du vorlautes Weibsstück«, donnerte sie der Vater an. »Wusste ich’s doch, dass du eine verdammte Hexe bist! Bestimmt steckst du mit den bösen Geistern unter einer Decke! Hältst mich wohl für blöd! Ich schicke dich gleich hinterher in das Höllenloch, aus dem du gekrochen bist!« »Vater ...« Warin bemühte sich, seinen Blick von dessen immer lockerer werdenden Griff an Alberics Beinen abzuwenden und ihm stattdessen in die Augen zu schauen. »Ich flehe dich an. Mein Bruder, dein Sohn, ist ein echter Menschenjunge. Der Hunger ist euch zu Kopf gestiegen und ihr könnt nicht klar denken. Ihr werdet das bereuen!« Der Vater schnaubte verächtlich. »Für deine Gefühlsduseleien ist es zu spät.« Warins Herz machte einen Satz. Jetzt würde sein Bruder in das brodelnde Wasser fallen! Doch stattdessen klopfte es an der Tür. Wumms, wumms, wumms. Drei eindringliche Schläge. »Aha!«, rief die Mutter triumphierend. »Warte noch, Vati! Offensichtlich haben wir die Dunkelwelt erreicht! Warin, lass sie herein!« Warin öffnete die Tür. Ein eisiger Lufthauch kam ihm entgegen. Er hatte durch den Tränenschleier vor seinen Augen Schwierigkeiten, zu sehen. Er rieb sie und als er wieder aufsah, erkannte er … … drei schemenhafte Wesen, von denen ein graues Schimmern ausging. Sie hatten weder Gesichter noch andere Merkmale, die sie voneinander unterschieden. Ihre geisterhafte Form enthielt nur ein stilles Rauschen aus grauen und weißen Punkten, ähnlich dem Anblick des Himmels bei einem abendlichen Schneesturm. Rauschend war auch das leise Geräusch, das von ihnen ausging. Es klang ein wenig wie Sand, der zu Boden rieselte. Ehrfürchtig traten Warin und die Alte Ruth ein paar Schritte zurück. »Was zum …«, murmelte Ruth verwirrt. Selbst sie hatte so etwas noch nie gesehen. »Ich gestehe, da habe ich etwas anderes erwartet«, sagte der Vater. »Aber nun denn, hier habt ihr euren Balg zurück.« Bei diesen Worten setzte er Alberic grob auf dem Boden ab. »Mach schon, kriech zu deiner echten Sippe«, schnaubte die Mutter. Alberic lag erschöpft mit dem Bauch auf dem Boden, sein Körper noch ganz rot von Dampf und Aufregung. Eine ruhige Stimme ertönte, der Warin kein Geschlecht zuordnen konnte. Sie hallte ein wenig, als stünden sie in einer Kirche. »Wir sind gekommen, um unseren Sprössling zurückzuholen«, sagte das Wesen in der Mitte. »Ja, wissen wir. Da liegt er doch«, sagte der Vater ungeduldig. Die Gestalten schwiegen einen Moment. Dann sagte wieder die in der Mitte: »Das ist er nicht.« Die Wesen wandten sich zu Warin. »Du bist es.« Warin fühlte sich wie im Traum. War das real? »Ich? Was? Davon wüsste ich nichts«, stotterte er. Verloren schaute er zur Alten Ruth, doch auch sie blickte genauso ratlos drein wie er. Was waren das nur für Wesen? »Das kann nicht sein«, stieß die Mutter hervor. »Er ist doch der Normale! Ihr irrt euch!« »Ihr wollt uns nur nochmal eins auswischen, indem ihr auch unseren zweiten echten Jungen klaut!«, schimpfte der Vater. Die Wesen ignorierten die Eltern. Nur Warin interessierte sie. »Es ist völlig normal, diese neue Wirklichkeit noch nicht sehen zu können. Das geht allen Sprösslingen so«, hallte es wieder durch den Raum. »Deshalb zeigen wir es dir einfach.« Die Konturen der Wesen begannen, wellenartig zu zittern und das Rauschen wurde immer lauter, bis es plötzlich abebbte. Plötzlich waren da drei vogelartige, menschengroße Kreaturen anstelle der grauen Wesen. Sie standen auf zwei Beinen und hatten große weiße Schnäbel. Schwere Schwingen zierten ihre Rücken. Die Eltern keuchten entsetzt auf. »Wir kommen von einer fernen Welt. Es gibt viel Leben dort und doch sind die Lebensbedingungen harscher als alles, was ihr auf eurem Planeten kennt.« Wieder das Zittern, wieder das laute Rauschen. Die drei wurden zu gesichtslosen, schwebenden Kugeln, an deren bläulichen Körpern lange Arme mit Saugnäpfen herabhingen. »Unsere Spezies entwickelte die Fähigkeit, den genetischen Code eines jeden anderen Lebewesens auszulesen und sich in seine Form zu gießen.« »Was reden diese Dämonen da nur?«, flüsterte die Mutter entsetzt. »Teufelswerk«, murmelte der Vater entgeistert. Wieder verwandelten sich die drei Fremden. Sie glichen nun Wolken, die bei Sonnenuntergang rötlich leuchteten. Ein warmes Pulsieren ging von ihnen aus. »Eine Macht, die uns immer und überall zu den am besten angepassten Wesen machte. Mit der Intelligenz einer höheren Spezies und der Stärke, Geschwindigkeit, und den Sinnen von Tieren.« Sie verwandelten sich wieder, nun in Wesen, die Warin besser kannte, als ihm lieb war. Menschen. Je ein Mann auf jeder Seite, die Gestalt in der Mitte war eine Frau. Sie waren nackt und standen doch völlig schamlos vor ihnen. »Mit jeder Generation eignet sich unsere Art eine neue Spezies an. Doch dafür ist es nötig, dass die Sprösslinge lange genug in der Form dieser neuen Art gelebt haben. Sie müssen das erwachsene Stadium erlangt haben, damit wir genug Einblicke in die Funktionsweise des Körpers und die Lebensweise der Spezies erlangen.« Warin fühlte sich nicht erwachsen. Doch er konnte nicht bestreiten, dass sein Körper es bereits war. Ihm fiel nun wieder ein, dass er vor achtzehn Jahren er in der dunkelsten Nacht des Jahres geboren worden war. »Nachdem wir die prächtigste aller interstellaren Zivilisationen erbaut hatten, zog es uns zu den Sternen. Von Neugier angetrieben, wollen wir alles sein, was dieses Universum je hervorgebracht hat. Wir streben nach der absoluten Weisheit, die nur erreichbar wird, indem man unter die Haut, Schuppen, Federn, Membranen von anderen schlüpft.« »Sternenwanderer …«, flüsterte Ruth ergriffen. »Und du … du bist einer von uns«, sagte die Frau in der Mitte, während sie die offene Hand einladend nach Warin ausstreckte. »Komm mit uns und lasse diesen traurigen Ort für immer hinter dir. Wir versprechen dir, dir so viel schönere zu zeigen.« Warin wurde schwindelig. Die Fremden hatten Wörter verwendet, die er nicht verstand. Und doch begriff er. Wissen flutete seinen Verstand, als wäre ein Damm gebrochen. Es kitzelte ihn unter seiner Haut. Er fühlte sich mit einem Mal eingeengt, als wäre er in einem Sarg eingesperrt und würde gleich für immer begraben. Der Drang, die Form zu wechseln, intensivierte sich. Fühlten sich so Tiere, die von ihren Instinkten gelenkt wurden? Ein Wimmern erklang aus Richtung des Bodens. Warin schaute zu Alberic, der dort noch immer ganz benommen lag. »Was ist mit meinem Bruder?« Die Frau schwieg einen Moment. »Er ist nicht wirklich dein Bruder«, sagte sie dann. »Doch«, entgegnete Warin bestimmt. »Und ich werde nicht ohne ihn gehen.« »Wir sind jetzt deine Familie.«. »Ich will, dass er mitkommt.« Warin ließ sich nicht beirren. Er fühlte eine Enge in der Brust. Seine Haut spannte sich immer mehr. »Du wirst nie wieder allein sein. Fürchte dich nicht.« Warin verlor alle Geduld. Er machte einen Satz in Richtung Alberic. Im Sprung verwandelte er sich zu einem Vogelmenschen. Er packte seinen Bruder und flog über seine Eltern hinweg, die schreiend zu Boden gingen, raste durch die Tür auf der anderen Seite des Raumes hinaus und flog davon. Die Dunkelheit der Nacht verschluckte ihn.
Ruth saß auf ihrem Schaukelstuhl inmitten ihres Gartens. Mit geschlossenen Augen genoss sie den warmen Sonnenschein auf ihrer Haut und lauschte den Bienen, die sich an ihren Blütensträuchern labten. Nachdem Winkelstein im Winter die Hölle durchgemacht hatte, glich dieser Sommer einem Himmel auf Erden. Die Monate nach dem Verschwinden der Jungen waren noch hart gewesen. Ein paar weitere Seelen verlor das Dorf an Hunger und Seuche. Doch die königlichen Propheten hatten sich getäuscht, der Frühling kam früher als erwartet. Und als Ruth eine Methode entwickelt hatte, wie sich das gesunde Korn vom Befallenen unterscheiden ließ, ebbte die Seuche ab. Die Stimmung in Winkelstein war weiterhin angespannt. Die Leute trauerten um ihre Toten und wollten Antworten auf ihr schreckliches Leiden der letzten Monate. Manche trauten Ruth noch immer nicht über den Weg, glaubten, sie hätte den Leuten bewusst ihre Kenntnisse über den giftigen Pilz im Korn vorenthalten, oder ihn sogar absichtlich mit dunkler Magie erschaffen. Weil sie jedoch durch ihre medizinischen Kenntnisse unentbehrlich war, kam ihr ein gewisser Schutz zu. So wagte es gerade niemand, sie öffentlich der Hexerei zu bezichtigen. Sie war gut davongekommen, doch die Einsamkeit schmerzte sie. Sie vermisste die Jungen. Manche glaubten an die Wechselbalg-Geschichte und vermuteten, die dunkle Jahreszeit sei früher vergangen, weil Alberic vertrieben wurde. Doch sie wunderten sich sehr darüber, dass auch Warin spurlos verschwunden war. Die Eltern verloren kein Wort über die schicksalhafte Nacht, in der sie von ihren beiden Söhnen verlassen wurden. Und so trösteten sich die Winkelsteiner im Glauben, das Böse sei vertrieben worden, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, warum der König ihnen nicht mehr durch die dunkle Zeit geholfen hatte. Ruth und ein paar andere kluge Dorfbewohner hatten die Theorie, dass er vor allem seinen Ruf wahren und Aufstände gegen seine Herrschaft vermeiden wollte, indem er Zwietracht unter den Menschen säte. Sie sollten in diesen Zeiten einander anzweifeln, statt ihn. Ihre Gedanken wurden von einem sanften Flattergeräusch unterbrochen. Sie öffnete die Augen und sah einen Vogelmenschen mit einem vertrauten Blick, den sie aus tausenden wiedererkannt hätte. Warin hielt Alberic in den Armen, mit einem Tuch an seinen Körper gebunden. Mächtige Flügel erstrecken sich zum Himmel. »Man könnte dich fast für einen Engel halten«, flüsterte Ruth liebevoll. »Nicht ganz«, lachte Warin. »Die meisten sehen in mir wohl eher einen Dämon.« Dann wurde er ernst. »Ich habe nicht viel Zeit, Ruth. Wir verlassen die Erde noch heute Nachmittag. Sie haben all meine Geschwister auf der Welt eingesammelt. Sie wollen mich bei sich haben und ich konnte sie überzeugen, dass Alberic mitreisen darf.« Ruth hielt die kleine Hand des glücklich glucksenden Alberics umschlossen. »Ich glaube, ihm wird nie wieder eine Grausamkeit geschehen«, sagte sie glücklich. »Ich hoffe, die Wesen der anderen Welten sind nicht so böse wie die Menschen.« Warin seufzte nachdenklich. »Meine extraterrestrische Familie hat mir viel über das Universum beigebracht. ‘Gut’ und ‘böse’ sind nicht sonderlich hilfreiche Worte, um das menschliche Leben zu beschreiben. Ich heiße nicht gut, was meine Menschen-Eltern getan haben, aber ich vergebe ihnen. Nur auf wenigen anderen Planeten gibt es so viel Hunger und Gier, und auf der Erde hat das mit starken Mächten zu tun, die die Mittel des Einzelnen übersteigen. Ich glaube, die Menschen werden sie irgendwann gemeinsam überwinden, doch bis dahin wird noch sehr viel Zeit vergehen.« Er blickte Ruth hoffnungsvoll an. »Umso dankbarer bin ich für Menschen mit Güte, wie du sie besitzt. Erhalte sie dir, und du tust deinen Beitrag zum großen Webteppich, der sich Menschheitsgeschichte nennt.« Er beugte sich zu ihr herunter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann drehte er sich um und flog davon. Etwas verwirrt blieb Ruth zurück. Lange noch schaute sie ihm nach, bis er am Horizont verschwunden war. Traurigkeit, aber auch tiefes Glück, erfüllten sie. Sie hatte nicht all seine Worte verstanden. Aber sie begriff.
Faszinierend um Mister Spock von der Enterprise zu zitieren. Der Text hat mich eingefangen.
AntwortenLöschenwar sehr gut zu lesen.
Ich fand es eher ein Märchen. Hat mir aber gut gefallen. Sprachlich eins A.
AntwortenLöschenEigentlich gefiel mir die Idee, dass ein geistig behinderter Junge in Wirklichkeit ein Alien ist, das sich hier nicht zurecht findet und alles seltsam findet. Und dann die für alle überraschende Wendung! Ich finde, die Geschichte hat alles: Athmosphäre, sympatische Personen, Spannung, Gefühl und am Ende das überraschende Moment. Während des Zuhörens wurde ich hin und her gerissen zwischen Tränen, Empörung und Lachen. Sehr schön!
AntwortenLöschenEine wunderbare Mischung aus Märchen und Science Fiction. Gratulation dem Autor für diese andere Art der Geschichte im Vergleich zu den anderen. Das Thema wurde gut umgesetzt.
AntwortenLöschenIch hatte mich schon gefragt, ob jemand beim Thema außerirdische Kuckuckskinder etwas über Wechselbälger schreibt. Der prä-astronautische Aspekt gefällt mir, ebenso das Setting in der Zeit der Hexenverfolgung. Eine Mini-Eiszeit durch den Ausbruch eines Vulkans gab es damals tatsächlich, allerdings bin ich mir nicht sicher, ob man sich in Europa des Vulkanausbruchs bewusst war. Realistisch ist dagegen, dass die Menschen damals Sündenböcke für diese höhere Gewalt gesucht haben.
AntwortenLöschenDas positive Ende freut mich, wobei mir Warins Verwandlung in einen Vogel jedoch etwas zu albern ist. Anfangs werden die Außerirdischen als grau beschrieben und wenn man das Thema der Wechselbälger recherchiert, kommt man um die Grey-Aliens nicht herum. Das wäre also die realistischere Option gewesen.
Mein größter Kritikpunkt ist jedoch die endlos lange Textwand ohne Absätze. Der Schreibstil ist gar nicht mal das Problem, der ist durchaus gut. Aber die Formatierung erschlägt einen. Außerdem kommt der Autor vor allem zu Beginn häufiger vom Kern der Geschichte ab und verliert den Fokus auf die Hauptcharaktere. Das wird erst in der zweiten Hälfte besser. Statt endloser Beschreibungen kommen endlich Dialoge und die Charaktere beginnen zu handeln. Wenn das durchgängig so wäre, hätte ich hier die Bestnote vergeben können.
Für mich eine der besten Geschichten hier! Hat mich emotional sehr berührt, die Charaktere waren glaubwürdig, das Setting toll, sehr atmosphärisch.
AntwortenLöschenIch komme bestimmt nicht ins Buch. Aber bin trotzdem überglücklich über die Kommentare zu meiner Geschichte. Fazit "Witzig, zu wenig Handlung, kann gut schreiben".
LöschenWas will man mehr? Ich kugele mich vor Wonne.
Das ist doch super :) und danke für deine ausführlichen Kommentare zu jeder Geschichte!
LöschenJaaaaa! Aber später kommen noch mehr Juwelen.
AntwortenLöschen:D Ich hab fast alle durch. Meine Lieblingsgeschichten sind „Der letzte Bahnhof“ und „die Lücke“
LöschenSag mal die Nummer. Ich habe alle fleißig gelesen. Dachte, ich komm da nie durch. Und jetzt vermisse ich die abendliche Lektüre von immer vier Geschichten. Ab der Mitte hätte es für mich noch endlos weitergehen können. Habe fast 10 Lieblinge auserkoren. Neben meiner, aber die ist chancenlos angesichts der Konkurrenz.
LöschenWelches sind denn deine 10 Lieblingsgeschichten? Bin neugierig :-)
LöschenMeine Favoriten:
AntwortenLöschen16
42
43
44
53
55
82
83
90
Also, ich bin das obere Anonyme, haha (die den letzten Bahnhof und die Lücke super findet)
LöschenWir stimmen bei 6 Geschichten überein.
LöschenNe, da sind mehrere dabei, die ich ungeschickt finde. Geschmäcker und Anspruch sind verschieden ...
AntwortenLöschenDieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.
LöschenWas sind denn deine Favoriten?
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