DACSF2025_43

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Nasses Grab

Hamburg, Oktober 1663

Etwas glitt durch das Wasser, ein Schemen ohne Form. Blaue Schlieren wie Tinte auf Papier zogen hinter ihm her. Er streckte einen Arm aus, einer Tentakel gleich, packte zu. Stechender Schmerz. Überall zugleich. Brennen auf der Haut.

Marina riss die Augen auf, japste nach Luft, als sei sie zu lange unter Wasser gewesen. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie warf die Decke von sich, sprang sofort aus dem Bett. Die Kammer schwankte mit ihr, als stünde sie an Deck eines Schiffes. Unter ihren nackten Füßen spürte sie die raue Oberfläche der Holzdielen, die ihr half, die Realität zu greifen. Allmählich legte sich der Schwindel, doch der stechende Schmerz hinter der Stirn blieb, bohrte sich in ihren Verstand. Sie griff sich an den Kopf, um die pochende Stelle zu massieren. Atmete dabei langsam und bewusst, bis das Rauschen in ihren Ohren verging. Da sah sie sie am Handgelenk – drei runde Kratzer, die sich rötlich abzeichneten. Sie fühlten sich leicht erhaben und erhitzt hat, als hätte jemand – oder etwas – eben noch zugepackt. „Genau dort…“ Das Bild des formlosen Wesens blitzte vor ihrem inneren Auge auf, begleitet von einem eisigen Schauer, der ihr den Rücken hinabkroch.

„Beruhig dich“, mahnte sie sich selbst. „Es war nur ein Nachtmahr.“

Sie stieß die beiden Fensterflügel auf, ließ die eisige Oktoberluft ihre Kammer und ihre Lunge fluten. Draußen ging die Sonne über Hamburg auf. Zumindest wiesen die Wolken im Osten einen leicht helleren Grauton auf. Sie zwang sich, an die Aufgaben des bevorstehenden Tages zu denken, alles andere versuchte sie so gut es ging zu verdrängen. Dennoch griff sie immer wieder zum Handgelenk, strich über die drei erhitzten Kreise.

„Guten Morgen, Lene.“ Wenig später nahm Marina ihren gewohnten Platz am Frühstückstisch ein und breitete die weiße Stoffserviette über ihrem Rock aus. „Ist mein Vater bereits aufgestanden?“

„Guten Morgen, Gnädiges Fräulein. Der Gnädige Herr De'Mer ist vor gut einer halben Stunden zum Kontor aufgebrochen.“

Diese Neuigkeit quittierte Marina mit einem leisen Schnauben. „Sicherlich prüft er die Ladelisten, die ich gestern freigegeben habe.“ Sie ballte die Fäuste. „Lass den Kutscher anspannen. Ich fahre zum Hafen.“

„Sehr wohl, Gnädiges Fräulein.“

Während Marina die Passanten beobachtete, rumpelte die Kutsche über das Pflaster der engen Gassen. Überall zeigte sich ihr das gleiche Bild: fahle Haut, trübe Augen, Hoffnungslosigkeit. Ein Mann hustete immerzu, während er Fässer eine Kellerluke hinabrollte. An vernagelten Hauseingängen prangten weiße Kreidekreuze. In der Luft lag ein fauliger Odem, durchsetzt von beißendem Essiggeruch.

Nachdem Hamburg die Wirren des Großen Krieges größtenteils unbeschadet überstanden hatte, hielt die Pest die Stadt nun fest in ihrer Hand. Ganze Familien erlagen der Krankheit binnen weniger Tage. Marina presste ihre Lippen zusammen. „Das wird uns nicht widerfahren.“

Bald hatten sie das Hafenviertel erreicht. Wenngleich kaum Menschen zu sehen waren, stürzte ein immer größeres Stimmengewirr auf sie ein. Erst war es nur ein unbestimmtes Murmeln, dann vereinzelte Wortfetzen, Stöhnen, Schreien. Alles viel zu laut, viel zu nah. Sie presse die Hände an die Ohren, wollte das Dröhnen beenden, doch vergebens.

Kommt, Tochter der Wasser

Zwischen den Fragmenten blitzte immer wieder eine Botschaft heraus, die alle anderen Stimmen für einen Herzschlag verdrängte, die jedoch im nächsten Moment mit voller Wucht zurückkamen.

Das Dröhnen schwill an, füllte ihren Kopf und ihr Sein. Hämmernde Schmerzen hinter den Schläfen. Die Kutsche schwankte, mit ihr die Häuser, die Straße. Ihre Sicht verschwamm. Ein schwarzer Tunnel vor ihren Augen. Ein letzter Ruf im Hinterkopf: Kommt, Tochter der Wasser‘.

„Sie kommt wieder zu sich.“ Die Stimme befand sich über ihr, statt in ihrem Kopf.

In der Ferne kreischten die Möwen, vermischt mit dem hellen Ton von Schiffsglocken. Unter sich spürte sie kratzigen Stoff, die Füße ruhten auf etwas Hartem, einer Holzkiste wie sie vermutete. Der penetrante Geruch von Ammoniak stieg ihr in die Nase, von dem ihr übel wurde. Sie stöhnte leise, drehte den Kopf von dem Fläschchen Riechsalz weg und öffnete blinzelnd die Augen. Die umstehenden Männer atmete erleichtert auf.

„Wie geht es dir, Kind?“ Ihr Vater klang dumpf, wie durch dicke Stoffe.

„Was ist passiert?“, fragte sie, noch ehe sie sich gänzlich aufgesetzt hatte.

„Du bist ohnmächtig geworden. Kannst du dich an etwas erinnern?“

„Da waren … Stimmen. So viele Stimmen. Und dieser Schmerz.“ Das Pochen hallte nun nur noch schwach nach. Ihre Augen wanderten umher, verpackte Handelsgüter, die Arbeiter, die nun wieder ihrer gewohnten Tätigkeit nachging und ihr Vater, dessen Stirn in tiefe Falten lag.

„Welche Stimmen? Meinst du die Leute auf den Straßen?“

Marina wog den Kopf leicht hin und her. „Ich weiß es nicht. Vielleicht habe ich sie mir auch nur eingebildet.“

Ihr Vater half ihr auf. Um sie herum herrschte das gewohnt geschäftige Treiben. Als sie das Wellenrauschen im Hafenbecken hörte, legte sich ein Lächeln auf ihre Züge und das wärmende Gefühl von Heimat erfüllte ihre Brust. Vergessen waren Schmerz, Ohnmacht und Nachtmahr. Tief sog sie nicht nur die Luft, sondern auch die Atmosphäre ein.

„Wieso bist du überhaupt gekommen, Kind?“

Entschlossen wirbelte Marina herum und stemmte die Hände in die Hüfte. „Weil mein Herr Vater mir nicht vertraut, die Bestandsaufnahme allein durchzuführen. Er muss unbedingt alles doppelt prüfen. Dabei habe ich vom Besten gelernt.“

Sein Blick wurde weich, die Stirnfalten glätteten sich. „Du bist eben immer noch mein kleines Mädchen.“

„Das werde ich für dich auch immer sein, aber nicht für den Rest der Welt.“ Auch ihre Stimme wurde sanfter. „Vater, es war dein Vorschlag und so haben wir es beschlossen: Ich fahre allein. Die Reise ist zu anstrengend für dich. Und für mich ist es die beste Gelegenheit, mich zu beweisen.“ Sie lächelte ihn milde an. „Ich weiß, du machst dir Sorgen um mich. Aber bitte, vertrau mir.“

Er schwieg, hin und hergerissen zwischen Sorge und Stolz. Diesen Moment nutzte Marina, nahm sein Klemmbrett und strich routiniert die Ladeliste routiniert ab. Mit ihrer schwungvollen Unterschrift darunter reichte sie es zurück. „Alles erledigt. Die Ware ist bereit zum Verladen.“

„Sehr wohl, Gnädiges Fräulein De’Mer. Das Kontor wird in deinen Händen gut aufgehoben sein.“ Er drückte ihre Hand. „Der Fahrt nach Amsterdam steht also nichts mehr im Wege.“

Auf der Rückfahrt hielt Marina ihre Augen geschlossen, aus Angst, die fremden Stimmen suchten sie erneut heim. Stattdessen konzentrierte sie sich auf das Rumpeln und Schaukeln der Kutsche.

„Lene, bitte bringe mir nachher einen Kräutertee.“

In der Villa angekommen, zog sich Marina sogleich in ihre Schlafkammer zurück. Die Kleider raschelten leisen, als sie Lage um Lage abstreifte. Nur im Untergewand stand sie in der Waschecke vor dem Spiegel. Sie hielt den Atem an, während sie sich von allen Seiten betrachtete. Haut, Haare, Nägel – alles sah aus, wie es sollte. Die Luft entwich ihr in einem langgezogenen Seufzen, die Knie wurden weich. Keine Anzeichen für die garstige Pestilenz. Einzig die Kratzer am Handgelenk glühten, drei rote Kreise untereinander, wie ein Brandmal.

Es klopfte und Lene trat mit einem Tablett ein, von dem der Duft nach Kräutertee und Süßgebackenem aufstieg. Sie hielt inne, als sie Marina im Untergewand erblickte, und sog scharf die Luft ein. „Ist Euch nicht wohl, Gnädiges Fräulein?“ Sie stellte das Tablett ab, begann sogleich, die verstreuten Kleider aufzuheben.

„Ich musste lediglich einen Verdacht prüfen.“

Rasch drehte Marina die Hand mit den rätselhaften Kratzern zum Körper.

„Der Kutscher hat mir von Eurer Ohnmacht am Vormittag berichtet. Vielleicht mögt Ihr Euch ausruhen?“

Marina wollte schon abwinken, da fuhr ein eisiger Windstoß durch das geöffnete Fenster, der gewisperte Worte an ihr Ohr trug. ‚Kommt, Tochter der Wasser. Es ist Zeit.‘ Sie griff sich an den Kopf, taumelte einen Schritt rückwärts, fand Halt an der Waschkommode. Die Kreise am Handgelenk brannten unter der Haut, was sie stöhnen ließ.

Lene war sogleich bei ihr, um sie zu stützen. „Legt Euch hin, Gnädiges Fräulein.“ Sie befühlte beinahe zärtlich ihre Stirn. „Ihr glüht ja förmlich. Ich lasse sofort nach dem Medicus schicken.“

„Nein … es geht schon. Lass mich … nur … “ Kraftlos ließ sie sich auf der Bettstatt nieder und zog die Decke zu sich. „Nur ein wenig Ruhe …“

Bevor sie ging, legte Lene ihr ein nasses Tuch auf die Stirn. Das leise Klacken, als die Tür ins Schloss ging, wurde begleitet von gewisperten Worten.

‚Kommt, Tochter der Wasser. Es ist Zeit.‘

Marina stand in ihrer dunklen Kammer. In der Luft hing ein Hauch von salziger See. Sie rieb ihre Finger aneinander, die nicht ganz solide erschienen. Dicke Tropfen lösten sich davon, platschten auf die Holzdielen. Unter ihrem Rock rann stetig Wasser herab, bildete eine Pfütze, die den ganzen Raum zu fluten drohte. Sie raffte den Stoff, erstarrte bei dem Anblick. Keine Beine, sondern mehrere gekrümmte Säulen aus geformtem Wasser. Ein Rinnsal, das sich den Fluten am Boden anschloss. Sie schrie tonlos, während das Wasser weiter anstieg. Eiskalt umspülte es ihren Körper, stand ihr bald bis zu Brust, die sich unregelmäßig hob und senkte. Die Kälte schnürte ihr die Kehle zu. Sie ruderte mit den Armen, kämpfte gegen den Sog an, der sie nach unten zerrte. Die Striemen am Handgelenk brannten. Der Arm wurde bleiern. Ein letzter Atemzug, ehe ihr Kopf versank. Mund, Nase, Augen hielt sie krampfhaft geschlossen.

‚Lasst los, Tochter der Wasser. Heißt Euer Element willkommen. Sie presste die Lippen aufeinander, noch wollte sie nicht aufgeben. Das Herz hämmerte ihr gegen die Brust, sehnte sich nach Luft. Endlich ließ sie los. Nahm einen tiefen Atemzug. Kleine Bläschen kitzelten ihr Gesicht. Schließlich öffnete sie die Augen. Sie hob die Hände vor das Gesicht, die von bläulichen Linien durchzogen waren. „Wie Tinte in Wasser.“ Einzig die runden Striemen hoben sich dunkel von der blassen Haut ab.

‚Tochter der Wasser. Wir sind bei Euch.

Vor ihr erhobt sich ein wabernder Schemen, dessen Umrisse beständig verschwammen. Der Oberkörper glich einem Menschen, doch darunter verzweigten sich acht Tentakeln. Er hob einen Arm quer vor die Brust, deutete eine Verbeugung an. Sie neigte ebenfalls leicht den Kopf. Angst vor diesem Wesen verspürte sie keine, da war etwas anderes. Etwas Altes. Ein Ziehen, tief in ihrem Innern, als würden sie sich kennen.

„Wer bist du?“

Bilder umspülten ihren Geist, brechende Wellen, spritzende Gischt, verzweigte Korallen. Erst nach und nach verformten sie sich zu Worten.

‚Wir sind Otrin, Herrin. Diener der Obersten.‘ Seine Stimme war machtvoll wie eine Strömung.

„Was bedeutet das?“

‚Wir sind gekommen, Euch in Eure wahre Heimat zu bringen, Tochter der Wasser.‘

Marina wich zurück, erzeugte einen Strudel aus Bläschen. „Solch eine Gaukelei! Ich bin die Tochter eines Kaufmanns. Mein Platz ist hier, bei meiner Familie.“ Demonstrativ verschränkte sie die Arme vor der Brust.

‚Ihr seid so viel mehr als das Kind eines Sterblichen. In Euch ruht die Stimme einer ganzen Welt.

„Ich kenne keine andere Welt. Sucht euch eine andere Herrin. Ich bin Marina De'Mer, Erbin des Kontors. Einzig meinem Vater bin ich verpflichtet.“

Eure Haut ist nur eine Hülle. Sie wird Euren Willen nicht mehr lange halten und zerfließen. Ihr fühlt es bereits.‘ Er zeigte auf ihre durchscheinende Hand. ‚Erwehrt Euch nicht Eurer Bestimmung.

„Meine Bestimmung wähle ich selbst. Ich bin nicht deine Herrin.“

Ihr könnt Euch nicht widersetzen. Flüsse finden stets ihren Weg zurück ins Meer.‘

Marinas Atem ging stoßweise, sie ballte die Fäuste. „Verlasse mein Heim.“ Sie presste die Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. Otrin verharrte, kein Zorn lag auf seinen Zügen, nur Bedauern.

„Hinfort!“ Mit der durchscheinenden Hand machte sie eine scheuchende Geste, von einer massiven Druckwelle begleitet. Otrin verschwand in dem Wirbel. Die Tür flog aus den Angeln, die Wände brachen. Alles Licht erlosch.

„Gnädiges Fräulein, hört Ihr mich?“

Die Decke wurde beiseite gezogen, Lenes Gesicht mit den sorgenvoll zusammengezogenen Augenbrauen war dicht über ihrem. Marina zuckte zusammen, atmete kurz und flach, zitterte, vor Kälte und vor Wut. Aber ihr einziger Gedanke galt ihren Beinen. Sie schlug die Decke komplett weg, atmete beim Anblick erleichtert auf. Nur dieses Wesen … war es real? Was verbarg sich hinter seiner Rede? Sie war ein Mensch … oder nicht?

„Nur … ein Traum.“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Krächzen.

Lene reichte ihr einen Becher mit Kräutertee. „Trinkt, dann geht es Euch besser.“ Dabei musterte sie die runden Male, schwieg jedoch, lächelte sogar leicht. „Erzählt mir von Eurem Traum.“

„Es war zu wirr, als dass ich mich daran erinnern möchte.“ Ein Schaudern erfasste sie. „Ein Tentakelwesen offenbarte mir, die Herrin eines fremden Volkes zu sein.“ Sie winkte ab. „Es war nur ein Traum. Nichts weiter. Eine Fischgräte mag mir den Magen verdorben haben, aus dem sich nun solche Absurditäten schleichen.“

Eine Weile schwiegen sie, während Marina wieder Farbe im Gesicht bekam. Derweil saß Lene auf der Bettkante, beobachtete ihre Herrin und ihren Zustand. „Aber was,“ – sie flüsterte so leise, dass Marina sie kaum verstand – „wenn es doch kein Traum war?“

Bei der Frage wich alle zurückgewonnene Farbe aus Marinas Gesicht. „Das …“ Die Worte blieben ihr im Hals stecken. „Dann werde ich mich weiter wehren. Ich habe Verpflichtungen.“

„Niemand wird Euch zwingen. Und nun ruht Euch aus, damit wir morgen gen Amsterdam aufbrechen können.“ Damit verließ Lene die Kammer. Marina blieb allein mit ihren kreiselnden Gedanken zurück. „Was, wenn es doch kein Traum war?“

Feiner Nieselregen begleitete die Abfahrt der Santa Luisa am nächsten Morgen. Marina betrachtete voller Stolz ihr Schiff. Die hochseetaugliche Fleute wartete bereits schwerbeladen auf die letzten Passagiere. Die Taue knarrten, während sich das große Handelsschiff gemächlich in den Wellen wogte.

„Guten Morgen, Kapitän Heinrich.“ Ihre Stimme klang stärker, als sie sich innerlich fühlte. „Ist alles bereit?“

„Selbstredend. Fehlt nur noch Euer Gepäck.“

Bevor sie an Bord ging, wandte sie sich ihrem Vater zu. „Sei unbesorgt. Ich schreibe dir, sobald wir in Amsterdam angelegt haben.“

„Mein kleines Mädchen wird erwachsen.“ Sein Lächeln spiegelte den Zwiespalt zwischen Stolz und Sorge wider. „Gut Wind und gute Fahrt.“

Marina umarmte ihn fest. Im gleichen Moment hörte sie es wieder. ‚Tochter der Wasser. Es ist Zeit.‘ Sie presste die Lippen aufeinander, zwang sich jedoch zu einem Lächeln. Vor der Stimme verschloss sie ihren Geist, während sie den Steg hinauf schritt, Lene dicht an ihrer Seite.

Kaum war sie an Deck, zerrte der Wind an ihrer hochgewachsenen Gestalt, spielten mit den Strähnen, die sich aus dem Dutt gelöst hatten. Nach kurzer Zeit glänzte ihre gewachste Kleidung regennass, was sie kichern ließ. „Tochter der Wasser.“

Die nächsten Tage passierte die Santa Luisa die Elbe. Dörfer und Deiche wechselten sich ab, verschwanden hinter dichten Nebelschwaden oder lagen sonnenbeschienen am Ufer. Marina hielt sich die meiste Zeit am Bug auf, lauschte dem Wind und den Wellen. Die geflüsterten Worte drängten sich immer wieder dazwischen, wurden mit jedem Tag eindringlicher. Bilder von sturmgepeitschten Wogen, tiefen Meeresschluchten und alles vernichtenden Strudeln begleiteten die Botschaften.

Am vierten Tag glitt die Santa Luisa an Cuxhaven vorbei. Die Masten knarrten, die Segel blähten sich im Wind. Trotz der stürmischen See war es für die Mannschaft Routine. „Geht doch besser unter Deck, Gnädiges Fräulein.“ Der Kapitän musste gegen den Sturm anschreien, doch Marinas Entschluss war ihr im Gesicht abzulesen. „Ich bleibe.“ Als Tochter der Wasser scheute sie kein Wetter.

Am Mittag lag der enge Fluss hinter ihnen, vor ihnen öffnete sich die weite Nordsee. Die Insel Neuwerk mit ihrem imposanten Leuchtturm verschwand hinter dichten Regenvorhängen. Der Sturm riss an ihren Kleidern, aber ein inneres Ziehen, als riefe die See selbst, ließ sie ausharren. Die sturmgepeitschten Wellen, die sich höher und höher auftürmten, fesselten ihren Blick.

Ein Ruck erschütterte die Fleute. Der Bug schleuderte gen Backbord. Holz splitterte, Taue ächzten, Segel rissen. Eine Welle schwappte über das Deck, riss Kisten, Fässer, Besatzung mit sich. Vor ihnen tat sich ein gewaltiger Strudel auf, drohte das gesamte Schiff zu verschlingen. Ein solches Phänomen war hier gar nicht möglich. Wo kam diese Naturgewalt her?

Marina klammerte sich an die Reling. „Halte ein!“ Ihre Stimme ging im Tosen unter. „Ich bin die Tochter der Wasser! Ich bin deine Herrin! Verschone meine Mannschaft! Lass ab von meinem Schiff!“

Wassermassen drückten die Schiffswände zusammen. Die Masten brachen. Der Rumpf brach auseinander. Die Fluten stürzten über dem Wrack zusammen.

Mit einem Mal war alles still und dunkel. Bis zuletzt hatte sie sich an der Reling festgekrallt, das Schiff hatte sie mit in die Tiefen gerissen. Ihre Gedanken kreisten um die, die sie verloren hatte. Sie hätte mit ihnen ertrinken sollen, doch sie atmete frei. Keine Panik, keine Atemnot, immerhin war sie in ihrem Element. Langsam öffnete sie die Augen, betrachtete das Bild der Zerstörung. Gesplitterte Planken schwebten träge an ihr vorbei, Kisten sanken gemächlich auf den Grund, aus aufgeschlagenen Fässern sickerte roter Rebensaft. Zwischen den Wrackteilen verteilten sich leblose Körper. Gesichter vor Schreck verzerrt, Glieder unnatürlich verkrampft, Augen starr.

Otrins langgezogene Gestalt glitt geschmeidig zwischen den Wrackteilen hindurch. Vom oval geformten Kopf bis zu den ausgestreckten Tentakeln maß er sicher zwei Köpfe höher als sie. Erneut nahm er einen Arm vor die Brust und verneigte sich leicht.

Folgt mir, Tochter der Wasser. Hier gibt es nichts mehr für Euch.

Trauer und Wut legten sich bleiern auf ihre Brust. „Weil du alles zerstört hast! Mein Schiff! Meine Mannschaft! Und Lene!“ Ihre Stimme grollte einer Druckwelle gleich durch das Wasser. „Du hast sie alle getötet!“

Es musste geschehen. Ihr werdet mein Handeln verstehen, wenn wir zurück in Unserer wahren Heimat sind. Die übrigen sind bereits versammelt.

„Welche übrigen?“

Ein flammend roter Schweif leuchtete wie ein Feuer zwischen den Trümmern.

‚Herrin.‘

Marina wirbelte herum. „Lene? Wie …?“

Verzeiht mein Schweigen, Gnädiges Fräulein.‘ Lene glitt heran, vollführte ebenfalls die formelle Verbeugung vor Marina. ‚Ich war stets an Eurer Seite als Eure Hüterin. Wir kamen gemeinsam mit einer ganzen Generation hierher. Ihr solltet verborgen in Sicherheit wachsen.

„All die Jahre wusstest du …?“

Mir hat es das Herz zerrissen, Euch im Dunkeln zu lassen. Doch nun müsst Ihr mit uns kommen. Ich bitte Euch, wehrt Euch nicht länger.‘

„Lene, du weißt, ich kann nicht fort, selbst wenn ich es wollte. Mein Vater …“

‚Nun, der Gnädige Herr … er Die Pestilenz

Hier gibt es nun nichts mehr für Euch.

Otrins Worte wogen schwerer als aller Verlust. Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Ihre Tränen vergingen in der See. Sie hatte alles verloren. Nein, ihr war alles genommen worden. Und nun sollte sie mit diesem Wesen mitgehen? Einfach so?

Bedenkt Euer Gefäß, Herrin. An Land würdet Ihr zerfließen. Nur in den Wassern der Heimat bleibt Euer Sein erhalten. Wir mussten Euch von Euren Fesseln hier erlösen, um Euch zu retten.‘

Sie spürte, wie ihr die Tränen nicht nur aus den Augenwinkeln kamen, sondern auch über das ganze Gesicht liefen. Sie hob die Hände hoch, die kaum mehr als solche zu erkennen waren. Ihre Beine hatte beinahe jegliche Farbe verloren.

Herrin, bitte.‘ Lene griff nach dem Rest Hand, der noch übrig war.

„Ich bin nicht eure Herrin.“ Sie schaute stur auf ihre Hände, auf die dunklen Kreise am Handgelenk. „Ich bin Marina De'Mer.“

9 Kommentare

  1. Auf jeden Fall extra Punkte für Originalität! Die Geschichte im Mittelalter spielen zu lassen ist originell. Der Text ist stilistisch einwandfrei, die alte Sprechweise gut nachempfunden und insgesamt das historische Flair gelungen. Dass nicht so recht Spannung aufkommen mag, liegt wohl an der Aufgabenstellung, denn die Kuckuckssache wäre eigentlich ein Pointe, nur gehr sie nicht, weil man es vorher weiß – und damit sind alle Storys hier gehandicapt.
    Toll sind in der Geschichte die Figuren, die Aliens weniger, da allzu menschlich. Mit dem offenen Ende kann man leben. Angenehm zu lesen, vor allem wegen des gekonnten Stils.

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    1. Das Mittelalter ging bis ins 15. Jahrhundert, die Geschichte spielt im 17. Jahrhundert. Das wäre also die Renaissance-Zeit.

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    2. Irgendwie geht das mit der historischen Einordnung drunter und drüber. Die Geschichte trägt sich im Jahr 1663 zu, also im Barock. Die zeitlich am nächsten liegende Pestepidemie in Hamburg war 1712 nach meinen Recherchen.
      Warum wird die Geschichte zeitlich falsch angesiedelt? Das bisschen Mühe hätte man sich machen können.

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  2. Muss mich XL anschließen — durch die Aufgabenstellung der Ausschreibung ist zwangsläufig schon etwas vorweggenommen und zu einem echten Überraschungseffekt kommt es daher nur schwer, egal bei welcher Geschichte.
    Diese hier ist nett zu lesen, und durch die historische Zeit etwas ausgefallener. Also eine gute Erzählung.

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  3. Das Historische hat mir auch gut gefallen - mal etwas anderes. Logisch fand ich vieles nicht. Z.B. wird sie auf der Strasse ohnmächtig. Trotzdem will sie mit der Handelsware nach Amsterdam schippern und der sonst so besorgte Vater ist einverstanden. Schade, dass nicht Korrektur gelesen wurde, es gibt einige Dopplungen, z. B. "...und strich routiniert die Ladeliste routiniert ab."
    Aber das schmälert nicht die Idee an sich. Den offenen Schluss (sowas mag ich gar nicht) kann ich hier gut akzeptieren, obwohl Marina keinerlei Chance hat, sich für ihr Irdenleben zu entscheiden.

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  4. Mir haben die Wasserbeschreibungen richtig gut gefallen! Und die Vermischung von Hanse, Historie und Aliens gelingt super, finde ich.

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  5. Auch wenn wir des Rätsels Lösung schon kennen, bleibt die Geschichte trotzdem noch spannend: Diese fremde Wesenheit, die an Marina zerrt, andererseits das Leben, das sie sich aufgebaut hat... Sehr schön.

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  6. Der historische Rahmen ist interessant, allerdings nicht gut recherchiert. Die große Pestepidemie wütete in der Mitte des 14. Jahrhundert, nicht im 17 Jahrhundert. Die maritime Herkunft der Protagonistin ist auch eher abstrakt. Besteht sie aus Wasser? Okay Menschen bestehen größtenteils aus Wasser, aber eben nicht nur. Mich erinnert die Beschreibung an das intelligente Wasser aus „The Abyss“. Und wieso glauben die Aliens, ihr Kind wäre auf der rückständigen Erde besser aufgehoben? Und sie an eine fremde Umgebung zu gewöhnen, geht hier wieder mal nach hinten los, da sich Marina auf der Erde heimisch fühlt.

    Potential sehe ich vor allem in den lebhaften Beschreibungen. Der Stil ist gut und ich habe nur einige Flüchtigkeitsfehler entdeckt, die aber normal sind. Zum Beispiel:“ Das Dröhnen schwill an“ – okay, i und o liegen auf der Tastatur direkt nebeneinander. Oder: „strich routiniert die Ladeliste routiniert ab.“ Kann passieren, wenn man einen Satz umstellt.

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  7. Interessante Geschichte, es wäre aber schön, wenn man die Handlung besser erklärt. Dass die Wasserwesen Aliens sind, weiss man nur durch die Aufgabenstellung des Wettbewerbs.

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