DACSF2025_41

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Erdbeerblond

Wie langweilig kann man eigentlich sein?

Kopfschüttelnd betrachtete Roval seine Zwillingsschwester Alexis, wie sie draußen in ihrem dünnen Raumanzug auf einem Stuhl saß und sich den Hintern abfror. Ein transparenter Helm versorgte sie mit Sauerstoff und bedeckte ihr rötliches Haar, welches sie stets zu einem züchtigen Pferdeschwanz zusammengebunden hielt.

Sie malte. Landschaftsbilder.

Roval trat näher an die schützende Folie des Habitats und blickte durch die wabenförmige Struktur nach draußen. Er warf einen Blick auf ihre Leinwand. Verschiedenste Rottöne mischten sich ineinander und gaben in groben Zügen die umgebende Felsenlandschaft wieder. Das musste wohl ihr hundertstes Landschaftsgemälde sein. Auf allen Bildern sah er nur rostrote Felsen, Staubschichten und Kraterkanten.

Nichts von diesem unsäglichen Planeten, welchen die Menschheit seit nun hundertfünfzig Jahren ihr Zuhause nannte, war es in seinen Augen wert, gemalt zu werden. Auch wenn das anfängliche Marshabitat sich in den letzten Jahrzehnten zu einer respektablen Kleinstadt entwickelt hatte, war für Roval alles hier isoliert und beengt. Er hatte jedes Modul schon hunderte Male betreten, kannte den Lageplan in- und auswendig.

Sein Blick ging zurück zu seiner malenden Schwester.

Alexis lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und betrachtete ihr Werk. Auch wenn ihre Pinselführung mit der Zeit überraschend akkurat geworden war, sahen die Bilder für Roval doch alle gleich aus. Keines hob sich ab, oder stach gar heraus. Roval war es unverständlich, wie man nur so seine Zeit verschwenden konnte. Die beiden waren zweieiige Zwillinge und hatten sich neun Monate lang den Platz im Bauch ihrer Mutter geteilt. Doch ab da endeten die Gemeinsamkeiten der beiden Geschwister.

Er wandte sich von Alexis ab und folgte dem halbkreisförmigen Tunnelgang weiter bis zum Wohnmodul seiner Familie. Vor der Schiebetür blieb er wie angewurzelt stehen. Angespannt hielt er die Luft an und dachte nach. Er hatte gerade den Eignungstest für die Aufnahme ins Scout Team abgelegt. Und war durchgefallen. Auf ganzer Ebene versagt, traf es eher. Seine Prüfungsergebnisse waren unterirdisch gewesen. Doch es half nichts, er konnte das Unvermeidliche nicht weiter aufschieben. Also öffnete er die Tür mithilfe seines Fingerabdrucks und trat ein.

»Wie geht es unserem frischgebackenen Scout-Kadetten?«

Beim Blick in die vor Freude glänzenden Augen seiner Mutter wurde ihm schlecht. Mit zusammengepressten Lippen wandte er sich ab.

»Roval, was ist los?«, fragte ihn seine Mutter sogleich. »Ist bei dem Eignungstest etwas schiefgelaufen?« Vorsichtig kam sie einen Schritt auf ihn zu. Sein Vater blieb, wo er war. Doch seine Augenbrauen verschwanden vor Überraschung unter seiner braunen Lockenpracht.

Hitze schoss in Rovals Wangen. »Nun ja… um ehrlich zu sein, habe ich nicht so gut abgeschnitten, wie erhofft«, ließ er mit leiser Stimme verlauten.

Dabei hatte ihn die Aussicht, ins Scout Team der Stadt aufgenommen zu werden, einen enormen Aufschwung verliehen. Er hatte die Schule mit überraschend guten Noten abgeschlossen, den ganzen Sommer über trainiert und sich mit Geologiekram beschäftigt. Die Vorstellung, diese öde Zeltstadt endlich zu verlassen und draußen in der freien Wildbahn auf Entdeckungsreise zu gehen, hatte verlockend geklungen.

»Du kannst ja nächstes Jahr nochmal antreten, wenn du das möchtest«, meinte seine Mutter leise und versuchte einen Arm um seine Schultern zu legen.

Doch er wich aus. Mitleid konnte er gerade gar nicht gebrauchen. »Kann ich nicht!«

»Wieso nicht?«, fragte sein Vater ernst.

Unkonzentriert, ungeduldig, absolut nicht teamfähig. Die harsche Beurteilung des Majors geisterte immer noch durch seinen Kopf. Er hätte sich während seiner Vorbereitungen wohl mehr auf die soft skills konzentrieren sollen. Kurzum hatte man ihn für den gesamten Ausbildungspfad gesperrt.

»Vielleicht kannst du dich ja auch im Labor für die Bodenproben bewerben, so wie deine Schwester«, versuchte seine Mutter vorzuschlagen, als er keine Antwort gab.

»Ich wollte da sowieso nie hin! Den ganzen Tag im Dreck wühlen und in der Kälte herumirren. Wer will das schon?«, rief er verbittert und lief in sein Schlafmodul. Mit Wucht klatschte er gegen den Türschalter und beobachtete, wie die Milchglasscheibe vor ihm langsam in den Dichtrahmen glitt. Resigniert ließ er sich auf die Schlafkoje seines fünfquadratmetergroßen Zimmers fallen.

Seine dämliche Schwester. Natürlich hatte sie ihren Laboreignungstest vor zwei Tagen mit Bravour bestanden. Ohne sich überhaupt dafür anstrengen zu müssen. Doch er würde sicherlich nicht den Rest seines traurigen Lebens im Labor verbringen, um dort Steine und Dreck zu sortieren.

Ein schnelles Klopfen riss ihn aus seinen trüben Gedanken. »Roval, komm heraus. Wir haben Besuch!«, die Stimme seines Vaters klang immer noch angespannt.

Überrascht hob Roval den Blick von seiner weißen Modulwand. Besuch, um diese Uhrzeit? Er erhob sich von seiner Schlafpritsche und zupfte an seinem blauen Overall herum. Angespannt betrat er das zentrale Wohnmodul der Familie.

Zwei Herren in seltsamen Anzügen, wie er sie nur von sehr alten Bildern kannte, saßen am weißen Küchentisch der Familie. Sie trugen schwarze Hosen und offene Jacken mit Schulterpolstern, welche in der Mitte den Blick auf ein weißes Hemd mit Kragen freigaben. Um den Hals trugen sie eigenartige, schwarze Bänder, die ihnen bis zum Bauchnabel reichten. Auch wenn Roval nicht alle zehntausend Einwohner von Red Town kannte, war er sich sicher, diese beiden Herren noch nie zuvor gesehen zu haben. Sie mussten aus einem geheimen Modul der Basis stammen. Oder sogar von noch weiter weg.

Zwei dampfende Tassen Tee standen unangetastet am Tisch. Rovals Mutter drückte sich an der Küchenzeile herum und blickte skeptisch auf die beiden Männer in schwarz.

»Ist er das?«, stieß der linke Herr plötzlich hervor und blickte direkt in Rovals Augen. Mit seinen strengfrisierten, schwarzen Haaren und dem pfeilgeraden Scheitel wirkte er, als wäre er direkt aus der Zeit gefallen.

Rovals Blick schossen zu seinem Vater. Dieser nickte langsam. »Das ist mein Sohn, Roval.«

Diese Erklärung galt für gewöhnlich als überflüssig, denn er hatte nicht nur die dunkelblauen Augen seines Vaters geerbt, sondern auch dessen markantes Kinn und seine braungelockten Haare. Er war seinem Vater regelrecht aus dem Gesicht geschnitten.

Die beiden Männer am Küchentisch tauschten bedeutungsschwere Blicke aus. Dann galt ihre Aufmerksamkeit wieder Roval. »Hervorragende Assimilationsarbeit!«, stieß der rechte Anzugmann enthusiastisch hervor und nickte ihm aufgeregt zu, wofür er von seinem Kollegen einen Stoß in die Rippen kassierte.

Irritiert beobachtete Roval die beiden Männer. »Wer sind Sie?«

»Oh, wie unhöflich von uns, wir haben uns noch gar nicht vorgestellt. Du musst verzeihen, wir kommen nicht oft in diese Gegend. Mein Name ist Mr. White«, der linke Anzugmann deutete auf sich selbst, »und das ist Mr. Brown«, erklärte er mit einem Nicken in Richtung seines Kollegen. »Wir sind hier, um dir zu gratulieren. Du hast ein Stipendium an unserer Hochschule gewonnen!«

»Ein was an ihrer wo?« Roval stutze. In ganz Red Town gab es keine Hochschule. Nach ihrem Pflichtschulabschluss wurden alle Jugendlichen in einem Sektor des Habitats ausgebildet. Natürlich nur, wenn sie vorher den Eignungstest bestanden hatten, wie sich Roval schmerzhaft in Erinnerung rief. »Es gibt keine Hochschule auf dem Mars«, setzte er an.

»Nein, nicht hier auf diesem Planeten«, lachte Mr. White. »Wir sind über den intergalaktischen Link angereist. Unser Heimatplantet, Spektral-O-ton, liegt sieben Millionen Lichtjahre von hier entfernt. Die menschliche Population ist dort wesentlich größer als hier auf diesem Wüstenplaneten. Für das kommende Semester haben wir beschlossen, an unserer Einrichtung Auslandsstudenten zuzulassen und das Komitee hat entschieden, dich einzuladen!«

Roval starrte wie ein Felsklotz auf die beiden Männer am Küchentisch. »Sie sind Aliens?«, fragte er schließlich ehrfürchtig. Sollte dies ein Scherz sein?

»Nun, ja, nein – wie man es nimmt, würde ich sagen«, setzte Mr. Brown mit einer Erklärung an, »Wir sind Menschen, wie du und deine Eltern. Vor hundert Jahren, als der Kontakt zwischen der Erde und dem Mars abriss, lebten noch einige Millionen Menschen auf unserem Ursprungsplaneten. Doch die Zustände auf der Erde wurden zunehmend lebensfeindlicher, bis selbst die kühleren Reservate im Norden nicht mehr bewohnbar waren. Kurz vor dem finalen Kollaps der Zivilisation, schickten die letzten Menschen ein Schiff ins All, ziellos. Es war wohl eine Tat der Verzweiflung. Doch sie hatten unvorstellbares Glück, denn sie fanden den intergalaktischen Link, eine Art Autobahn zwischen den Sonnensystemen, und das Schiff gelangte ans andere Ende der Galaxie. Nach Spektral-O-ton, um genau zu sein.«

Stille legte sich über das Küchenmodul.

Schließlich trat Rovals Vater einen Schritt nach vorn und keuchte mit rauer Stimme: »Das klingt ja unglaublich!« Kopfschüttelnd betrachtete er seine Gäste. »Sie stammen vom anderen Ende der Galaxie? Aus einer menschlichen Gesellschaft?« Verblüffung war in seinem Gesicht zu lesen.

»Genau so ist es!« Mr. Brown nickte euphorisch mit dem Kopf und breitete die Arme aus. »Nach hundert Jahren der Isolation ist nun die Zeit gekommen, um wieder in Kontakt zu treten.«

»Sie können meinen Jungen nicht mitnehmen!«

Rovals Mutter stieß sich mit wackeligen Beinen von der Küchenzeile ab und stellte sich vor Roval. »Das kommt nicht in Frage!« Ihr Gesicht war ungewohnt bleich und ihre Hände zitterten vor Aufregung.

Etwas pikiert rutschte Mr. White auf seinem Stuhl hin und her. »Madam, Sie müssen doch einsehen, dass dies eine außergewöhnliche Chance für Ihren Jungen ist…«

»Nein!«

»Ich komme mit!« Energisch schob Roval seine Mutter beiseite und trat nach vor. Er brauchte nicht mehr zu hören. Er hatte sich entschieden. Das war genau die Chance, auf die er sein Leben lange gehofft hatte und er würde sie ergreifen.

Schockiert wandten seine Eltern sich ihm zu. »Darüber werden wir erst unter vier Augen reden müssen«, sprach sein Vater mit wackelnder Autorität. Roval sah, dass nun auch seine Hände zitterten.

»Nein, müssen wir nicht. Ich möchte dort hin! Es ist meine Gelegenheit, von hier wegzukommen und die werde ich nutzen!« Nach dem heutigen Tag und der Schmach beim Eignungstest erschien ihm das Erscheinen der beiden Anzugmänner regelrecht als ein Zeichen. Es war ihm vorherbestimmt, nach Spektral-O-ton zu reisen.

»Ausgezeichnet! Dann wäre das ja geklärt. Du hast eine Stunde Zeit, um zu packen, dann fliegen wir los. Hopp, hopp – sonst kommen wir im Interlink in den Pendlerverkehr und das wäre mühsam.« Zufrieden klatschte Mr. White in die Hände und stand auf.

Eine Stunde? Das ging nun doch etwas zu schnell für Roval. Doch bevor er etwas sagen konnte, waren Mr. White und Mr. Brown zur Tür hinaus und ließen die Familie wie vom Donner gerührt zurück.

»Roval…«, begann seine Mutter mit einem flehenden Unterton in der Stimme und machte einen Schritt auf ihn zu.

Doch Roval drehte sich auf dem Absatz um und lief in sein Schlafmodul. Hektisch drückte er auf den Türknopf und die Schiebetür glitt zu. Er würde sich von seiner Entscheidung nicht abbringen lassen. Sicherlich war es besser, gleich abzureisen, als sein Vorhaben stundenlang zu überdenken. Rasch griff er nach seinem Rucksack und packte wahllos ein paar seiner Habseligkeiten ein. Unterwäsche, Overalls, seinen Habitatfunker, Stifte und Papier. Viel besaß er ohnehin nicht. Würde das Kommunikationsgerät auf Spektral-O-ton überhaupt funktionieren? Und was für ein Klima herrschte dort? Er hielt inne und dachte nach.

Ein leises Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken. Roval betätigte den Schalter. Die herzförmigen Gesichtszüge seiner Schwester Alexis tauchten vor ihm auf. »Dad hat mich reingeholt. Er sagt, du gehst weg?« Sie starrte ihn an. Ihre großen, grünen Augen schimmerten verdächtig. Nervös zwirbelte sie an einer Strähne ihres erdbeerblonden Haars.

Ein Kloß bildete sich in seinem Hals. Auch wenn er seine Schwester nicht wirklich ausstehen konnte, fühlte er sich plötzlich schlecht. Sein Aufbruch kam ihm auf einmal viel realer vor.

»Ja, ich gehe nach Spektral-O-ton. Man hat mir dort ein Stipendium angeboten. Sie holen mich in wenigen Minuten ab.« Wieso fiel es ihm plötzlich so schwer, seine Stimme nicht zu verlieren?

»Oh«, war die einzige Antwort, die seine Schwester zustande brachte. Sie starrte ihn weiterhin aus ihren Kulleraugen an, ohne sich zu rühren.

Schließlich wurde Alexis von ihrer Mutter zur Seite geschoben. Ihr Gesicht war tränenüberströmt und sie zog Roval in eine feste Umarmung. »Wir werden dich so vermissen!«, schluchzte sie in seinen Haaransatz und drückte ihn dabei so fest an ihre Brust, dass er kaum Luft bekam.

»Ich komme ja wieder zurück. In den Ferien, oder so…«

Nun quetschte sich auch noch sein Vater in sein viel zu kleines Schlafmodul und umarmte ihn mitsamt seiner Mutter. »Roval, ich bin stolz auf dich! Dies ist eine einmalige Gelegenheit. Ich habe immer gewusst, dass du etwas Außergewöhnliches in deinem Leben vollbringen wirst. Der erste Marsianer auf Spektral-O-ton. Was für eine aufregende Reise! Die Geschichtsbücher werden sich an dich erinnern.«

Die Glocke ertönte und die gesamte Familie zuckte zusammen. »Es kann doch unmöglich schon eine Stunde vergangen sein?« Rovals Mutter blickte mit rotgeränderten Augen auf die Uhr.

»Ich kann das nicht mitansehen!«, schluchzte Alexis und lief in die Nasszelle nebenan. Ihr leises Weinen verstummte, als sich die Schiebetür hinter ihr schloss.

Roval schritt zur Eingangsschleuse und öffnete die Tür. Vor ihm standen Mr. White und Mr. Brown und strahlten ihn mit unerwarteter Wärme an. »Bist du bereit?«

Mit ja zu antworten wäre eine glatte Lüge gewesen. Trotzdem nickte er tapfer und drehte sich zu seinen Eltern um. Sein Vater hielt nun seine Mutter umklammert und beide winkten ihm mit einem schwachen Lächeln zu. »Auf Wiedersehen, wir vermissen dich jetzt schon!«

Roval griff nach seinem Rucksack und der Sauerstoffmaske und trat durch die Schleuse des Wohnmoduls. Es ging tatsächlich los. »Gehen wir«, sagte er mit gespielter Zuversicht und beschleunigte seine Schritte, um von seinem Zuhause wegzukommen, bevor ihn der Mut verließ.

»Ausgezeichnet, ausgezeichnet«, brummte Mr. Brown zufrieden und legte ihm den Arm um die Schultern. »Es ist schön, dich endlich bei uns zu haben. Komm, wir gehen zum Schiff. Es parkt gleich hinter eurer Sporthalle.«

Aus den Augenwinkeln bemerkte Roval, wie sich Mr. White eine Träne von der Wange wischte.

»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte er stutzig. Wieso war der Kerl so gerührt? Er machte doch bloß seinen Job.

Ein leises Schniefen war die Antwort. »Wir haben so lange darauf gewartet, dich endlich abholen zu können!«

Eigenartig, dachte Roval bei sich. Doch die beiden stammten immerhin von einem anderen Planeten. Vielleicht waren Tränen ein Ausdruck von Vorfreude auf Spektral-O-ton.

Aufgeregt ließ er das Wohnviertel seiner Familie hinter sich. Er wanderte mit den beiden Anzugmännern durch die halbrunden Foliengänge von Red Town. Um sie herum brummten die Generatoren und bliesen dreiundzwanziggradwarme Luft in die Zeltstadt. Roval warf einen Blick durch die transparente Folie, hinaus auf die karge Marslandschaft. Er würde den roten Staub und die Felsen sicherlich nicht vermissen.

Nach einigen Minuten erreichten sie die große Kuppel von Red Town – das Zentralmodul. Von hier aus führten alle weiteren Bereiche sternförmig weg, hinein in die verworrenen Tiefen der Stadt. Roval und seine Begleiter durchquerten das Stadtzentrum und ließen die verschiedenen Läden, Bistros und Freizeiteinrichtungen zügig hinter sich. Ob Spektral-O-ton mehr zu bieten hatte als ein minimalistisch ausgestattetes Kinotheater und eine Schwebekegelbahn? Roval würde es bald herausfinden.

Sie verließen den Stadtplatz in Richtung der Sporthalle. Die beiden Anzugmänner waren nun verdächtig still und steuerten zielstrebig auf die Seitenschleuse neben der Sporthalle zu. Roval zog sich seine Sauerstoffmaske über das Gesicht und folgte den beiden in die Schleuse. Ein lautes Sausen leitete den Atmosphärenwechsel ein und Roval wartete geduldig auf den Pieps. Die zweite Tür öffnete sich mit einem Schnurren und sie traten ins Freie. Roval griff nach seinen Ellbogen und versuchte sich gegen die Kälte abzuschirmen, die unter seinen Overall kriechen wollte.

Unweit des Sportmoduls sah er das Schiff parken. Vor Überraschung blieb er mitten in der Bewegung stehen und keuchte auf. Er spürte einen Aufprall. Mr. Brown war prompt in ihn hineingelaufen.

»Oho, mein Sprössling, was ist denn los? Ach, das Schiff? Ich nehme an, du hast noch nie eins gesehen? Es ist nichts Besonderes. Lediglich ein RBG-X2, ein schmächtiges Mittelklassemodel. Der Ionenantrieb ist zwar ganz nett, aber die Flüssigwasserstoffeinspritzung lässt ordentlich zu wünschen übrig. Es dauert ewig, den Hintern aus der Atmosphäre zu bekommen. Du wirst es gleich sehen. Aber wir müssen es ja nur bis zum Entrypoint des Interlinks schaffen, den Rest übernimmt dann die Physik«, brabbelte Mr. Brown munter vor sich hin.

»Es ist sehr… farbenfroh«, hauchte Roval. Wobei farbenfroh eine sehr diplomatische Beschreibung für das neongrüne Schiff mit den orange-blauen Streifen war. Roval wandte den Blick ab. Ihm taten bereits die Augen weh.

Mr. Brown wühlte in seiner linken Hosentasche herum. Schließlich zog er ein kleines, schwarzes Kästchen heraus und drückte auf einen der wenigen Knöpfe, die darauf zu sehen waren. Mit einem piep-piep gingen die Lichter des Schiffs an und die Tür schwang auf.

»Alles einsteigen, es geht los!«, rief Mr. Brown enthusiastisch und krabbelte auf allen vieren über die steile Treppe nach oben.

Rovals Atem beschleunigte sich. Er folgte Mr. Brown ins Innere des Schiffs. Plötzlich stieg Panik in ihm hoch. Sein Vorhaben war schwer überstürzt. Er wurde durch die Tür des Schiffs geschoben und auf einen leeren Stuhl gedrückt. Seine letzte Chance umzudrehen, verpuffte mit dem Klicken des Fünfpunktgurtes, den Mr. White gerade vor seiner Brust verschloss. Die Inneneinrichtung des Schiffs war genauso farbenfroh gehalten wie die Außenverkleidung. Roval betrachtete die himmelblaue Innenwand mit den sonnengelben Monitoren und den Drehreglern in purpur und flieder. Sein Blick fiel durch die orange-rot genieteten Fensterflächen, hinaus auf die Marslandschaft und das Habitat. Zitternd sah er zu, wie die beiden Männer ihre Plätze einnahmen und Mr. Brown das schwarze Kästchen auf das Schaltpult legte.

»Vollgetankt, wie bestellt. Wunderbar!« freute sich dieser und begann an den Knöpfen und Reglern des Pults zu hantieren. Mit einem lauten Fauchen erwachten die Triebwerke zum Leben.

Das ganze Schiff begann zu wackeln und zu beben und Roval krallte sich instinktiv an der Lehne seines Sitzes fest. Das Fauchen wurde immer lauter, bis sich schließlich die Landschaft draußen zu bewegen begann. Langsam gewannen sie an Höhe. Das Schiff kämpfte sich Meter für Meter in die Luft. Mr. Brown wirkte konzentriert in seinem Tun und Roval wagte es nicht, ihn bei der Steuerung des Schiffs zu unterbrechen.

Währenddessen entfaltete Mr. White eine Karte, welche unzählige helle Punkten auf dunklem Hintergrund zeigte, und studierte sie eingehend. »Nach sechstausend Höhenmeter musst du rechts«, ermahnte er seinen Kollegen.

»Ja ja, ich weiß«, gab dieser genervt zurück und zog den Steuerknüppel näher an sich heran. Sie wurden immer schneller und verließen die dünne Atmosphäre des Mars.

Als sie der Gravitation des Planeten entkommen waren, aktivierte Mr. Brown den Ionenantrieb, gab Koordinaten in das System ein und lehnte sich zurück. »So, das wäre mal geschafft. Wir haben einen zehnstündigen Flug vor uns. Da bleibt uns genug Zeit, um dich einzuweihen, Roval.«

Er schenkte ihm einen bedeutungsschweren Blick und machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach. »Was wir dir in Red Town erzählt haben, entspricht nicht ganz der Wahrheit. Wir stammen zwar von einem Planeten namens Spektral-O-ton, aber wir sind keine Menschen, sondern Spektrale. Wir sind polychromophor, das heißt, wir können uns optisch jeder Lebensform angleichen, der wir begegnen. Der Prozess heißt Assimilation. Es ist ein angeborener Reflex. Du magst es vielleicht schon vermutet haben, Roval, auch du bist ein Spektral, unser Abkömmling!« Tränen der Rührung glänzten in Mr. Browns Augen, als er voller Stolz zu Roval blickte. »Wir sind gekommen, um dich heimzuholen. Du musst uns alles über deine Zeit auf dem Mars erzählen. Wir können es kaum erwarten alles über dich zu erfahren!«

Roval war wie vom Donner gerührt. Zum zweiten Mal an diesem Tag geriet sein Weltbild aus den Fugen. Konnte das wirklich die Wahrheit sein? Oder hatte er sich gerade von zwei Verrückten ins Weltall entführen lassen? Nun dachten sie auch noch, er wäre ihr Sohn.

Mr. White legte ihm fürsorglich eine Hand aufs Knie. »Es wird alles gut, du wirst es sehen. Sobald wir auf Spektral-O-ton gelandet sind, wirst du dich automatisch der Atmosphäre dort anpassen und deine Ursprungsform annehmen. Sie ist, nun ja, etwas farbenfroher als das menschliche Aussehen. Es dürfte dir nicht schwerfallen. Du bist ein Naturtalent in Sachen Assimilation! Sag mir, wie hast du das mit dem Rotstich hinbekommen? Diese Wellenlänge ist am schwersten zu assimilieren. Ich war fast dreißig, bis meine Fingernägel nicht mehr rot waren. Doch du hast nicht einmal rote Schneidezähne. Hervorragende Arbeit!«, redete er aufgeregt auf Roval ein.

Roval blickte verdattert in Mr. Whites Gesicht. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Doch tief in seinem Inneren wusste er, dass die beiden Anzugmänner die Wahrheit sprachen. Er hatte sich schon immer anders gefühlt, fehl am Platz. Nun bekam er endlich die Antworten, nach denen er sein Leben lang gesucht hatte.

Doch das Ganze ergab für ihn keinen Sinn. »Aber warum das alles? Wenn das wahr ist, wieso habt ihr mich auf dem Mars ausgesetzt?« Der Gedanke schmerzte ihn plötzlich, als er ihn laut aussprach, und er hoffte auf eine plausible Erklärung.

»Wir haben dich nicht ausgesetzt, wir haben dich untergeschoben!«, antwortete Mr. Brown sofort, so als hätte er auf diese Frage gewartet. »Wir alle verbringen unsere Kindheit und Jugend auf einem fremden Planeten, um dort die Gepflogenheiten kennenzulernen. Außerdem kann man eine Spezies nur fehlerfrei assimilieren, wenn man sie bereits seit der frühen Kindheit kennt. Die Informationen, die du auf dem Mars gesammelt hast, sind von großem Wert für unsere Gesellschaft, aber dazu später.

Auch wir beide, Umbra und ich, waren in unsere Kindheit auf einem anderen Planeten. Dort haben wir uns auch unsere Decknamen zugelegt. Mr. Brown hier heißt eigentlich Umbra Mokka und mein Name ist Ivory Linen. Doch die Menschen auf der Erde waren nahezu farbenblind. Deshalb haben wir es etwas vereinfacht. Und du, Roval, sobald wir auf Spektral-O-ton gelandet sind, wirst du unser kleiner Ocker sein.« Ein verträumtes Lächeln stahl sich auf Mr. Whites Gesicht.

»Ihr wart auf Mutter Erde?«, fragte Roval entgeistert. Der Ursprungsplanet der Menschen galt seit mehr als hundert Jahren als unbewohnbar. Roval kannte nur Bilder vom ehemaligen Zuhause seiner Spezies. Meist waren darauf riesige Wälder, Wasserfälle und Städte aus Glas und Beton zu sehen. Die Menschen konnten ohne Sauerstoffmasken nach draußen gehen und auch in der Nacht blieben die Temperaturen weitgehend über dem Gefrierpunkt. Es musste ein Paradies gewesen sein.

»Ja, wir wurden dort abgesetzt, um den Planeten kennen zu lernen. Das ist jetzt knapp zweihundert Jahre her. Unsere Spezies altert unter den richtigen Umständen sehr langsam. Ach, das war eine wilde Zeit dort! Schade, dass der Planet vor die Hunde ging. Du hättest es sehen sollen, die Musik und die Partys waren unübertroffen. Und die Menschen erst, oh sie waren fabelhaft! Haben so unerbittlich an ihren Zielen gearbeitet, bis – naja – es halt zu viel geworden ist. Sie konnten ziemlich hartnäckig sein, diese Erdenmenschen.« Ivory schwelgte in seinen Erinnerungen, seine Augen glänzten.

Roval hörte gebannt zu. Doch das Ganze erschien ihm immer noch sehr absurd. »Aber warum tut ihr das? Welche Informationen erhofft ihr euch davon?«

Plötzlich wurden die beiden ernst. »Hauptsächlich tun wir es wegen des Goldes. Aber auch wegen der Diamanten und des Platins.«

Verwirrt blickte Roval auf sein Gegenüber. Was waren die beiden? Weltraumpiraten? »Wegen des Goldes?«, wiederholte er ungläubig.

»Ja, unsere Spezies ist hoch konvertibel aber leider auch sehr reaktiv. Das heißt, wenn wir mit minderwertigen Materialien in Berührung kommen, bauen wir sehr schnell ab«, sagte Umbra.

»Wir altern dann rapide«, erklärte Ivory.

Umbra räusperte sich und setzte seinen Vortrag fort. »Und das möchte nun wirklich keiner. Also bauen und produzieren wir alles aus hochwertigen Materialien, Gold und Platin hauptsächlich. Diamanten für transparente Gegenstände. Unsere Atmosphäre besteht zu hundert Prozent aus Argon, ein Schutzgas, das uns zusätzlich konserviert. So werden wir oft an die tausend Jahre alt!

Leider gibt es auf Spektral-O-ton kein Gold. Und auch kein Platin und keine Diamanten. Welch eine unglückliche Fügung… Doch in anderen Welten gibt es diese Materialien in Hülle und Fülle! Also haben wir es über die letzten Jahrhunderte hinweg perfektioniert, unsere Leute in den ressourcenreichen Welten einzuschleusen und den Abbau von Edelmetallen und Edelsteinen zu fördern.

Mit sechszehn holen wir unsere Abkömmlinge für einige Jahre zurück nach Spektral-O-ton, um ihnen das Wichtigste in Sachen Bergbau und Politik beizubringen. In diesem Alter ist es eigenartigerweise besonders leicht, unsere Abkömmlinge den Pflegeeltern zu entreißen. Es hat sich noch nie jemand groß beschwert, wenn wir unseren Nachwuchs abholen kommen. Nach einigen Jahren geht es dann zurück zu den Pflegeeltern und unsere Leute beginnen eifrig damit, den Abbau von Ressourcen voranzutreiben und innerplanetarische Konflikte zu schüren.«

»Je unsicherere die Zeiten, desto größer das Interesse an Gold«, erklärte Ivory zufrieden. »Als wir das herausgefunden haben, explodierten die Förderzahlen nahezu! Es war herrlich! Leider war der Plan eher kurzsichtig gedacht, denn wir haben es auf der Erde etwas übertrieben mit den Konflikten. Aber wer hätte schon ahnen können, dass sich die Menschheit tatsächlich selbst auslöscht?« Ivory schüttelte den Kopf. »Sehr bedauerlich. Aber zum Glück gibt es auch beträchtliche Ressourcen auf dem Mars. Wir müssen zwar unser Netzwerk neu aufbauen, aber das wird es wert sein. Es wird die Aufgabe deiner Generation sein, Roval, unsere zukünftigen Ressourcen zu sichern.«

Roval hörte immer noch angestrengt zu. Langsam ergab das Ganze einen Sinn, auch wenn ihm die Lebensgeschichte der Spektrale äußerst skurril erschien. Er versuchte sich mit dem Gedanken anzufreunden, ein Außerirdischer zu sein. Trotzdem störte ihn ein wesentlicher Punkt in der Geschichte. »Es gibt kein Gold auf dem Mars. Und auch kein Platin und keine Diamanten. Wir stellen dort fast alles synthetisch her oder benutzen den roten Sand zum 3D-drucken von Gegenständen. Wir haben eine kleine Baumwollplantage für unsere Kleidung, aber das ist dann auch schon alles.«

»Oh, es gibt Gold auf dem Mars. Massenhaft! Ihr habt es nur noch nicht gefunden. Unsere Sensoren zeigen riesengroße Reservoirs an Edelmetallen in der Nähe der Polkappen. Du musst nur einen Weg finden, dorthin zu gelangen!«, meinte Umbra mit großen Augen.

»Dort ist es aber arschkalt!«, entfuhr es Roval. »Niemand wagt sich so weit weg von der äquatorialen Klimazone!«

»Du wirst schon einen Weg finden«, meinte Umbra zuversichtlich und warf einen Blick aufs Steuerpult. »Oh, wir nähern uns dem intergalaktischen Link. Wir sollten jetzt ruhig sein, die Reise durch den Interlink ist alles andere als angenehm.«

Noch bevor Roval fragen konnte, was daran so schlimm sei, wurde er in seinem Sitz nach vorn gerissen und dann mit enormer Kraft nach hinten gedrückt. Er versuchte zu keuchen, doch kein Laut entkam seiner Kehle. Panisch versuchte er nach Luft zu schnappen. Plötzlich verschwamm alles rings um ihn herum und er war damit beschäftig, sich nicht in die Schwerelosigkeit zu übergeben. Er konnte nicht sagen, wie lange dieser Zustand anhielt. Es fühlte sich an, wie eine kleine Ewigkeit. Doch plötzlich wurde er wieder nach vorn gerissen und seine Umwelt begann Form anzunehmen. Was für eine scheußliche Art zu Reisen!

Er blickte aus dem Fenster und wusste instinktiv, dass sie da waren. Vor ihrem Schiff schwebte ein Planet, der nur Spektral-O-ton sein konnte. Seine Oberfläche war zitronengelb, durchzogen von fleckenartigen Erhebungen in fuchsia, gletscherblau und rostrot. Ein sonderbarer Anblick, dachte Roval.

»Uff, gut, dass wir da sind«, keuchte Umbra. Sein Gesicht hatte eine ungesunde Farbe angenommen und sein schnurgerader Scheitel war verrutscht. »Wir treten gleich in die Atmosphäre ein.«

Roval machte sich auf eine holprige Landung gefasst, doch der Landeanflug verlief unerwartet ruhig. Sobald er Details erkennen konnte, verschlug es ihm vor Staunen die Sprache. Die Landschaft war unbeschreiblich vielfältig und farbenfroh. Grellgelbe Gebirgsketten wechselten sich mit magentafarbenen Pflanzenarealen ab, welche eine enorme Größe aufwiesen. Manche Teile der Landschaft waren gar von flüssigem Aggregatzustand und besaßen einen Farbton den Roval nicht benennen konnte.

Sie näherten sich urbanem Gelände und die ersten Bauten kamen in Sicht. Nun war Roval vollends überwältigt. Kleine, freistehende Hütten, die immer größer werdenden Komplexen wichen, säumten die Straßen und Wege der Stadt.

Und jedes Bauwerk war aus massivem Gold gefertigt.

Sie flogen weiter, bis die ersten Wolkenkratzer in Sicht kamen. Gebäude mit hundert und mehr Stockwerken schossen in den Himmel empor, allesamt gefertigt aus Gold, das leuchtend in der Sonne glänzte. Der Wert dieser Stadt ließ sich nicht in Zahlen benennen.

»Wir sind im Anflug auf Dijon City, der goldenen Stadt«, verkündete Umbra stolz. »Es ist unsere Hauptstadt.«

»Meine Schwester bräuchte ein ganzes Arsenal an neuen Farben, um das alles malen zu können«, murmelte Roval vor sich hin. Es war nicht in Worte zu fassen.

»Du hast eine Schwester?«, fragte Ivory alarmiert.

Doch Roval hörte nicht mehr zu. Staunend beobachtete er, wie Umbra geschickt eine Schleife über Dijon City drehte und auf ein Flugfeld hinter der Stadt zusteuerte. Sanft setzte er das Schiff auf und stellte die Triebwerke ab.

»Wir sind da«, strahlte er. »Ich werde nun gleich die Tür öffnen und sobald du mit dem Argon in Berührung kommst, wird sich dein Körper an seine Ursprungsform erinnern und sich zurückverwandeln. Mach dich bereit!«

Roval hörte bereits das Fauchen der Tür und sah zu, wie die zentrale Schiebetür entriegelt wurde. Sie glitt auf. Er nahm einen tiefen Atemzug und blickte zu seinen beiden Begleitern. »Was passiert jetzt?«, versuchte er zu fragen, doch seiner Kehle entkamen nur viel zu tiefe, brummende Laute. Was sollte das?

Er atmete nochmals tief durch. Und dann wurde ihm schwarz vor Augen.

Er erwachte zu lautem Gezanke und dem Brummen von Motoren.

»Ich habe mir doch von Anfang an gedacht, dass hier etwas nicht stimmt. Aber du wolltest ja nicht zuhören!«, meckerte Ivory und blickte wütend in seine Sternenkarte.

»Ach, du hast auch nicht daran gedacht zu fragen, ob er ein Einzelkind ist, also sei still!«, fauchte Umbra zurück. Er wirkte äußerst gereizt.

»Fünf Minuten vor der Landung kommt er mit der Information daher, dass er eine Schwester hat! Hätte er damit nicht ein bisschen früher rausrücken können?« Ivory griff sich mit einer Hand an die Stirn und schüttelte den Kopf. »Unfassbar, diese Menschlinge. Sie haben keinen Respekt vor unserer Arbeit. Nun müssen wir das dritte Mal in Folge durch den Link reisen. Das macht wirklich keinen Spaß.«

Roval zog sich in seinem Stuhl hoch. Tatsächlich waren sie wieder im Weltall und steuerten weg von Spektral-O-ton. Was war geschehen? Eben war er doch noch an einem Ort voller Gold und Glanz. Und nun? »Wo fliegen wir hin?«, nuschelte er benommen.

»Zurück, natürlich. Du hast uns angelogen. Wir haben dich Argon einatmen lassen, bis du blau angelaufen bist. Doch du hast dich nicht verwandelt. Ich denke, wir haben das falsche Kind mitgenommen. Ist deine Schwester zufällig in einem ähnlichen Alter wie du?«, fragte Umbra zerknirscht.

»Ja, auf den Tag genau. Wir sind Zwillinge«, erklärte Roval verwirrt. Seine Schwester?

»Zwillinge!«, entkam es Ivory. »Wie konnten wir das nur übersehen?«

Sie verbrachten den Rest der Reise schweigend. Irgendwie überstand Roval den erneuten Flug durch den intergalaktischen Link und auch die Landung auf dem Mars.

Er konnte nicht glauben, dass er erst vor einem Tag hier weggeflogen war und sich nun schon wieder am Ausgangspunkt seiner Reise befand. Sie durchquerten Red Town und liefen direkt auf das Wohnmodul seiner Familie zu.

Umbra und Ivory schienen es auf einmal richtig eilig zu haben. Rovals Inneres war taub. Nun hatte er sich gerade mit dem Gedanken angefreundet, ein Außerirdischer zu sein und plötzlich war seine Schwester die Auserwählte. Von den zehntausend Menschen, die in Red Town lebten, musste es ausgerechnet seine langweilige, biedere Schwester sein. Er konnte es kaum fassen.

Die Tür zu seinem Wohnmodul glitt auf und am Küchentisch saß Alexis tief über ihr Frühstück gebeugt und schaufelte ein Omelette in sich hinein, während sie in einem Kunstmagazin blätterte. Ihre Augen wurden groß, als sie Roval und seine Begleiter eintreten sah.

»Die Haare, die Haare!«, kreischte Ivory sogleich und schlug sich die Hände vors Gesicht. »Sie sind rot!«

Reflexartig griff Alexis nach einer Strähne ihres erdbeerblonden Haares und drehte sich eine Locke um den Finger. Verwirrung war in ihrem Gesicht zu lesen.

Im nächsten Moment war sie von Umbra und Ivory umzingelt die sie an sich zu drücken versuchten und ehrfürchtig ihr rotstichiges Haar berührten. »Mein Sprössling, mein Abkömmling. Endlich sehen wir uns!«, schluchzte Ivory hochemotional und brach sogleich in Tränen aus.

Ein Hauch von Eifersucht stieg in Roval auf. Doch er verscheuchte den Gedanken sogleich wieder. Die Situation war zu bizarr.

Alexis versuchte ihre aufdringlichen Besucher von sich wegzuschieben und machte sich mit einem Aufschrei Platz. »Was zum Henker wollt ihr von mir!«, rief sie empört.

Ivory trocknete sich die Tränen am Jackensaum und nahm am Küchentisch Platz. »Setz dich, Ocker, wir müssen reden«, forderte sie Alexis auf.

Dann begann sie zu erzählen. Roval bekam die Geschichte der Spektrale nun schon zum zweiten Mal zu hören, doch sie erschien ihm immer noch so absurd wie vor wenigen Stunden im Raumschiff.

Alexis hörte aufmerksam zu, stellte nur wenige Fragen und wartete, bis die beiden Spektrale geendet hatten.

»Und deshalb musst du nun mit uns mitkommen«, beendete Umbra seine Ausführungen. »Wir werden dich nach Hause bringen!« Seine Augen glänzten vor Freude und Stolz.

»Nein.«

»Wie bitte?«

»Nein. Ich komme nicht mit. Ich bleibe hier«, erwiderte Alexis ruhig und starrte Umbra direkt in die Augen. »Wenn das alles stimmt, dann hat unsere Spezies zur Auslöschung eines Planeten beigetragen. Die Erde ist unbewohnbar. Zwölf Milliarden Menschen sind gestorben. Und euch fällt nichts Besseres ein, als eure Spielchen auf dem nächstbesten Planeten zu wiederholen? Der Mars ist mein Zuhause, ich werde nicht dazu beitragen, ihn auszubeuten und zu zerstören!« Trotzig hob sie ihr Kinn.

»Aber Ocker, Alexis, Liebes, hast du uns nicht zugehört? Du gehörst hier nicht hin«, versuchte Ivory zu intervenieren.

»Das mag sein«, gab Alexis zu. »Aber ich kann mich trotzdem dazu entscheiden, das Richtige zu tun. Ich werde den Mars nicht ausbeuten. Sieh es als Fortschritt unserer Spezies an. Die Dinge ändern sich nun mal mit der Zeit.«

Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.

»There is no planet C.«

5 Kommentare

  1. Ich mag die Geschichte wirklich gerne! Sie ist gut geschrieben, die Charaktere sind glaubhaft, ebenso wie die Welt, auch wenn der Mars schon etwas Klischeehaft für einen Siedlungsplaneten ist. Aber das tut der Geschichte in diesem Fall keinen Abbruch. Die Geschwisterdynamik gefiel mir jedenfalls besonders gut und den Plottwist habe ich auch nicht kommen sehen. Die beiden Aliens die ihren Sprössling abholen wollen sind auch gut geschrieben und das Thema des Wettbewerbs ist erfüllt, auch wenn es mich interessiert hätte, wie genau sie es geschafft haben ihr Kind unterzuschieben. Es ist nur Schade, dass die Geschichte quasi mittendrinn endet, so wirkt sie doch etwas unabgeschlossen. Und ich verstehe ehrlicherweise auch nicht, warum der letzte Satz auf einmal Englisch ist ^^" Davon abgesehen aber eine sehr gute Geschichte, hat Spaß gemacht zu lesen!

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  2. Ich finde die Geschichte sehr gelungen. Ich habe sie mit Spannung gelesen. Konnte mich gut in Roval hineinversetzen. Er erleidet ein ziemlich wandlungsreiches Schicksal. Erst die verpatzte Aufnahmeprüfung, dann die Auszeichnung durch die Aufnahme auf eine besondere Universität. Dann die Erkenntnis, dass alles doch ganz anders ist. Seine Wandlung, in der er akzeptiert, ein Alien zu sein und ihm plötzlich alles klar wird. Und dann war doch alles ein großer Irrtum. Da ist gefühlsmäßig schon verdammt viel passiert, in der Kurzgeschichte. Sprachlich einwandfrei, null Fehler.
    Den letzten Satz habe ich allerdings in diesem Zusammenhang nicht kapiert, er stört.

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  3. Ich finde den letzten Satz sinnvoll. Das ist ein Spruch aus der Umweltschutz-Szene und bezieht sich normalerweise auf die Erde. Ökos gehen davon aus, dass es keine sinnvolle Option ist, die Erde zu zerstören und darauf zu hoffen, dass wir auch genauso gut auf dem Mars leben können!

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  4. Die Geschichte an sich ist ganz nett, die Aliens haben ein klares Motiv und Alexis‘ Entscheidung am Ende ist super. Leider krankt die Geschichte an einigen himmelschreienden Logikfehlern. Da tauchen zwei ominöse Men in Black auf und wollen Roval mit auf einen fremden Planeten nehmen. Obwohl bisher niemand von einer Erdenkolonie am anderen Ende der Galaxis gehört hat, stellen die Eltern die Story nicht infrage und lassen ihren Sohn einfach so mitgehen. Dabei sind schon die Decknamen Mr. White und Mr. Brown verdächtig. Da kommen einem doch sofort die „Reservoir Dogs“ in den Sinn und das waren Kriminelle!

    Kriminell sind auch die Aliens, die kurioserweise in Real andere Farbnamen haben. Der Name ihrer Heimatwelt „Spektral-O-ton“ ist mir ebenfalls einen Tick zu beknackt. Warum benutzen die Aliens menschliche Wörter und das in solch einer Kombination?

    Ihre Gier nach wertvollen Rohstoffen ist zwar nachvollziehbar, aber nicht die Begründung. Sie altern, wenn sie mit unedlen Dingen in Berührung kommen? Ist das eine Parodie auf Snobismus? Ich sterbe, wenn meine Kloschüssel nicht aus purem Gold ist. Ja, witzig, aber nicht realistisch! Und eine Stadt aus purem Gold würde unter ihrem Gewicht zusammenbrechen. Zumal Gold ein weiches Metall ist. Daraus kann man keine Wolkenkratzer bauen. Man könnte sie höchstens vergolden.

    Der Snobismus wird dann sogar so weit getrieben, dass die Aliens nur Edelgase atmen. Wie das biologisch begründet werden soll? Egal! Und warum hat ihr Raumschiff keine Argon-Atmosphäre? Nur für die Pointe? Ebenso fragt sich, wie Roval lediglich mit einer Atemmaske auf der kalten Marsoberfläche überleben kann, während seine Schwester zuvor noch einen Raumanzug benötigte? Ich will ja nicht zu kleinlich sein, aber hier kommt schon einiges an Ungereimtheiten zusammen. Dabei ist die Ökobotschaft wirklich toll.

    Der Schreibstil kann sich ebenfalls sehen lassen. Nur zwei kleine Tipps: In der englischen Sprache werden Substantive zwar kleingeschrieben, doch übernimmt man englische Begriffe ins Deutsche, werden „soft skills“ großgeschrieben (also „Soft Skills“). Beschreibungen wie „dreiundzwanziggradwarme“ würde ich derweil auseinander schreiben (also „23 Grad warme“). Ansonsten fand ich die Geschichte handwerklich in Ordnung.

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