DACSF2025_39

DACSF2025_39

Mel

Sie sprang mit Anlauf vom Rand ins Becken, und plötzlich waren da nur noch Rauschen und vage, helle Schemen. Hatte sie sich den Kopf angeschlagen? Aber woran? Sie war schon zig Mal so ins Wasser gesprungen, und nie war etwas passiert.

Das Rauschen verdichtete sich zu einem Summen, das sie sanft umhüllte, als würde sie liebevoll in die Arme genommen. Sie fühlte sich getragen, fast hatte sie das Gefühl zu schweben. War sie ertrunken? Aber sie konnte noch immer atmen.

Etwas diffus Schillerndes bewegte sich dicht an ihr vorbei. Sie wollte danach greifen, doch ihre Hand war nicht mehr da. Sie sah an sich herab. Da war auch kein Körper. Nur Licht, ein helles changierendes Strahlen.

Als sie den Kopf wieder hob, blickte sie aus dem Fenster. Perplex drehte sie sich um. Sie saß in ihrem Zimmer auf ihrem Bett. Das Summen war verschwunden und mit ihm auch diese wundervolle Leichtigkeit von gerade eben. Jetzt fühlte sie sich einsam, verlassen und leer.

»Mel?« Ihre Mutter stand in der Tür. »Geht es dir gut?«

»Ja ... natürlich. Warum?«

»Du warst so seltsam, als du vorhin nach Hause gekommen bist. Hast nicht mal ›Hallo‹ gesagt.«

Sie war nach Hause gekommen? Wann? Vom Schwimmbad zurück brauchte sie eine gute halbe Stunde, und sie war doch gerade erst ins Becken getaucht.

»Was ist denn los?«, fragte ihre Mutter und setzte sich zu ihr aufs Bett.

Mel starrte einen Moment aus dem Fenster. »Hattest du schon mal so etwas wie einen Filmriss? Also, ich meine, dass dir ein Stück Zeit fehlt?«

»Habt ihr irgendetwas getrunken?«, fragte ihre Mutter misstrauisch. »Oder geraucht? Mit 16 testet man sich schon mal aus, aber ...«

»Nein. Es ist nur ...« Sie sah zur Seite. »Ich kann mich nicht daran erinnern, vom Schwimmbad aus nach Hause gegangen zu sein.«

»Du bist aber ganz normal zur Tür reingekommen.«

»Das kann nicht sein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich war ... woanders.«

»Und wo warst du?«

»An einem seltsamen Ort.« Sie überlegte, wie sie das beschreiben sollte. »Es war hell. Und es hat gesummt. Und ...«, unsicher sah sie ihre Mutter an, »... ich hatte keinen Körper, sondern bestand vollkommen aus Licht. Aber es hat sich unglaublich toll angefühlt.«

»Du nimmst mich auf den Arm.« Ihre Mutter hatte die Augenbrauen skeptisch nach oben gezogen.

»Natürlich glaubst du mir wieder nicht«, sagte Mel und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Du musst schon zugeben, dass das ein wenig ...« Sie verzog den Mund. »... ungewöhnlich klingt. Wie würdest du denn reagieren, wenn ich dir so etwas erzählte?«

Mel kaute eine Weile auf ihrer Unterlippe herum. »Na ja«, entgegnete sie schließlich. »Ich würde dir zumindest eine Chance geben und dich nicht gleich für verrückt halten.«

»Das habe ich doch gar nicht gesagt.«

»Aber du denkst das«, erwiderte sie trotzig.

Ihre Mutter wollte über ihr ihr Haar streicheln, aber Mel drehte sich weg. »Vielleicht hast du das Ganze ja nur geträumt. Träume können sich manchmal sehr echt anfühlen.«

»Das war kein Traum.«

»Aber einen solchen Ort gibt es nicht.«

»Und wenn doch?«

»Ach, Mel«, sagte ihre Mutter. »Du hattest schon immer eine sehr lebhafte Fantasie.«

Mel rollte die Augen.

»Das ist etwas Großartiges«, schob ihre Mutter schnell nach. »Vielleicht wirst du irgendwann mal eine berühmte Schriftstellerin oder machst Filme oder was auch immer. Aber ich habe das Gefühl, deine Fantasie geht in letzter Zeit ziemlich mit dir durch. Vorige Woche warst du der Meinung, ein Ufo gesehen zu haben, und davor hast du behauptet, die Katze von gegenüber hätte mit dir gesprochen.«

»Das war doch etwas völlig anderes.«

»Ich mache mir langsam ernsthafte Sorgen, ob du Fantasie und Wirklichkeit noch richtig auseinanderhalten kannst.«

»Also denkst du doch, dass ich verrückt bin.«

»Nein. Aber ich glaube, es wäre gut, wenn du mal mit jemandem sprichst, der das professionell beurteilen kann.«

»Ach?«, sagte Mel. »Und du hast ...«, sie malte mit ihren Fingern Anführungszeichen in die Luft, »... so rein zufällig ... schon jemanden im Sinn, mit dem ich da sprechen soll, richtig?«

»Ich gebe zu, dass ich mich schon mal umgehört habe«, erwiderte sie. »Frau Doktor Dahlhoff wurde mir von mehreren Seiten als sehr gute Psychologin empfohlen.«

»Das heißt, das ist schon alles eingetütet?«, fragte sie säuerlich.

»Ich habe bisher nur den Namen, ich habe noch nicht mit ihr gesprochen.«

Mel machte ein grimmiges Gesicht.

»Jetzt schau nicht so. Es geht erst einmal nur um ein Gespräch, mehr nicht. Ich will doch einfach nur, dass es dir gut geht, Okay?«

Missmutig zuckte Mel mit den Schultern.

»Fein.« Sie lächelte ihrer Tochter aufmunternd zu. »Dann geh ich jetzt runter, ruf dort an und frage, wann die Frau Doktor Zeit für uns hat.« Damit gab sie ihr einen Kuss auf die Stirn und verließ das Zimmer.

Mel ließ sich auf ihr Bett sinken und grübelte vor sich hin. Was sie erlebt hatte, hörte sich schon ziemlich seltsam an, wie sie sich eingestehen musste. Doch es hatte sich viel zu real angefühlt, als dass das nur ein Produkt ihrer Fantasie gewesen sein könnte, wie ihre Mutter gesagt hatte. Nachdenklich verzog sie den Mund. Falls doch, wäre das ziemlich übel, denn das würde bedeuten, dass mit ihr wirklich etwas nicht stimmte.

Aber sie war nicht verrückt!

Oder doch?

Sie seufzte.

Vielleicht war es gar nicht so schlecht, mit einer Psychologin zu sprechen. Sie drehte sich auf die andere Seite und war plötzlich von Licht umgeben. Auch das Summen war wieder da, allerdings war es nicht mehr so einförmig wie am Nachmittag. Sie konnte unterschiedliche Modulationen wahrnehmen, die sie an den Obertonchor erinnerten, den sie neulich im Musikunterricht gehört hatten. Ihr Lehrer hatte erklärt, dass Menschen durch eine besondere Gesangstechnik zwei Töne gleichzeitig produzieren könnten oder so ähnlich, ganz verstanden hatte sie das nicht.

Je mehr sie sich auf die Klänge einließ, umso mehr hatte sie das Gefühl, dass das nicht einfach nur Musik war, sondern dass eine Bedeutung dahintersteckte. Wie bei einer Sprache, die sie aber nicht verstehen konnte.

Plötzlich war da ein »Hallo«. Oder hatte sie sich das nur eingebildet? Aufgeregt lauschte sie den Klängen weiter, die sich stetig veränderten. Versuchte da jemand, mit ihr zu kommunizieren? Je länger sie zuhörte, umso überzeugter war sie davon. Es sei denn, sie würde gerade träumen, wie ihre Mutter vorhin gesagt hatte. Aber das konnte sie ganz einfach überprüfen. Sie musste sich nur kneifen. Wenn diese neue Welt um sie herum dann nicht verschwand, war alles real.

Noch während sie darüber nachdachte, waren die Klänge intensiver geworden und umschmeichelten sie fast zärtlich. Das war so schön, dass sie beinahe vergaß, was sie vorhatte. Reiß dich zusammen und lass dich nicht ablenken, ermahnte sie sich.

Hier bestand sie aus Licht. Da war nichts, in das sie sich kneifen konnte. Das funktionierte nur mit ihrem normalen Körper. Ob der sich von hier aus beeinflussen ließ?

Sie konzentrierte sich darauf, ihre rechte Hand zu heben. In diesem Moment wurden die Klänge um sie herum unangenehm, als wolle man sie vor dem, was sie vorhatte, warnen. Oder wollte man das sogar verhindern? Das gefiel ihr nicht. Sie sollte hier besser schnell verschwinden, bevor das noch schlimmer wurde. Jetzt wäre es gut, wenn das wirklich nur ein Traum war, aus dem sie nur aufwachen müsste. Sie setzte alles daran, ihren normalen Körper mit der Hand zu kneifen, aber nichts passierte. Dafür wurden die Klänge immer unangenehmer.

Ihr wurde mulmig zumute. Was, wenn sie jemand hier festhielt? Wenn man ihre Seele entführt hatte? Wenn sie nicht mehr zurückkonnte und hier für immer gefangen war?

Da empfing sie eine neue Botschaft, deutlicher noch als das ›Hallo‹ vorhin.

»Du gehörst hierher.«

»Nein«, schrie Mel.

»Bitte?«, fragte Frau Wenders. Sie hatte sich von der Tafel umgedreht.

Verwirrt sah Mel sich um. Wie war sie wieder zurückgekommen? Sie blickte auf ihre Arme, konnte jedoch keine Kneifspuren entdecken. Die anderen in der Klasse kicherten bis auf ihre Freundin Maria neben ihr.

»Möchtest du gerne erklären, wie man diese Gleichung löst?«, fragte die Lehrerin.

»N ... Nein«, entgegnete sie.

»Dann kann ich ja weitermachen«, sagte Frau Wenders und drehte sich wieder um.

Wie viel Zeit hatte sie in der anderen Welt verbracht? Ein paar Stunden? Ein paar Tage? Eine Woche?

»Was ist denn heute mit dir los?«, flüsterte Maria. Als Mel nicht antwortete, tippte sie ihr auf die Schulter. »Hallo? Erde an Mel. Erde an Mel. Hörst du mich?« Da Mel noch immer nicht reagierte, wurde sie etwas lauter. »Du behandelst mich schon den ganzen Tag, als wäre ich Luft. Das finde ich ziemlich scheiße von meiner besten Freundin!«

»Hey, die Damen«, sagte Frau Wenders streng. »Solche Wörter dulde ich in meinem Klassenraum nicht.«

Mel stand auf.

»Möchtest du etwas sagen, Melanie?«, fragte die Lehrerin.

»Nein.« Sie packte ihre Sachen in die Tasche.

Die anderen starrten ihr überrascht hinterher, als sie zur Tür ging.

»Moment«, rief Frau Wenders. »Wo willst du hin?«

»Ich gehe«, sagte sie und öffnete die Tür. Sie musste dringend ihre Gedanken ordnen, und dazu brauchte sie Ruhe.

»Du bleibst gefälligst hier, sonst bekommst du einen Eintrag ins Klassenbuch.«

Mel schlug die Tür hinter sich zu und befand sich im nächsten Moment in einem angenehmen Zustand von Schwerelosigkeit. Leise Klänge begrüßten sie und gaben ihr das Gefühl, geborgen zu sein und frei. Dass sie vorhin Angst gehabt hatte, in Gefahr zu sein, erschien ihr jetzt unsinnig.

Sie sah sich um, konnte jedoch nur unscharfe helle Flecken erkennen, als wäre da ein milchig trüber Vorhang zwischen ihr und dieser anderen Welt. Dafür hatte sie ungewöhnlich intensive Empfindungen. Sie spürte viele unterschiedliche Individuen auf der anderen Seite, von denen eine starke Anziehungskraft ausging. Sie wollte ihnen nahe sein, sich mit ihnen austauschen, verbinden, interagieren, doch der Vorhang wirkte wie eine Barriere, die sie nicht durchdringen konnte. Noch nicht, wie sie vermutete, denn die Wesen auf der anderen Seite luden sie zu sich ein, was sie sehr glücklich machte. Sie musste ihrer Mutter unbedingt davon erzählen, wenn sie dort gewesen war.

Ein kleiner Stich ließ sie innehalten. Würde sie wieder zurückkönnen, wenn sie erst einmal auf die andere Seite gelangt war? Der kleine Stich bohrte sich tiefer in ihre Seele und verursachte immer größer werdende Schmerzen. Dann würde sie ihre Mutter nie mehr wiedersehen, nie mehr mit ihrer Freundin Maria sprechen können. Ihr Leben, alles, was sie bisher gekannt hatte, wäre für immer verloren.

Die Schmerzen steigerten sich ins Unerträgliche. Es war, als würden sich Tausende heißer Nadeln überall in ihren Körper bohren. Sie wollte schreien, doch die Nadeln steckten bereits so tief in ihre Kehle, dass sie keinen Laut hervorbrachte. Panik überfiel sie.

Mit quietschenden Reifen blieb das Auto nur wenige Zentimeter vor ihr stehen. Instinktiv fasste sie nach ihrem Hals, während sie sich erschrocken umsah. Sie stand mitten auf der Hauptstraße. Immerhin auf dem Zebrastreifen.

»Bist du blind?«, rief der Fahrer wütend. »Es ist rot, dumme Göre. Ich hätte dich beinahe überfahren. Sieh gefälligst zu, dass du von der Straße runterkommst.«

Da waren keine Nadeln. Sie räusperte sich. Auch ihre Stimme schien zu funktionieren. Verwirrt ging sie zur gegenüberliegenden Seite und setzte sich dort auf die Bank an der Bushaltestelle.

Der Mann fuhr hupend an ihr vorbei.

Warum hatte man ihr so intensive Schmerzen zugefügt? Das passte überhaupt nicht zu dem freundlichen Miteinander, das sie bis dahin dort gespürt hatte. Sie starrte auf die Straße.

Es sei denn ...

Natürlich. Das war ein Notfall gewesen. Ihrem Körper hatte Gefahr gedroht, und deshalb hatte man sie so schnell wie möglich zurückschicken müssen.

Sie hatte noch gar nicht darüber nachgedacht, was mit ihrem Körper passierte, wenn sie in der anderen Welt war. Wer steuerte ihn? Oder lief er einfach auf einer Art Autopilot? Falls ja, schien dieser Autopilot die Verkehrsregeln nicht zu kennen. Was würde wohl passieren, wenn ihr Körper starb? Würde dann auch ihr Leben in der anderen Welt enden?

Immerhin hatte man sie rechtzeitig zurückgeschickt. Aber das hieß auch, dass sie beobachtet wurde. Diese Wesen schienen mächtig zu sein. Sehr viel mächtiger als Mel. Sie transferierten sie hin und her, wie es ihnen passte, und sie war dem ausgeliefert. Waren das dann doch so etwas wie kleine Entführungen?

Sie schreckte hoch, als ein Bus vor ihr hielt. Die Tür ging auf. Niemand stieg ein, niemand stieg aus. Der Fahrer sah sie fragend an. Als sie nicht reagierte, zuckte er mit den Schultern, die Türen schlossen sich zischend, und er fuhr weiter.

Nein. Wenn das wirklich Entführungen gewesen wären, hätte sie Arglist oder Feindseligkeit spüren müssen, aber dort waren ihr alle sehr wohlgesonnen gewesen. Sie hatte das Gefühl gehabt, genau am richtigen Platz zu sein. Unter ihresgleichen.

Sie stutzte. Wenn das ›ihresgleichen‹ war, wer war sie dann? Was war sie?

Ein Alien?

Nein. Das hätte ihre Mutter ihr doch gesagt. Oder nicht? Warum hätte ihre Mutter sie bei so etwas Wichtigem anlügen sollen? Sie war immer ehrlich zu ihr gewesen. Natürlich war sie Mels Fragen manchmal ausgewichen, etwa wenn Mel einen Sachverhalt ihrer Meinung nach noch nicht hatte verstehen können. So hatte ihr ihre Mutter lange Zeit nicht sagen wollen, warum sie keine Geschwister hatte. Erst als sie elf gewesen war, hatte sie ihr erklärt, dass es dazu nicht nur eine Mutter, sondern auch einen Vater brauchte, und da Mels Vater sie kurz nach ihrer Geburt im Stich gelassen hatte, war das eben nicht mehr möglich gewesen. Warum er verschwunden war, hatte sie ihr aber nicht gesagt, wie ihr jetzt auffiel. Bis heute nicht.

Ein unangenehmes Prickeln lief über ihren Rücken. Was wäre, wenn das eine Lüge war? Wenn sie ein Findelkind gewesen war, das ihre Mutter nur angenommen und aufgezogen hatte, weil sie selbst keine Kinder bekommen konnte. Ein Findelkind, das womöglich von Aliens ausgesetzt worden war. Vielleicht schämte sie sich so sehr dafür, dass sie das nicht preisgeben wollte. Sie musste das dringend mit ihrer Mutter klären.

Aber was, wenn sie falschlag? Würde ihre Mutter sie dann doch für verrückt halten und sie womöglich in eine geschlossene Anstalt schicken? Egal. Das Risiko war es wert, denn wenn sie richtig lag, würde das eine Menge Fragen beantworten.

Entschlossen stand sie auf und ging los. Mit jedem Schritt wuchs ihre Gewissheit, dass ihre Mutter ihr ihre wahre Herkunft verschwiegen hatte. Immer schneller wurde sie, bis sie schließlich rannte.

Mit hochrotem Kopf stürmte sie in die Küche. »Warum hast du es mir nicht gesagt?«, fuhr sie ihre Mutter an.

Überrascht drehte sie sich um. »Was habe ich dir nicht gesagt?«

»Dass ich ein Findelkind bin, das von Aliens ausgesetzt wurde.«

Verdutzt sah sie ihre Tochter an.

Sie wehrt sich nicht einmal, dachte Mel. Also ist es wahr.

»Soll das ein Witz sein?«

»Nein. Es ist mir bitterernst.«

Ihre Mutter atmete tief durch. »Frau Doktor Dahlhoff hat gesagt, dass so etwas passieren könnte, nachdem du beim ersten Termin so apathisch gewesen bist. Aber sie hat nicht gesagt, dass es so heftig sein würde.«

»Bei welchem Termin?«

»Du hast es nicht einmal mitbekommen«, sagte sie besorgt. »Aber du musst dir keine Sorgen machen, dir wird jetzt geholfen. Deine Psychologin hat bereits alles in die Wege geleitet. Morgen früh gehen wir zum Neurologen. Sollte dabei nichts rauskommen, wird ein MRT deines Gehirns gemacht. Der Neurologe wird uns dorthin überweisen. Falls das nichts bringt, ist die dritte Stufe ein EEG. Die Frau Doktor kennt da einen Spezialisten, den sie kontaktiert, falls das notwendig wird. Sollte das alles nichts bringen, bliebe noch die Mariposa-Klinik. Das ist eine Spezialklinik mit ganz neuen Ansätzen für besondere Fälle, hat Frau Dahlhoff gesagt. Dort würdest du stationär aufgenommen werden, damit du eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung hast. Das wäre aber wirklich nur dann, wenn alles andere nicht weiterhilft.«

»Das kannst du knicken, ich lasse mich nicht einsperren«, sagte Mel wütend. »Du lenkst nur ab, um mir nicht antworten zu müssen.«

»Das ist doch Unsinn.« Sie ging auf ihre Tochter zu und wollte sie in die Arme nehmen, aber Mel wich zurück.

»Ich lass mich nicht länger für dumm verkaufen«, rief sie, drehte sich um, rannte die Treppe nach oben und warf sich auf ihr Bett.

Warum wollte ihre Mutter ihr nicht die Wahrheit sagen? Das war so verlogen. Wie gern wäre sie jetzt in der anderen Welt, aber sie hatte keine Ahnung, wie sie dorthin kommen konnte.

Frustriert drehte sie sich auf den Bauch und schwebte plötzlich inmitten einer großen Ansammlung von leuchtenden Gebilden, die sich erschreckend dicht um sie drängten. Das löste zunächst einen Anflug von Panik in ihr aus, der sich jedoch schnell legte, als sie erkannte, dass diese leuchtenden Dinger die Individuen waren, die sie beim letzten Mal hinter dem milchigen Vorhang gespürt hatte.

Nachdem ihr klar geworden war, dass man sie auf die andere Seite der Barriere geholt hatte, begann sie, sich zu entspannen und es zu genießen, mit den anderen dahinzutreiben. Hier und da wurde sie angestupst und stupste zurück, wenn sie nahe genug war. Nach wie vor war alles so unscharf, als wäre sie noch immer hinter dem Vorhang, aber das störte sie nicht. Stattdessen konzentrierte sie sich auf das, was sie hörte. Dabei fiel ihr auf, dass die Klänge bei einer Berührung intensiver waren. Als wollten die anderen sie auf diesem Weg ansprechen, worauf sie natürlich gerne etwas erwidert hätte, doch sie hatte keine Ahnung, was sie gefragt wurde.

Manchmal gab es winzige Augenblicke, in denen sie glaubte, etwas verstanden zu haben, aber im nächsten Moment war alles wieder weg. Das frustrierte sie sehr. Außerdem war es auf die Dauer sehr anstrengend. Irgendwann war sie so erschöpft, dass sie erst einmal aufgeben und sich ausruhen musste.

Während die Klänge sie sanft umschmeichelten, machte sich wohlige Müdigkeit in ihr breit. Das war angenehm. Sie fühlte sich gut und glitt immer tiefer in eine Art Trance, durch die sie sich den anderen näher fühlte, fast so, als gehöre sie zu ihnen. Und mit einem Mal begriff sie den Sinn in den Klängen. Es war ganz einfach, als hätte sie diese Sprache schon immer gesprochen und je weniger sie sich darauf konzentrierte, umso mehr konnte sie verstehen.

Fasziniert saugte sie alles auf, was ihr die anderen mitteilten. Nach einer Weile gelang es ihr, auch zu antworten und Fragen zu stellen. Stück für Stück erhielt sie so ein tieferes Verständnis für diese neue Welt, und mit diesem Verständnis veränderte sich auch ihre Vorstellung von sich selbst, denn ihr wurde bestätigt, was sie vorhin nur vermutet hatte. Diese Klarheit war allerdings erschreckend, weshalb sie den Gedanken weit von sich schob. Aber mit jeder Botschaft, die sie erhielt, verstärkte sich die Erkenntnis, bis sie es nicht mehr verdrängen konnte.

Sie war kein Mensch.

Der Schock dieser Gewissheit zerriss augenblicklich den sorglosen Zustand, in dem sie sich gerade noch befunden hatte, und sie stürzte ins Bodenlose. Panisch suchte sie nach einem Halt, während sie immer schneller in schwarzes Nichts fiel.

Da, endlich bekam sie etwas zu fassen. Stoff. Ein Laken. Verzweifelt krallte sie ihre Finger hinein und fuhr hoch. Schweißgebadet blickte sie um sich.

Sie saß in ihrem Bett. Die Ziffern ihres Weckers zeigten 4:38 Uhr. Wieso war sie wieder hier?

»Du gehörst zu uns!«, hörte sie jetzt einen vielstimmigen Chor, der zu ihr sprach, so klar, so real, als stünden Tausende um ihr Bett herum. Immer und immer wieder wiederholten sie diese Botschaft.

Sie war unfähig, sich zu bewegen, schaffte es nicht, sich die Ohren zuzuhalten, um das stetig anschwellende Mantra aus ihrem Kopf zu verbannen.

Immer lauter wurden die Stimmen, immer intensiver der Klang. Als sie gerade glaubte, es nicht mehr ertragen zu können, dröhnten die Stimmen: »Bereite dich vor! Wir werden dich holen!« Dann herrschte Totenstille.

Nur langsam löste sich ihre Starre. Am ganzen Körper zitternd tastete sie nach dem Lichtschalter neben ihrem Bett, drückte ihn und blinzelte in die jähe Helligkeit.

Um sie herum war niemand.

Sie war allein.

»Was ist denn mit Dir?«, fragte ihre Mutter am nächsten Morgen beim Frühstück. »Du isst gar nichts. Hast du keinen Hunger?«

Teilnahmslos blickte sie auf den Teller vor sich und starrte dann wieder ins Leere. Nachdem die Stimmen zu ihr gesprochen hatten, war sie nicht mehr eingeschlafen, und je länger sie über die Botschaft der anderen nachgedacht hatte, umso mehr hatte sie ihren Schrecken verloren. Mehr noch, es hatte sich immer richtiger angefühlt. Die andere Welt war ihr von Anfang an seltsam vertraut gewesen und jetzt, da sie wusste, dass sie ein Teil davon war, spürte sie eine so intensive Sehnsucht nach diesem Ort, dass es fast schon wehtat.

»Bist du gerade wieder in der anderen Welt?«, fragte ihre Mutter.

Schön wäre es, aber sie wusste noch immer nicht, wie sie dorthin gelangen konnte. Warum holten sie Mel nicht zu sich? Sie mussten doch mitbekommen, wie sehr sie sich das wünschte, so genau, wie sie ihren Körper überwachten. ›Wir werden dich holen‹, hatten sie gesagt. Aber wann? Morgen? Nächste Woche? Nächstes Jahr? Wie lange sollte sie denn noch bei ihrer Mutter ausharren?

»Das ist nicht deine wirkliche Mutter«, sagten die Stimmen.

Überrascht hob sie den Kopf. Hatte sie sich das nur eingebildet? Sie zuckte zusammen, als sie eine Hand auf ihrem Arm spürte.

»Du hast dich völlig verändert, merkst du das eigentlich?«, sagte ihre Mutter. »Manchmal habe ich das Gefühl, du bist nicht mehr meine Tochter.«

Ihre Stimme war für Mel wie ein entferntes Rauschen, das in der übermächtigen Flut ihrer eigenen Gedanken fast unterging. Sie musste sich sehr konzentrieren, um etwas zu entgegnen. »Ich weiß endlich, wer ich bin.« Ihre Stimme war nur ein Flüstern. »Und das fühlt sich unglaublich gut an. Mach mir das bitte nicht kaputt.«

Ihre Mutter zog die Hand wieder zurück. »Das MRT hat keine wirklichen Anhaltspunkte ergeben. Morgen gehen wir zum EEG. Doktor Dahlhoff hat uns bei ihrem Spezialisten angemeldet. Nächste Woche will sie die Ergebnisse mit uns besprechen.«

Mel starrte ins Leere, während sie versuchte, irgendwie Kontakt mit den anderen aufzunehmen.

»Mel«, sagte ihre Mutter energisch. »Mel, schau mich an.«

Mit leerem Blick drehte sie den Kopf zu ihr.

»Diese andere Welt gibt es nicht, hörst du? Sie existiert nur in deiner Fantasie.«

»Du gehörst nicht hierher«, sagten die Stimmen.

»Ich will auch gar nicht hier sein«, rief sie.

»Und wo willst du hin?«, fragte ihre Mutter irritiert. »Wir wohnen hier.«

»Das ist nicht dein zu Hause«, sagten die Stimmen.

Ihre Mutter ergriff Mels Hände. »Du steigerst dich da in etwas hinein.«

Sie riss sich von ihr los, sprang auf und rannte aus der Küche, aus dem Haus, die Straße entlang. Sie rannte und rannte, so schnell sie konnte, und doch war sie nicht in der Lage, die andere Welt zu erreichen. Es war zum Verzweifeln.

Außer Atem kam sie zu einer Bank am Rand eines kleinen Parks, auf die sie sich setzte. Irgendwo in den Bäumen hinter ihr hörte sie den Ruf eines Kuckucks.

»Du bist eine von uns«, waren da wieder die Stimmen.

»Ja, das weiß ich jetzt«, sagte sie erschöpft. »Es tut mir leid, dass ich mich gestern so sehr davon habe erschrecken lassen. Ich möchte in unsere Welt zurück. Bitte holt mich.«

Im nächsten Moment fühlte sie sich schwerelos. Sie war wieder zu Hause. Glücklich blickte sie sich um. Sie schwebte in etwas, das sie an eine Seifenblase erinnerte. Die feine Haut, die sie umgab, erschien ihr allerdings dünner als Seifenschaum, und sie war vollkommen transparent, sodass sie diese Welt nun zum ersten Mal richtig sehen konnte.

Da waren viele solcher Blasen. Oben, unten, rechts, links, vor ihr, hinter ihr, Milliarden von Blasen, die sich sanft bewegten, sich hier und da berührten und wieder auseinanderdrifteten. Aus jeder Blase leuchtete das changierende Licht einer Existenz, wie sie selbst eine war.

Ganz bewusst bewegte sie sich auf andere zu und berührte sie, um sich mit ihnen auszutauschen, über diese Welt, über sich und das Sein im Allgemeinen. So erfuhr sie, dass die Luminoiden, wie sie sich selbst nannten, schon ewige Zeiten in diesem transzendenten Zustand existierten. Sie hatten diese geistigen Fähigkeiten über viele Jahrhunderte entwickelt, bis sich ihr Leben fast nur noch auf dieser Ebene abgespielt hatte. Als ihr Planet dann durch eine Katastrophe zerstört wurde, war dies ihre Rettung.

Da ihr Geist jedoch ohne einen realen Körper nicht lange lebensfähig war, hatten sie sich eine neue biologische Basis suchen müssen, die sie bald bei anderen Lebensformen auf anderen Planeten fanden. Die Spezies war dabei unwichtig, solange der entsprechende Körper in der Lage war, eine bestimmte Stufe von Intelligenz zu entwickeln. Ging dieses biologische Leben zu Ende, musste sich der Luminoide einen neuen Körper suchen, mit dem er eine Verbindung eingehen konnte.

Grundvoraussetzung für eine solche Verbindung war, dass sich in dem neuen Körper ausschließlich das luminoidische Bewusstsein befand. Dazu musste der Körper genau im Moment seiner Entstehung übernommen werden. Wurde dieser Augenblick verpasst, entwickelte sich in dem Körper das Bewusstsein der ursprünglichen Spezies und für den Luminoiden war kein Platz mehr. War die Übernahme erfolgreich, musste der neue Körper reifen, bis er seine vollen kognitiven Fähigkeiten entwickelt hatte, erst dann konnte der Luminoide wieder in den transzendenten Zustand übertreten.

Mit dem Abschluss ihrer Pubertät hatte Mel diese Reife erlangt, weshalb die anderen den Kontakt zu ihr aufgenommen hatten. Doch ein solcher Neustart war schwer. Mel musste sich erst wieder an die transzendente Welt gewöhnen, was nur Schritt für Schritt geschehen durfte, um sie nicht zu überfordern. Darum hatte man sie auch immer wieder zurückgeschickt.

Jetzt war Mels Eingewöhnung abgeschlossen. Um dauerhaft zurückzukehren, musste sie nur noch dafür sorgen, dass ihr biologischer Körper möglichst lange lebte, damit die Phase ihrer Existenz in der transzendenten Welt lange andauern konnte. Und dafür hatte Mel auch schon eine Lösung. Sie würde in die Mariposa-Klinik gehen. Dort waren alle Voraussetzungen gegeben, ihren Körper optimal zu versorgen, während ihr Geist sein wahres Leben lebte.

Zuvor musste sie allerdings ihre Mutter noch davon überzeugen, sie gehen zu lassen. Mel hatte noch keine Ahnung, wie sie das schaffen sollte, aber darüber würde sie sich Gedanken machen, wenn sie wieder vor ihr stand. Jetzt wollte sie zunächst noch eine Weile das unbeschwerte Sein in dieser wundervollen Welt genießen und mit den anderen durch die Unendlichkeit treiben.

Hier war alles gut.

Nichts störte.

So sollte es sein.

So war es schon immer gewesen.

Plötzlich packte etwas nach ihr und schüttelte sie.

»Mel! Mel, hörst du mich?«

Sie erkannte das Gesicht ihrer Mutter und stieß sie von sich. »Was soll denn das?«, herrschte Mel sie an. »Du kannst mich doch nicht einfach so zurückzerren.«

»Jetzt ist Schluss«, sagte ihre Mutter bestimmt und griff nach ihrer Hand. »Du erzählst wirres Zeug, rennst weg, und ich finde dich über zwei Stunden später wie einen Zombie die Straße entlanglaufen. So geht das nicht weiter. Wir gehen zu Frau Doktor Dahlhoff.«

Im ersten Reflex wollte Mel widersprechen. Dann wurde ihr jedoch klar, dass genau das ihr Ziel war. »Ich muss etwas mit dir besprechen, Mama.«

Leider war das Gespräch so verlaufen, wie Mel befürchtet hatte. Ihre Mutter hatte Mels Bitte strikt abgelehnt, ihren Körper künstlich am Leben zu erhalten. Sie wolle eine lebendige Tochter, hatte sie gesagt, nicht nur eine apathische Hülle, deren Besitzerin lieber in irgendwelche absurden Fantasien abtauchte, statt am richtigen Leben teilzunehmen. Mel hatte ihr daraufhin vorgeworfen, engstirnig und egoistisch zu sein, weil sie ihr ein besseres Leben versage, nur um nicht alleine zu sein.

So war es hin und her gegangen, bis ihre Mutter genug gehabt und Frau Doktor Dahlhoff angerufen hatte. Diese war sehr überrascht gewesen und hatte sie gebeten, direkt in die Praxis zu kommen, wo die beiden nun still nebeneinandersaßen.

Im Wartezimmer gab es, außer einem hässlichen Aquarell an der ansonsten kahlen Wand gegenüber ihren Stühlen, nur einen grauen Fußboden und kaltes Neonlicht. Wie trostlos, dachte Mel. Wie viel schöner war es da in der anderen Welt. Wie viel lieber würde sie jetzt mit den anderen durch die Unendlichkeit treiben. Nur für einen kurzen Moment wenigstens, um ihr wahres Sein spüren und ein wenig Kraft tanken zu können.

Sie schloss die Augen und versuchte, Kontakt aufzunehmen, doch niemand sprach mit ihr. Frustriert blickte sie wieder auf das Aquarell. Gab es denn hier noch etwas Entscheidendes für sie zu tun?

Mit ihrer Mutter hatte sie ihre Pläne ausgiebig besprochen. Dass sie ihr nicht gefielen, war nicht so wichtig, denn sie würde nichts dagegen unternehmen können, wenn die anderen Mel nach Hause holten.

Die Psychologin hatte inzwischen alle Stufen ihres sogenannten ›Heilungsplans‹, mit dem sie Mel ›retten‹ wollte, ausgereizt. Als letzte Möglichkeit blieb nur noch die Mariposa-Klinik. Dass sie die Einweisungspapiere unterzeichnen würde, stand für Mel außer Frage. Als Ärztin hatte Frau Dahlhoff gar keine andere Wahl, schließlich hatte sie den hippokratischen Eid geschworen, der sie dazu verpflichtete, ihren Patienten zu helfen. Es war also alles geregelt. Warum meldeten die anderen sich dann nicht?

»Mel, hast Du gehört, was Frau Dahlhoff Dich gefragt hat?« Ihre Mutter hatte die Hand auf Mels Schulter gelegt.

Überrascht sah sie sich um. Wann waren sie in das Sitzungszimmer gegangen?

»Mel?« Die Psychologin beugte sich nach vorn und leuchtete ihr mit einer Taschenlampe ins linke Auge.

Im nächsten Augenblick war sie wieder in ihrer Blase. Endlich. Sie begrüßte die anderen und genoss es, zurück in der Gemeinschaft zu sein.

War das nun der Übergang für immer oder musste sie noch einmal zurück?

»Nein, du gehörst jetzt wieder vollständig zu uns«, beantwortete der ihr inzwischen so vertraute, vielstimmige Chor ihre Frage.

Mel war glücklich. Nur der Gedanke an ihre Mutter versetzte ihr noch einen kleinen Stich. Aber sie war sicher, dass diese sich im Lauf der Zeit damit abfinden würde, dass ihre Tochter nicht mehr wiederkam. Vielleicht würde sie es irgendwann sogar verstehen können.

Der Geruch von Desinfektionsmitteln lag in der Luft des Krankenzimmers der Mariposa-Klinik, in dem Mel in einem Bett lag. Sie sah aus, als würde sie friedlich schlafen. Ihre Mutter saß bei ihr und hielt ihre Hand. Neben dem Bett stand ein Turm mit Geräten, die ihren Körper versorgten und ihre Vitalfunktionen überwachten. Immer wieder piepte es leise, und gelegentlich surrte eine der Maschinen.

»Es tut mir leid«, sagte Professor Ritter, der Leiter der Station. »Ihre Tochter ist so sehr in ihrer Gedankenwelt versunken, dass wir bisher noch keinen Zugang zu ihr finden konnten. Seit vier Wochen testen wir unterschiedliche Medikamentierungen, aber sie hat bisher noch auf nichts angesprochen.«

»Und der Scan ihres Gehirns, den Sie letzte Woche noch einmal durchgeführt haben?«, fragte ihre Mutter. »Sie hatten doch gesagt, dass sich dadurch ein Hinweis auf eine alternative Behandlungsmethode ergeben könnte.«

»Nun ja ...« Der Professor strich über seinen Bart. »Eine kleine Auffälligkeit haben wir zwar entdeckt, doch das ist leider nichts, auf dem sich eine Therapie aufbauen ließe.«

Sie runzelte die Stirn.

»Melanie hat stark erhöhte Aktivitäten im rechten Gyrus parahippocampalis. Das ist ein Teil der Großhirnrinde, der den Hippocampus umgibt. Er ist an der Weiterleitung und der Verarbeitung der Sinneseindrücke beteiligt, die von Augen, Ohren oder dem Tastsinn zum Hippocampus gelangen. Diese Informationen werden dort für unser Gehirn aufbereitet. Alles, was von da kommt, muss Mel für real halten, weil ihr eigenes Gehirn ihr das vermittelt.«

»Mels Gehirn ist also krank?«

»Nein, krankhafte Veränderungen sind das nicht. Es ist nur ungewöhnlich, dass gerade dieser Bereich so starke Aktivitäten zeigt.«

»Und warum?«

»In der Mariposa-Klinik beschäftigen wir uns auch mit Grenzbereichen der Wissenschaft und untersuchen Dinge wie zum Beispiel Telepathie.« Er zuckte mit den Schultern. »Das mag seltsam für Sie klingen, aber die Fälle, die wir hier behandeln, erfordern es, in alle Richtungen zu denken. Verschiedene Studien, bei denen Menschen untersucht wurden, die angeblich telepathische Fähigkeiten haben, zeigten genau in diesem Hirnbereich ungewöhnlich starke Aktivitäten, sobald diese nach eigenem Bekunden in telepathischer Verbindung standen.«

Fassungslos sah sie ihn an. »Wollen Sie damit sagen, dass meine Tochter wirklich mit irgendwelchen transzendenten Wesen in Kontakt steht?«

»Das ist bisher alles nur Theorie. Hier muss noch eine Menge Forschungsarbeit geleistet werden, bis wir belastbare Ergebnisse haben, die belegen können, ob es Telepathie wirklich gibt. Dann müssen wir untersuchen, wie das funktioniert und erst, wenn wir das verstanden haben, können wir beginnen, Therapieansätze zu entwickeln.«

Ihre Schultern sackten herab.

»Die plausibelste Erklärung, die wir momentan für Melanies Zustand haben, ist, dass sie unter einer Extremform von maladaptiven Tagträumen leidet. Menschen mit einer solchen Störung entziehen sich bewusst oder unbewusst der Realität und konzentrieren sich so sehr auf eine eigene Fantasiewelt, dass sie kaum noch etwas aus ihrem realen Umfeld wahrnehmen. Im Normalfall sind das Phasen, die bis zu mehreren Stunden anhalten können. Bei Ihrer Tochter scheint diese Fantasiewelt allerdings so stark geworden zu sein, dass sie den Kontakt zur Realität vollständig verloren hat. Damit wir sie behandeln können, muss sie jedoch ansprechbar sein.«

»Und das bedeutet ...« Tränen liefen über ihre Wangen, als sie den Professor ansah. »Es gibt keine Hoffnung mehr?«

»Aber nein, Hoffnung gibt es immer. Ich würde ihren aktuellen Zustand am ehesten mit dem eines Komapatienten vergleichen, dessen Körper zwar geheilt ist, der aber dennoch nicht aufwacht und ins Leben zurückkehrt.«

»Und wie schafft man es, einen solchen Patienten aufzuwecken?«

»Ich fürchte ...« Professor Ritter neigte den Kopf ein wenig zur Seite. »... wir können nur abwarten. Der Patient muss von selbst zurückkommen wollen.«

Unvermittelt hörte Mel einen Schrei. Das war ungewöhnlich. So etwas hatte sie hier noch nie gehört. Verwundert sah sie sich um, aber egal, wohin sie blickte, gab es nichts Ungewöhnliches. Da waren nur Blasen, die sanft durch die Unendlichkeit schwebten, sich berührten, wieder voneinander entfernten und weiter glitten. Mel war mitten unter ihnen und spürte tief in ihrem Inneren die Gewissheit, dass sie zu dieser wundervollen Gemeinschaft gehörte.

War das jetzt ein eigener Gedanke gewesen? Oder hatte sie den aus einer anderen Blase empfangen? Oder war das eine Erinnerung, aus einer vorherigen Phase im transzendenten Sein? Oder ...

Eigentlich war das egal. Das Einzige, was zählte, war, wieder zu Hause zu sein.

9 Kommentare

  1. Eine interessante Geschichte. Mir gefällt auch das offene Ende.

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  2. Der Wechsel zwischen beiden Welten ist sehr gut gelungen.

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  3. „Mel“ ist professionell erzählt, aber seelenlos.
    Kein Tiefenimpuls, kein Aha-Moment, kein Risiko.
    Sie liest sich wie eine gut gemachte Drehbuchszene, nicht wie ein literarisches Erlebnis.

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  4. Spannend ist, ob die Wahrnehmungen real sind oder nicht. Die Geschichte könnte aber tatsächlich eine wechselhaftere Spannungsführung haben und Wendepunkte.

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  5. Ich fand die Geschichte sehr spannend. Das langsame Annähern von Mel an die andere Welt hat mich gut reingezogen, weshalb ich auch drangeblieben bin. Genau deshalb gefällt es mir auch sehr gut, dass am Ende nicht aufgelöst wird, ob die Wahrnehmung real sind oder nicht. Das offene Schicksal gibt der Geschichte einen anhaltenden Nachklang, finde ich.

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  6. Mir gefällt die Geschichte sehr gut, sie ist professionell und logisch konstruiert, sprachlich schön mit einwandfreiem Text und das offene Ende ist spannend!

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  7. Mel als Charakter hat mich nicht so überzeugt - es wäre sicherlich spannender gewesen, hätte man mehr von ihrem Wesen erfahren, bevor sie so apathisch geworden ist. Dann wäre der Bruch viel größer gewesen und man hätte sicherlich auch mehr mit ihr und ihrer Mutter gefühlt. So ist es, da schließe ich mich dem ersten Kommentar an, leider ziemlich seelenlos. Die Übergänge in die andere Welt haben mir sehr gut gefallen. Am Ende landet sie in einer Art Nirwana und ist happy. Die Erklärung über die Luminoiden fand ich etwas ungelenk hineingeschoben. Dabei war der Start sehr vielversprechend, weil Mel direkt in die Handlung "springt". Die Stärken dieses Textes liegen für mich in den Passagen, in denen sie sich in der Welt der Luminoiden befindet und auflöst. Die irdische Welt dagegen wirkt seltsam flach, uninteressant, konstruiert.

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  8. Mir hat diese Geschichte sehr gut gefallen. Ich konnte mich intensiv in Mel hineinversetzen. Sprachlich ist sie einwandfrei geschrieben. Es liegt ein Zauber über der Geschichte, den ich beim Lesen gespürt habe.

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  9. Die Frage, ob Mel wirklich eine Außerirdische ist oder dem Wahnsinn anheimfällt, ist interessant erzählt und das offene Ende ist gelungen. Zuweilen wirken Mels Erlebnisse wie eine Nahtoderfahrung, woraus sich leider einige Logikfehler ergeben. Zum einen kann die Seele laut allen Nahtodberichten sehr wohl ewig ohne Körper überdauern und das in einer zeitlosen Dimension. Warum diese Wesen einen Körper brauchen, erschließt sich nicht. Ebenso ist es unlogisch und sogar gefährlich, dass sie Mel über Tage hinweg in ihre Dimension ziehen, während ihr physischer Körper auf Autopilot läuft. Warum kontaktieren sie sie nicht einfach in ihren Träumen? Oder verfällt sie die einfach nur dem Wahnsinn? Das wäre die logischste Option. Die Aliens, sofern sie denn real sind, wirken jedenfalls unmotiviert, als würden sie in einem permanenten Rauschzustand leben.

    Hinzu kommen einige kleinere Logikfehler. So kommt Mel mitten auf einem Zebrastreifen zu sich, der Autofahrer, der bremsen muss, verweist sie jedoch auf eine rote Ampel. Ja was denn nun? Wenn sie einen Zebrastreifen überquert, hätte der Fahrer anhalten müssen und dürfte sich nicht beschweren.

    Handwerklich ist die Geschichte gut umgesetzt. Es gibt nicht mal eine Handvoll Flüchtigkeitsfehler, darunter ein doppeltes „ihr“, was für eine unlektorierte Geschichte völlig im Rahmen ist. Der Gesamteindruck bleibt dennoch durchwachsen. Idee und Schreibstil sind gut, die Handlung bleibt nah an der Protagonistin, aber es fehlt etwas.

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