Einer von uns
Die Gasse, die er sich für diese Nacht ausgesucht hatte, war eng und schmutzig. Sie roch nach menschlichen Fäkalien und allerlei Müll. Ratten hausten hier. Ein paar Mal hatte er sie gesehen, aber noch hatten sie ihn in Ruhe gelassen. Wahrscheinlich waren sie zu dem Schluss gekommen, dass er keine Bedrohung für sie darstellte. Noch nicht. Denn es gab genug zu fressen für sie, hier, neben den Tonnen hinter dem Sternerestaurant. Er würde stören. Doch er würde nicht ihre Nahrungsquelle bedrohen. Das mussten sie wissen.
Noch vor einigen Nächten hatte er unter einer der Brücken geschlafen, die über den Main führten, recht flach, denn der Fluss führte ausreichend Wasser. Immer, soweit er sich erinnern konnte. Doch die Nähe zu ihm hatte ihm nicht behagt. Er mochte das Wasser nicht, über das immer ein leichter Wind fuhr. Insbesondere unter den Brücken.
Deswegen war er am Morgen in die Stadt aufgebrochen und hatte diese Gasse gefunden: Drei Seiten mit hohen, dunkelgrauen Mauern und die beleuchtete Straße auf der vierten. Selbst er konnte nicht die Mauern hinaufklettern. Und kein Wind. Und kein Wasser. Es gab nur diesen Hintereingang zu dem Restaurant, in dem er noch nie gewesen war – und in das er wohl nie in seinem Leben gelangen konnte.
Doch wo kamen die Ratten her. Wo lebten sie? Er hatte es noch nicht herausfinden können. Und wenn sie hierher kamen, konnten dann auch andere hierherfinden. Er musste sie beobachten!
Er legte sich auf die Lauer, den Kopf auf dir Arme gestützt, und schloss eines seiner Augen.
Ein Rabe kam herbei, landete auf einer der Tonne, legte den Kopf schief und beäugte ihn. Der Rabe schien ihm nicht zu trauen. Er traute dem Raben nicht. Und den Ratten. Doch die waren noch nicht gekommen. Dazu war es noch zu hell. Und wenn sie kamen, würde der Rabe sicherlich irgendwo schlafen. Auf einem Baum. Mit anderen Raben. Nur er würde alleine zurückbleiben. Alleine mit den Ratten.
Der Rabe schien ihn nun ebenfalls für ungefährlich zu erachten, flog auf eine der vollen Tonnen, pickte darin ein wenig herum und breitete schließlich seine Flügel aus, um mit einem kleinen Stück Fleisch abzuhauen. Er hatte die Tonne schon überprüft, als er gekommen war. Er hatte das Fleisch gesehen, kleine Stücke. Aber es war schon schlecht gewesen. Er hatte es gerochen. Den Raben schien das nicht zu interessieren. Wahrscheinlich konnte er nicht riechen. Oder es interessierte ihn nicht. Raben fraßen wirklich alles.
Langsam wurde es dunkel. Die Schatten waren länger geworden und hatten seine Gasse eingenommen. Doch das störte ihn nicht. Er konnte genug sehen. Auch die eine Ratte, die vorsichtig neben dem Karton stand und in der Luft schnüffelte. Ein Späher. Sie würde die anderen rufen, sobald sie abgeklärt hatte, dass die Luft rein war. Ihn würde sie nicht bemerken. Sein Geruch war bereits Teil der Gerüche dieser Gasse. Sie würden ihn ignorieren. Wie an den letzten Tagen auch.
Die Laterne an der Ecke der Straße schaltete sich ein. Irritiert schaute der Späher hinüber. Doch da war nichts. Dann richtete die Ratte sich auf und stieß das vereinbarte Pfeifen aus. Nun würden sie heraneilen. Er musste Acht geben, woher sie kamen!
Doch sie kamen nicht. Sie waren einfach da, lugten zwischen abgestellten Kartons, unter achtlos gestapelten Plastiksäcken und aus anderen dunklen Ecken hervor und kamen auf ihn zu.
Er überlegte, sie zu verjagen. Dies war seine Speisekammer! Doch sie waren einfach zu viele. Er konnte sie nicht alle besiegen. Nicht alle auf einmal.
Und er wusste immer noch nicht, woher sie kamen!
Dann war plötzlich dieses andere Geräusch da, ein Geräusch, das er nicht kannte. Die Ratten lauschten. Dann zogen sie sich blitzschnell zurück, verschwanden in den Löchern, aus denen sie gekommen waren.
Einige von ihnen hatten es noch bis zu den Tonnen geschafft. Er konnte welche sehen, die etwas im Maul trugen. Nahrung für alle. Sie sorgten füreinander.
Er war alleine. Ganz alleine. Niemand sorgte für ihn, niemand war da, für den er sorgen konnte.
Mit einem Mal war es still. Die Dunkelheit hatte sich über die Stadt gelegt und nur die hellen Schweinwerferkegel vereinzelter Fahrzeuge, die über die schwach erleuchteten Straßen fuhren, tanzten am Eingang der kleinen, unscheinbaren Gasse vorbei. Das Geräusch war verklungen und nur die Dunkelheit lag wie ein drückender Schatten über ihm.
Er duckte sich instinktiv, versuchte sich kleiner zu machen, zog sich ein wenig weiter zwischen die Tonnen zurück.
Ein Lichtkreis erschien auf dem dunklen Asphalt der Gasse, grell weiß, und ließ kaum Platz zu den Wänden. Er erhellte nur den Boden, sodass die Nacht um ihn herum erhalten blieb. Wenn er fliehen wollte, so wäre dies der richtige Zeitpunkt. Aber er blieb.
Langsam erschien eine Gestalt mitten im Kreis, schälte sich aus dem Licht, das sie umgab. Sie war seltsam, ähnelte keinem Wesen, das er kannte.
Dann hörte er die Stimme in seinem Kopf. Sie war einfach da. Es gab keinen Ort, von dem sie ausging. Doch irgendwoher wusste er, dass sie von dem Wesen kam und ihm galt. Und er verstand sie: „Komm. Es wird Zeit heimzugehen .“
Er hatte keine Ahnung, was das heißen sollte. Aber er wusste, dass dieses fremde Wesen zu ihm wollte, ihn wollte. Langsam kroch er noch tiefer in die Schatten zurück, hoffte, dass sie ihn nicht sahen. Er wusste jedoch, dass sie ihn dennoch sahen, dass sie ihn immer und überall sahen, egal, wo er sich versteckte.
Das fremde Wesen machte zwei Schritte auf ihn zu, während die Stimme in seinem Kopf meinte: „Komm. Wir sind da, um dich abzuholen und nach Hause zu bringen.“
Er lag in der nachtdunklen Gasse, versteckt zwischen den Schatten der Mülltonnen. Das war sein Zuhause. Und wieso konnte dieses fremde Wesen ihn sehen? Was konnte es noch? Er musste weg!
Er machte sich sprungbereit, wartete noch ein wenig, bis das Wesen näher war. Dann sprang er los, schoss zwischen den Beinen des Wesens hindurch und verschwand raschelnd im Haufen der gestapelten Plastiksäcke. Dort harrte er zuerst einen Moment aus und lauschte.
„Nicht schon wieder. Komm doch einfach mit uns. Dir geschieht nichts.“ Die Stimme dröhnte in seinem Kopf und er glaubte, Enttäuschung in ihr mitschwingen zu hören.
Dann waren die Schritte des Wesens wieder da, die langsam näher kamen. Er drang ein wenig tiefer zwischen die Plastiksäcke, zwängte sich weiter an der Wand entlang. Es stank erbärmlich hier, doch er musste weiter. Dort hinten war die Laterne und die offene Straße. Dort konnte er ihm entkommen.
Einer der Plastiksäcke raschelte ein wenig.
„Ach, da bist du. Komm doch heraus. Wir tun dir auch nichts.“
Er kroch, lang auf den Boden gestreckt, durch eine Lücke zwischen zweien der Säcke und spähte in die Dunkelheit. Knapp rechts neben ihm konnte er die Füße des Wesens sehen, seltsame Füße, die in schweren Schuhen steckten. Es hatte sich wohl über die Säcke gebeugt. Schnüffelte es nach ihm?
Er lächelte. Dann schoss er erneut hervor, diesmal seitlich an dem Wesen vorbei. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die Füße des Fremden sich in seine Richtung drehten. Er schaute nach hinten. Das Wesen folgte ihm nicht.
Er schaute nach vorne, sah die rettende Straße – und unmittelbar vor sich den grell weißen Lichtkegel, aus dem das Wesen gekommen war. Dann umfing ihn dieses Licht.
*
Als er zu sich kam, waren wieder diese Stimmen da. Er konnte zwei voneinander unterscheiden und sie füllten seinen Kopf.
„Ist die Injektion gut verlaufen?“
„Der Körper hat das Serum angenommen und die Retransformation hat begonnen. Sie wird in den nächsten Wochen abgeschlossen sein.“
„Einige von ihnen haben es nicht überlebt. Glaubst du, er wird es schaffen?“
„Ich glaube, dass sie es nicht schafften, war ein kognitives Problem. Sie kamen mit der Retransformation nicht zurecht, weil sie sie nicht verstanden. Wir hatten unsere Kinder zu Anfang an die falschen Lebensformen angepasst, um sie aufziehen zu lassen. Du weißt ja: Unsere Art ist zur Brutpflege nicht mehr fähig. Und unsere Wissenschaftler waren davon ausgegangen, dass die intelligenteste Spezies eines Planeten an ihrer dominanten Existenz zu erkennen sei und dies übernähme.
Das ist de facto falsch.
Neuere wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass man wesentlich intensiver auf das Sozialverhalten zwischen den Rassen eingehen muss. Ich denke, auf diese Weise haben wir für ihn eine intelligentere Rasse gefunden. Wir werden sehen, was er uns zu berichten hat, wenn er wieder zu sich kommt. Wir werden sicherlich einiges von ihm lernen und seine Erfahrungen als Grundlage für unser weiteres Zusammenleben nutzen können.“
„Das war die Idee für das Projekt. Wir sollten das Bestmögliche für ihn tun. Schließlich ist er einer von uns.“
Dann umfing ihn wieder Dunkelheit.
*
Als er das nächste Mal aufwachte, war nichts zu hören. Der Raum, in dem er sich befand, schien leer zu sein. Vorsichtig öffnete er erst eines, dann das andere Auge. Keines dieser Wesen war zu sehen.
Der Raum, in dem er lag, war hell erleuchtet, fast so hell wie der seltsame Lichtkreis auf dem Asphalt der kleinen Gasse. Die Wände verschwammen vor seinen Augen in einem weißen Nebel.
Vor ihnen blinkten Maschinen mit seltsamen Armaturen, Zeigern und Dioden. Einige von ihnen waren durch Schläuche und bunte Kabel direkt an seinem Körper angeschlossen. Wenigstens vermutete er das. Er konnte den Kopf nicht weit genug bewegen , um den Körper zu sehen. Und er hatte keine Ahnung, wozu diese Maschinen da waren. Schmerzen hatte er jedenfalls keine. Vielleicht gehörten die Kabel und Schläuche zu dem Serum, von dem die beiden Stimmen erzählt hatten. Vielleicht änderte sich auch gerade sein Körper. Hatten sie nicht genau soetwas erwähnt?
Eine Türe öffnete sich, eines dieser Wesen trat ein und dann waren wieder die beiden Stimmen da.
„Ich sagte ja, dass er wach ist.“
„Ob er uns hören kann?“
„Ich weiß es nicht. Wir sollten vorsichtig versuchen, Kontakt zu ihm aufzunehmen.“
Sie traten in sein Sichtfeld, zwei dieser fremden Wesen, die ihm nun nicht mehr ganz so fremd erschienen, beugten sich über ihn und betrachteten ihn. Er konnte fast nichts aus ihren unbeweglichen Gesichtern lesen, doch es fühlte sich nicht mehr wie eine Bedrohung an. Es war nur noch … fremdartig.
„Willkommen auf unserem Heimatschiff“, meinte die erste Stimme. „Wir sind erfreut, dass du so schnell genesen bist. Kannst du uns verstehen? Wie fühlst du dich?“
Er dachte kurz nach, ehe er antwortete: „Miau?“
***
Lustiges Ende. Aber anfangs doch recht zäh!
AntwortenLöschenIch fand die Geschichte sehr stimmungsvoll erzählt. Hat mir auch gefallen, dass sie nicht so endlos war. Schade, dass durch das erste Bild am Anfang schon klar war, dass der Prota eine Katze ist. Sonst wäre der Überraschungseffekt am Ende beim "Miau" gelungen. Aber dafür kann der Schreiber nichts. Hat mir gut gefallen.
AntwortenLöschenNach den Enten aus Story 19 nun noch eine tierische Kuckucksversion. Leider ist es hier weitgehend spannungsarm. Es passiert im ersten Teil nichts, und was dann im zweiten Teil passiert, ist wenig überraschend (wofür der Autor nichts kann; diese Pointe haben fast alle anderen Storys – dem Ausschreibungsthema geschuldet – auch; gähn!
AntwortenLöschenIch finde solche Tierperspektive-Geschichten selten gelungen. Hier sollte der Gag sein, dass man den Prota anfangs für einen Menschen hält, aber schon nach wenigen Sätzen stellte sich das Gefühl ein, aufs Glatteis geführt zu werden. Deshalb klappt das mit dem Schluss-Gag 'Miao' nicht recht. (Abgesehen davon, Logikschwachstelle, entweder er ist eine Katze, die nicht reden kann, aber warum versteht er dann alles? Oder er versteht, dann fragt sich, warum er miaut statt zu antworten).
Geschrieben ist das ganz ordentlich, bis auf den Schluss, wo ungeschickt Infos 'gedumpt' werden: "„Ich glaube, dass sie es nicht schafften, war ein kognitives Problem. Sie kamen mit der Retransformation nicht zurecht, weil sie sie nicht verstanden. Wir hatten unsere Kinder zu Anfang an die falschen Lebensformen angepasst, um sie aufziehen zu lassen. DU WEISST JA: Unsere Art ist zur Brutpflege nicht mehr fähig. Und unsere Wissenschaftler waren davon ausgegangen, dass die intelligenteste Spezies eines Planeten an ihrer dominanten Existenz zu erkennen sei und dies übernähme." Und jetzt wissen wir das auch!
Eine Humorpunkt allerdings dafür, dass Katzen für die dominante Spezies gehalten werden :)
Interessant, zu welch ähnlichen Ergebnissen eine Ausschreibung zuweilen führen kann. Das ist schon die zweite Geschichte mit einer Kuckuckskatze. Leider fehlt ihr der Witz der anderen Geschichte. Während die erste Katze sich bewusst war, dass sie ein höheres Wesen ist, scheint diese Katze einfach nur eine Katze zu sein. Umso unbegreiflicher ist es, dass die Außerirdischen ihren Kindern eine solche Form geben, die obendrein ihren Verstand begrenzt. Und dann wundern die sich noch, dass sich ihr Kind wie das verhält, was sie daraus gemacht haben. Übrigens handelt es sich nicht einmal um eine Kuckuckskatze, denn sie wurde niemandem untergejubelt, sondern einfach auf der Straße ausgesetzt.
AntwortenLöschenDie Erklärung funktioniert angesichts dieser Grausamkeit auch nicht so richtig. Warum sollte eine hochentwickelte Spezies, die zur interstellaren Raumfahrt fähig ist, die Fähigkeit zur Brutpflege verloren haben? Zu dumm werden sie ja wohl nicht sein. Zu faul vielleicht oder zu beschäftigt, wie das schon in einer anderen Geschichte der Fall war. Die Fähigkeit, Kinder zu erziehen, ist jedenfalls intellektueller und nicht biologischer Natur. Und warum wollen sie ihr Kind überhaupt zurück, nachdem sie es in die Gosse entsorgt haben?
Der Schreibstil ist okay, da habe ich nur wenige Fehler entdeckt. „sowas“ kann man zusammenschreiben, „so etwas“ würde ich eher trennen.