DACSF2025_30

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Als Kind fand ich es geil, dass ich dieses komische Zeichen auf der Brust hatte. Ich erinner mich an den Tag, als ich meine Mutter danach gefragt hab. Draußen war voll die schwarze Wolkendecke, so schräg im Himmel und es hat alle paar Sekunden gedonnert, aber ohne Blitze. So hab ich es jedenfalls in Erinnerung.

„Was ist das? Hast du das auch?“

„Nein, mein Schatz. Das hast nur du, das ist einzigartig!“

„Und warum hab ausgerechnet ich das? Wozu ist es gut?“

„Jeder hat etwas Besonderes.“ Meine Mutter fand diesen Gedanken anscheinend toll. Ich nicht.

„Was hast du? Oder Papa? Oder Helmut?“

Meine Mutter hat nicht geantwortet und ich glaub, weil die eben alle in Wirklichkeit nichts hatten, was so ähnlich war! Es stimmt einfach nicht, war mein Verdacht. Meine Mutter hat dann nochmal gesagt: „Jeder hat etwas Besonderes“ und ist dann rausgegangen, um den Keller vorzubereiten oder so.

Ich hab oft gedacht, dass die Erwachsenen lügen. Es war völlig sinnlos, bei irgendwas nachzufragen, egal, zu Hause, in der Schule, beim Sport – ich konnte richtig sehen, wie die nachgedacht haben, um die beste Lüge zu finden. Ich find Leute schwierig. Nicht kompliziert, wie Helmut gesagt hat, das klingt ja, als wären sie weiß Gott wie tiefsinnig, sondern irgendwie unverständlich, irrational und gleichzeitig total simpel. Einer von unsern Lehrern hat gesagt, dass alte Leute die Zeit, in der sie selbst jung waren, total in den Himmel heben, und wir deshalb nicht so ernst nehmen müssten, was die darüber sagen. Es war ein Lehrer, von dem meine Eltern mir gesagt hatten, ich soll mich von ihm fern halten.

Damals, als der Lehrer das gesagt hat, hab ich eigentlich mehr über diesen komischen Ausdruck nachgedacht. Klar, er war alt, fast so alt wie meine Großeltern, die auch komisch reden. Ich mein, was zum Henker will man denn in den Himmel heben? Sicher nichts Gutes! Dann hab ich überlegt, was er eigentlich gemeint hat. Nach meiner Erfahrung sagen Erwachsene normal überhaupt nichts über die Vergangenheit! Nur einmal erinner ich mich, wie mein Vater wütend wurde, weil er einen Ausflug mit seinen Freunden wegen Wolkenbruch absagen musste.

„Früher hatten wir das nicht! Da schien die Sonne auch manchmal im Winter! Wenn es geregnet hat, hat‘s auch nicht direkt die ganze Landschaft und die Häuser umgehauen!“ Ich musste voll grinsen, aber meine Mutter fand’s nicht so lustig.

„Sch, sei still! Wenn dich jemand hört!“

Die Erwachsenen sind nie zufrieden. Ich hab nie erlebt, dass die Häuser umgehauen wurden, so teuer und stabil, wie die gebaut sind. Vorsichtshalber sind wir natürlich in den Keller gegangen, wenn Sturm war. Und dass es tagelang dunkel ist, stört keinen. Wir haben schließlich elektrisches Licht, das zwar manchmal ausfällt, aber meist nicht für lange. Im Sommer geht meine Mutter gar nicht aus dem Haus, trotz Spezialkleidung und Gesichtscreme. Es wär ihr angeblich zu heiß!

Ich hab also so wenig wie möglich mit Erwachsenen geredet. Aber ich hab an Türen gelauscht. Weiß ich, dass man das nicht tut, aber so konnte ich mal ganz andere Wörter als sonst hören: Zeitenwende, Umbruch, Diktatur. Ich hab die Wörter aufgeschrieben, dem alten Lehrer gezeigt und gefragt, was die bedeuten. Zuerst hat der auch groß „sch“ gemacht und den Finger auf den Mund gelegt, aber dann auf die Tür zur Schulbibliothek gezeigt. War echt ne Erfahrung. Normal geht da nämlich keiner rein. Vielleicht weil die auch meist abgeschlossen ist, aber der Lehrer hat mir den Schlüssel gegeben.

Ich hab die Wörter nachgeguckt, und dann auch die Schulbücher gelesen, die im Regal standen. Die hatte jahrelang keiner angefasst, so verstaubt wie die waren. Da standen manchmal echt interessante Sachen drin. Physik fand ich gut, überhaupt die Naturwissenschaften! Ich glaub, ich hab alle gelesen und war dann in meiner Klasse bald der Beste in den Fächern. Dagegen konnte ich echt nichts damit anfangen, wo stundenlang über nichts geredet wird. Auch die Fremdsprachen waren nicht so mein Ding.

Helmut war das genaue Gegenteil von mir. Zum Beispiel hat der ziemlich viel mit Erwachsenen gesprochen. Er war der einzige Jugendliche, den ich kannte, der das gemacht hat, und er hat sogar versucht, meine Eltern in Diskussionen über die Welt und ihren Zustand zu verwickeln. Ich hatte allerdings den Eindruck, dass meine Eltern nicht so drauf standen. Sie haben ihm kaum geantwortet und immer so was gesagt, wie „Es ist eben, wie es ist.“

Warum war eigentlich Helmut mein Freund?

„Mann, blöde Frage! Das kommt eben einfach so von allein!“ Voll genervt.

„Aber ist doch interessant“, hab ich gesagt. War mir nämlich egal, ob der genervt ist. „Wir haben überhaupt nicht viel gemeinsam.“

„Haben wir nicht?“

„Nein, du machst in der Schule gern Geschichte und Erdkunde und Englisch und so, und ich Physik und Mathe.“

„Na und? Es ist ja wohl das Unwichtigste überhaupt, was einer in der Schule gut kann!“

„Und ich kann ein Musikinstrument spielen, du nicht.“

„Ich hab mal versucht, Gitarre zu lernen. Hatte keinen Zweck. Aber ich hör gern Musik. Wir können uns über Musik unterhalten!“

Tatsächlich spiel ich zwar Klavier, auch alle Stile: Klassik, Jazz, Popmusik. Ich kann auch Mundharmonika spielen und geb zu, dass Musik eine Sprache ist. Aber wenn ich ehrlich bin, hör ich nicht so gern Musik. Nach ungefähr drei Minuten langweile ich mich. Helmut sitzt zu Hause auf seinem Sofa und hört einfach nur seine Playlist rauf und runter, und macht dabei nichts. Wenn wir uns getroffen haben, lief oft Musik im Hintergrund. Das hat mich nicht gestört, aber wir haben uns dabei ja auch unterhalten oder was gebaut oder repariert. Muss ich nicht extra erklären, dass ich besser bauen und reparieren konnte als er! Als ich einmal wütend auf ihn war, hab ich ihm das auch gesagt.

„Und ich kann mich besser unterhalten! Wenn ich nicht das Gespräch in Gang halten würde, säßen wir hier und würden stundenlang kein Wort sagen und uns nur anstarren!“ War mir noch nie aufgefallen, aber als er es gesagt hat, war klar, dass es stimmt.

Vielleicht waren wir einfach Freunde, weil wir am selben Tag Geburtstag hatten. Genau an demselben, was wir beide sehr aufregend fanden. Und außerdem waren wir Nachbarn.

Schon früh hatte ich den Verdacht, dass meine Eltern nicht meine richtigen Eltern waren. Ich war ein Findelkind und sie hatten mich einfach adoptiert, ohne das irgendeinem zu sagen. Ich hab mir immer vorgestellt, wie meine Mutter neun Monate lang so tut, als wär sie schwanger. Oder vielleicht hatten sie mich auch mit einem andern Baby vertauscht. Vielleicht hatten sie mit mir ein gentechnisch verbessertes Kind eingetauscht! Aber natürlich stritten meine Eltern alles ab.

„Nein, du bist unser Sohn. Das ist doch klar. Und wir lieben dich!“

„Warum seh ich euch dann nicht ähnlich?“

„Aber du siehst uns ähnlich! Du hast die Gesichtsform von mir und die Augen deiner Mutter.“

„Andere Kinder ähneln ihren Eltern auch nicht unbedingt. Schau Helmut an! Bei dem denkt man wirklich, er wäre adoptiert. Die Eltern beide so hell und er so dunkel!“

Ich hab’s ihm bei nächster Gelegenheit gesagt.

„Meine Eltern denken, du bist adoptiert.“

„Quatsch!“

„Aber du siehst ganz anders aus als deine Eltern. Ich glaub, ich bin auch adoptiert. Wir sind’s beide!“

„Ach, hör auf. Ich komm auf meinen Onkel! Der sieht so ähnlich aus wie ich. Auf jeden Fall hat er auch dunkle Haare. Weißt du, dass solche Gedanken ganz typisch für Kinder sind? Das ist so eine Phase, in der du gerade bist.“

Ich hab mich zu Hause vor den Spiegel gestellt und meine Augen angeschaut. Waren die wirklich wie die von meiner Mutter? Ich fand, nicht. Und die Gesichtsform? Die ist doch bei allen Leuten ziemlich gleich, oder? Bei den meisten auf jeden Fall.

Etwas andres, was meine Eltern gesagt hatten, hat mir echt tagelang Stress gemacht. Dieses „und wir lieben dich“. Ich war da nicht so sicher. Was, wenn das mal wieder gelogen war? Es gibt Sätze, die Leute einfach so raushaun, ohne selbst dabei zu überlegen, was die bedeuten und ob das überhaupt stimmt, was die da sagen. Einfach, weil‘s jeder an der Stelle erwartet und normal findet. Wie bei Dornröschen, das mir meine Mutter früher vorgelesen hat, müsste eine Fee kommen und das ganze Land mit einem Bann belegen: Die Wahrheit sagen und genau das und nur das, was in dem Moment, wo einer das sagt, auch wirklich stimmt. Nur für einen Tag. Wir würden ganz anders reden.

„Scheiß Tag!“

„Scheiß Tag auch. Reden Sie bloß nicht zu lange. Ich hab jetzt gerade gar kein Bock auf Sie.“

„Finden Sie wohl peinlich, dass ich sehe, dass Sie um die Uhrzeit unterwegs sind und dann noch mit der Frau da. Ich erzähl‘s den Nachbarn weiter.“

„Und bei Ihnen steht wieder ne Prüfung an? Hoffentlich verkacken Sie. Ich hab nämlich auch verkackt und wünsch es jetzt jedem andern auch.“

„Ich muss langsam mal ins Haus und Essen machen für meine Familie. Ich hasse übrigens meine Kinder.“

„Scheiß Tag Ihnen noch!“

„Ja, Ihnen auch.“

Hassten meine Eltern mich? Ich weiß nicht, ob es so krass war. Meine Eltern waren ruhig und freundlich. Sie sind nie ausgeflippt oder haben rumgeschrien, und sie haben mir auch noch nie für irgendwas ne Strafe gegeben. Manchmal, ganz selten, haben sie mich sogar angelächelt. Aber eigentlich war mir das alles egal, denn ich wusste ja für mich: Ich liebe sie nicht. Auch jetzt nicht, wo alles anders geworden ist.

Ich verknalle mich auch nicht in irgendwelche Mädchen. Auf der Klassenfahrt, der Abschlussfahrt nach der zehn, ging‘s los. Schon im Bus haben alle wild geflirtet, obwohl jeder wusste, dass die Kamera alles aufzeichnet und weiterleitet. Ich nahm jedenfalls lieber mein E-Book mit. Das hat für die Fahrt gereicht, aber nicht für den ersten Abend. Klar wollten die andern in die Kneipe. Für manche war es das erste Mal, dass sie eine von innen gesehen haben. Für mich auch. Hat mich einfach nie interessiert. Als ich ewig in der Schlange stand, bis jeder von uns an der Tür die Fragen beantwortet hatte und die ganzen Fotos gemacht waren, wollte ich schon nach Hause gehen. Und drinnen hat mir Helmut dann das E-Book sofort ausgeschaltet, als ich angefangen hab, über meinem ersten Bier (andere tranken schon das fünfte oder sechste) zu lesen.

„Ich glaub, Leila steht auf dich.“, hat Helmut gesagt und so blöd dabei gegrinst.

„Hör auf, Digga!“

„Nee, wirklich. Die ganze Zeit schon schaut die rüber und sie wollte dich eben schon ansprechen.“

„Ja? Und woher weißt du das?“

„Ich hab’s gesehn. Aber du hast dich so demonstrativ weggedreht. Da ist sie wieder abgerauscht. Aber guck. Sie schaut schon wieder.“

Ich schaute zu Leila hin, die anfing, wild auf ihre Freundin einzureden.

„Komm Digga, gib mir mein Buch zurück. Das interessiert mich alles gar nicht.“

„Interessierst du dich für gar kein Mädchen in unserer Klasse?“

„Ich hab’s dir schon ein paarmal gesagt: Nein.“

Helmut wurde in letzter Zeit nervig mit seinen vertraulichen Gesprächen über Mädchen. Seine Erfahrung war meiner Meinung nach auch gleich null, aber er war in eine Blondine mit dem Namen Isabell verliebt. Glaub nicht, dass ich mit der je auch nur ein Wort gesprochen hab. Er fand sie so hübsch. Keine Ahnung. Sah für mich normal aus.

„Du könntest doch mal mit Laila reden – oder mit irgendeiner andern, ist doch egal. Dann könnte ich mal losgehen, ich such…“

„Vielleicht Isabell? Guck mal da!“

Ich hatte nämlich gesehen, dass Isabell in einer Ecke mit einem Jungen aus dem Fußball-Club rumgeknutscht hat. Helmut hatte es bis dahin anscheinend noch gar nicht gecheckt. Er hat kein Wort gesagt, nur seine Jacke genommen und raus. Zurück ins Hotelzimmer. Ich bin dann hinterhergekommen, was sollte ich auch allein in der langweiligen Kneipe, aber er wollte nicht mehr mit mir sprechen. Er lag nur auf seinem Bett und hat die Decke angestarrt, und so blieb es auch für den Rest der Klassenfahrt, wann immer wir Freizeit hatten. Mich hat er meistens weggeschickt, denn eigentlich wär ich auch lieber auf dem Zimmer geblieben.

Er war total komisch in der Zeit danach. Hat über alles rumgemeckert, meist über die Welt im Allgemeinen.

„Wenn dich einer hört!“, musste ich ihm ein paarmal sagen.

„Ist mir egal!“ Aber meistens wurde er dann doch leiser oder hat stattdessen über Isabell gemeckert, die sich seiner Meinung nach scheiße benahm, und über den Fußball-Typ, mit dem sie seit diesem ersten Abend von der Klassenfahrt zusammen war.

„Er ist der absolut schlechteste im Fußball-Club“, hab ich gesagt, in der Hoffnung, dass Helmut dann vielleicht wieder normal würde.

„Was soll’s. Sie interessiert sich nicht dafür, ob er Fußball spielen kann. Er ist ein Kader!“. In einem Tonfall, als hätt er gesagt: ein Mörder. Ich wusste damals zwar nicht genau, was das ist, aber es war schließlich auch egal, warum Isabell auf den Typ stand. Es war eben so. Aber Helmut hat weiter geschrien und rumgemotzt, und nichts hat ihm mehr gepasst.

Ich hatte oft Lust, einfach aufzustehen und zu sagen: Komm erst mal klar. Danach treffen wir uns wieder. So eine Nerverei wegen einem Mädchen. Ich geb zu, dieses endlose Gejammer über Liebe, die vielen Lieder und Filme – also ich kann nichts damit anfangen!

Während Helmut noch am Trauern war, war ich plötzlich selbst „in einer Beziehung“. Ich schwör, ich weiß nicht, wie das passiert ist. Auf einmal hatte ich eine Freundin! Sie hieß Franzi, hatte so farblos unklar blonde Haare und war in der Parallelklasse. Sie hat auch in der Nähe gewohnt und sich irgendwie angewöhnt, immer mit mir zusammen nach Hause zu gehen, wenn die Schule aus war. Einmal waren meine Eltern verreist und ich hab bei ihr zu Haus mit ihrer Familie gegessen. Und dann sind wir zusammen zum Schwimmen gegangen, in die Kneipe und so weiter. Sie war meine Freundin, das haben jedenfalls die anderen in der Schule gesagt.

Aber nicht für so besonders lang. Eines Tages hat sie aus heiterem Himmel einen Heulanfall bekommen, gesagt, ich wär unsensibel, sogar so was bescheuert Altmodisches wie grober Klotz losgelassen und ist weggerannt. Das durfte sie eigentlich gar nicht. Denn im Wetterbericht war „möglicherweise Sturm“ angesagt und da musste man zusammenbleiben, wenn man draußen war. Eigentlich sollte man da immer mindestens zu viert sein. Ich hätt sie nach Hause bringen und dann selbst in einem sicheren Gebäude bleiben müssen, aber das ging alles so schnell. Zum Glück ist der Sturm dann nicht so schlimm geworden.

In der Pause auf dem Schulhof hat sie mich dann noch etliche Wochen lang angestarrt, aber mich nicht mehr angesprochen. Und anscheinend hatten wir plötzlich auch nicht mehr denselben Nachhauseweg.

Helmut hat’s natürlich gleich mitgekriegt: „Was ist los mit euch beiden? Du musst mal mit ihr reden!“

„Warum? Sie redet ja auch nicht mit mir.“

„Nein, sie wartet, dass du was sagst.“

„Was soll ich denn sagen?“

„Ja, willst du sie denn nicht zurückhaben?“ Ich musste echt erstmal überlegen.

„Ich glaub, nicht.“

Die ganze Sache wurde mir echt zu viel, und ich war froh, als Helmut und meine Eltern langsam aufgehört haben, über Franzi zu reden und die mich auf dem Schulhof auch nicht mehr angestarrt hat. Ich glaub, sie hatte dann nen andern Freund. Helmut hatte sich irgendwie verändert, ich kann nicht genau sagen, wie, aber wir hingen immer noch viel zusammen rum.

In der Zeit war es auch, dass ich mich mit dem Lehrer getroffen hab, dem Alten, der mich in die Bibliothek gelassen hat. Das durfte keiner wissen, deshalb musste ich meinen Eltern sagen, ich treff mich mit nem Mädchen. Darüber haben sie sich nämlich gefreut und nicht nachgefragt. Hätt ich gesagt, ich bin bei Helmut, hätten sie vielleicht da angerufen. Wir mussten aufpassen, dass wir nicht von den Kameras gefilmt werden, aber man kannte ja so bestimmte Wege in der freien Natur, und in irgendeinem alten Schutzkeller, der technisch noch nicht so ausgestattet war, konnten wir dann für ne Stunde oder so reden. Das hatte auch den Vorteil, dass wir einigermaßen geschützt waren vor Kugelblitzen, plötzlich auftretenden Wirbelstürmen oder so. Der Lehrer hatte unheimlich Angst vor sowas.

„Du weißt doch sicher, dass wir nicht allein auf der Welt sind.“

Klar, das wusste jeder. Aber man wusste auch, dass diese andern weit draußen im Weltall waren und nicht in unsre Nähe kamen. Das lohnt sich nicht, weil eben der Weg für sie zu weit war.

„Vielleicht war es früher so, aber jetzt nicht mehr. Gaub mir, sie kommen.“

Er war ein Verschwörungstheoretiker, meine Eltern hatten mich vor ihm gewarnt. Aber es schadet nichts, sich mal anzuhören, was er sich so dachte. War jedenfalls meine Einstellung dazu.

„Sie kommen und sie werden einen von uns mitnehmen.“

„Warum? Was haben die denn vor?“

„Du bist ein intelligenter Junge und du bist mit diesem Helmut befreundet. Ich muss dir nicht erklären, was hier bei uns los ist. Sie kommen, weil sie es beenden wollen. Sie wollen uns helfen, denn allein werden wir mit den Problemen nicht mehr fertig.“

„Und warum holen sie dann nen Mensch, und wen denn?“

„Er ist eigentlich kein Mensch, es ist einer von denen. Sie haben ihn hier ausgesetzt und wenn er erwachsen ist, holen sie ihn wieder ab. Er wird ihr Experte für unsere Welt sein.“

Ich geb zu, ab da hab ich ihm kein Wort mehr geglaubt. Woher wollte er überhaupt so was wissen?

„Ich kenne Leute.“

Ja, ich kenn auch Leute. Und die glauben sowas nicht! Meine Eltern hatten doch recht, dass er ein totaler Spinner war. Ich hab mich nicht mehr mit ihm getroffen, obwohl er wollte, und hing wieder lieber mit Helmut ab.

Es war dann an einem ganz schlechten Tag, plötzlich war es nämlich dunkelrot geworden, morgens noch normal. Rot ja, aber nicht so dunkel. Auf jeden Fall saß ich bei Helmut im Zimmer rum und konnte deshalb nicht nach Hause, da hat er mir plötzlich ein Tatoo gezeigt, das er sich stechen lassen hat. Ich schwör, ich wusste gar nicht, dass der sowas vorhat! Es war auf der Brust, oberhalb der dritten Rippe ungefähr. Ich konnte noch nie die Rippen zählen, aber so hat man‘s mir immer gesagt. Es war nämlich genau an derselben Stelle wie mein Muttermal. Und sah genauso aus. Eben ein rotes Z mit verlaufenden Strichen an den Enden, links oben ein kleiner Strich nach unten und unten rechts einer nach oben. Es war sogar genauso groß wie meins!

„Spinnst du jetzt total?“, hab ich ihn angeschrien. Ich war echt wütend. Das war ja wohl voll psycho!

„Wir sind Freunde fürs Leben, oder nicht?“

„Das haben wir als Kinder gesagt. Kinder sind sentimental. Heute sind wir siebzehn!“

Aber nicht, dass der sich aus dem Konzept bringen ließ. „Andere Freunde würden sich zusammen ein Tatoo stechen lassen und hätten dann so‘n Ding aus‘m Katalog, das tausend andere genauso haben. Das hier ist was ganz Einzigartiges. Und deshalb finde ich es gut.“

„So, du findest es gut, was? Ich aber nicht!“

Ich war voll böse auf Helmut, später auch noch. Ich fand’s nicht normal. Mein Leben lang hat mich das hässliche Ding gestört und das Gerede darüber in der Familie. Wer wusste, dass es da war, hat fast immer gewitzelt, was das Z wohl bedeuten soll: Zeug, zentral, Zivilisten… Lustig! Mich hat’s immer nur genervt. Und da kommt der Typ und macht so ne Welle und was total Peinliches draus, von wegen Freundschaft fürs Leben und so. Das nervt ja noch mehr als dieses Mädchen damals auf der Schulfahrt. In dem Moment wusste ich genau: Das Ding muss weg.

Ich bin dann extra in ne andre Stadt gefahren, ich sag nicht, welche. Sicher fünf, sechsmal musste ich da heimlich hinfahren, um das dämliche Teil zu entfernen. Ich bin den ganzen Tag da geblieben, weil ich dann noch was andres zu tun hatte. Die Mundharmonika hatte ich dabei. Aber der Hauptgrund war, das Muttermal loszuwerden, was dann endlich auch geklappt hat. Es ist nichts mehr davon zu sehen! Sollte Helmut doch jetzt dieses einzigartige Zeichen tragen und etwas Besonderes sein, ich war raus!

Wenn ich ehrlich bin, hatte ich zu dem Zeitpunkt nicht mehr viel Interesse an unsrer Freundschaft. Helmut wurde echt lästig. Er hat rumgenervt mit seinen Visionen, wie er gesagt hat, über Völkerverständigung, eine offene Gesellschaft, die jeden, wirklich jeden willkommen heißen würde. Ich hab ihm normalerweise gleich das Wort abgeschnitten: „Und was machst du dafür?“ (oder dagegen, je nachdem, ob er gerade was wollte oder eben nicht wollte) und dann war meist Ruhe. Schließlich folgten doch Taten. Er hat sich in einem seltsamen kitschigen Verein angemeldet und Flugblätter verteilt. Wenn Straßenfest war, hat er versuchte, die Leute in Diskussionen zu ziehen und dann hat sein Verein noch so lächerliche Demonstrationen organisiert. Mindestens zweimal haben sie ihn verhaftet. Ob ich mitmachen würde? Hallo? Ganz sicher nicht!

Ich hab mich ab da auch irgendwie anders gefühlt, richtig stark. Ich bin allein über die Straße gegangen und manchmal sogar übers Feld, wo’s verboten ist. Ich hab mich überall umgesehen. Ich hab so eine große Kraft in mir gespürt. Dachte, die Straße hier will ich verändern, die Häuser, ich kann was schaffen, was Großes. Was genau, keine Ahnung. Mit meinen Eltern konnte ich natürlich nicht reden. Aber ich hab Pläne gemacht. Große Pläne. Nicht nur für meine Straße!

Und dann kam mein achtzehnter Geburstag. Unsre achtzehnten Geburtstage, vielmehr, denn Helmut hatte ja denselben wie ich. Fing an wie irgendein Tag. Die Sonne brannte, ein ganz normaler heißer Tag im August. Meine Eltern hatten eine Riesenparty vorbereitet und wir haben zusammen mit Helmut und seiner Familie über beide Häuser und Gärten hinweg gefeiert. Wir hatten viele Gäste, denn meine Eltern hatten absolut jeden eingeladen, den wir kannten. Und meine Mutter hat sich sogar für‘n paar Stunden rausgetraut. Der Swimmingpool war neu befüllt und es gab Pizza und Eis an jeder Ecke. Morgens ging es schon los.

Um 12.00 Uhr dann Sirenen.

„Was bedeutet das? Warum machen die das? Wollen die uns jetzt sogar noch das Feiern verbieten?“

Helmut und ich standen in Badehose auf der Straße zwischen unsern Häusern. Es war uns echt zu viel geworden und wir waren raus aus dem größten Partytrubel. Ein Polizeiauto ist vorbeigefahren, mit Lautsprecher.

„Wir bitten Sie, sich in ihren Häusern aufzuhalten und die Türen zu verschließen“, war alles, was wir verstehen konnten.

Dann ging alles sehr schnell. Neben uns ist so ne Art Zeppelin in Militärfarbe gelandet, den hatten wir gar nicht rankommen sehen oder hören. Zwei Männer sind rausgesprungen. Haben sich irgendwas zugerufen, was ich nicht verstanden hab. Einer hat auf mich gezeigt, der andre auf Helmut. Sie haben sich angeschaut und wieder was gesagt. Dann haben sie Helmut gepackt, ihn in den Zeppelin geworfen, sind dann selbst rein und im nächsten Moment waren sie weg.

Wenn das Leben nicht danach ganz anders weitergegangen wär, hätt ich gedacht, es war alles nur ein Traum. So, das war mein Bericht. Lassen Sie mich jetzt gehen?

7 Kommentare

  1. Wow! Wow! Wow! Diese Geschichte schafft es, aus der Perpektive und eher schnodderigen Sprache eines Jugendlichen eine dystopische Zukunft aufleben zu lassen: Klimawandel, Zeitenwende, Totalitarismus, Diktatur, Überwachung... alles klug in die Rahmenhandlung eingewebt, ohne große und langatmige Erklärungen und jede Sekunde unterhaltsam und spannend! Hat mir richtig gut gefallen! Auch die große Frage am Ende und die Pointe, dass es sich bei der Geschichte um ein Verhör handelt. Großes Kompliment an den/die Autor/in!

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  2. Bin begeistert! Eine super gut geschriebene Story, mit stimmiger Sprache und atmosphärischer Dichte. Gegen Ende hin, wegen des Tattoos, kann man sich zwar fast denken, worauf es hinausläuft, aber trotzdem klasse.

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  3. Am Anfang war ich schwer begeistert. Aber dann gingen mir die vielen "hätt", "hör", "nen" usw. auf den Keks. Der erste Kommentar hier, bringt mich allerdings zum Nachdenken. Tatsächlich sind diese beklemmende Zustände alle beschrieben. Vielleicht hat mich auch gestört, dass der Protagonist so unsympathisch gezeichnet ist und ich deshalb keine Verbindung mit ihm aufnehmen konnte. Die Idee selbst ist clever, auch wenn man natürlich gleich bei der Tätowierung weiss, dass es auf eine Verwechslung hinauslaufen wird.

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  4. Für mich war die Geschichte sehr langfädig zu lesen, bis sie langsam auf den Punkt kommt: die Tätowierung und das Geburtstagsfest. Die effektive Aufgabenstellung des Wettbewerbs (Ausserirdische Kuckuckskinder) wurde nicht wirklich umgesetzt. Es taucht nur kurz als Verschwörungstheorie des Lehrers auf.

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  5. Mir gefiel auch dieses dystopische Setting, das so selbstverständlich den Hintergrund der Handlung bildet, dass es genau darum so gruselig ist!

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  6. Die Geschichte ist leider nicht gut strukturiert und verliert immer wieder den Fokus. Mal geht es um die Schule, mal um Mädchen, mal um den besten Freund. Um das eigentliche Thema geht es nur am Rande und eine wirkliche Auflösung gibt es nicht. Außer, man glaubt die Verschwörungstheorie des Lehrers. Doch woher weiß der davon? Er „kennt Leute“. Was für Leute? Wir werden es nie erfahren, denn kurz darauf verschwindet der Lehrer einfach aus der Geschichte.

    Die Aliens erklären sich auch nicht, landen nur kurz mit ihrem Zeppelin (Steht dafür das „Z“?), um Helmut – wohl fälschlich wegen dem Tattoo – abzuholen. Waren die beiden Jungs auf ihrer Feier oben ohne, oder wie konnten die Aliens das so schnell entscheiden? Und wo ist das irdische Militär? Scheinbar wusste die Regierung ja irgendwas von der Ankunft, da zuvor noch die Sirenen erklingen und ein Lautsprecherwagen rumfährt. Wie es dann aber abläuft, ist total unrealistisch. Zumal für eine offenbar totalitäre Gesellschaft.

    Die Dystopie wird auch nur wage angedeutet. Wörter wie „Diktatur“ und „Zeitenwende“ sind den Kindern offenkundig nicht geläufig. Es scheint verboten zu sein, darüber zu reden. Dennoch sind Bücher mit entsprechendem Inhalt nicht indiziert, sondern lediglich in der Schulbibliothek eingeschlossen. Und was lehren die den Schülern überhaupt, wenn die von nix eine Ahnung haben dürfen? Warum haben die am Ende doch wieder Schulbücher, wo selbige kurz zuvor noch alle weggeschlossen waren? Hat das eine KI geschrieben oder sind dem Autor diese offensichtlichen Widersprüche nicht aufgefallen? Jedenfalls bleibt die Gesellschaftskritik dadurch sehr oberflächlich und die Charaktere stereotyp.

    Der Schreibstil ist ebenfalls anstrengend. Jugendslang in der wörtlichen Rede ist ja okay, aber eine ganze Geschichte so zu erzählen, kommt nur bei denen gut an, die selbst permanent Wörter wie „Bro“ und „Digga“ benutzen. Vielleicht gehört der Autor ja dazu? Fraglich, ob er damit ein größeres Publikum erreicht. Jedenfalls eher nicht im Sci-Fi-Genre, wobei das Sci-Fi-Element sich in dieser Geschichte ohnehin leider sehr rar macht.

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  7. Hmm, der vorherige Kommentar spricht vieles an, aber mich überzeugt der Ich-Erzähler sehr - auch durch sein etwas zusammenhangsloses Erzählen. Den Stil finde ich hier gekonnt aufrecht erhalten, weil es umgangssprachlich ist, aber Wörter wie „Bro“ vermieden werden (oder habe ich es übersehen? „Digga“ kommt einmal vor, aber sonst…?). Tatsächlicher Slang wirkt oft zu gekünstelt oder peinlich im geschriebenen Text. Hier ist es der Satzbau und die Umgangssprache, die zur Charakterisierung des Hauptcharakters beitragen. Es stimmt, es gibt ein paar Logikfehler, die etwas besser ausgearbeitet werden könnten, aber mich packt, in der wahllosen Sprunghaftigkeit des Prota, vor allem die beklemmende Atmosphäre hinter dem ganzen Setting.

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