DACSF2025_29

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Sag ihr nur, dass es mir gutgeht

1

In Deutschland werden jährlich rund 100.000 Kinder und Jugendliche als vermisst gemeldet. Die gute Nachricht vorweg: Die meisten tauchen innerhalb weniger Stunden oder Tage wieder auf.

Die meisten. Nicht alle.

Etwa zwei Prozent bleiben verschwunden. Im Polizeijargon nennt man sie „ungeklärte Vermisstenfälle“. Und nach 30 Jahren wird aus ihnen eine anonyme Karteileiche in einem System, das knarzt und ächzt wie morsches Holz.

Ich kann es hören, Sie auch?

Jeder glaubt zu wissen, was passiert ist.

Flucht. Entführung. Mord.

In solchen Kategorien habe ich auch mal gedacht.

Heute weiß ich, dass noch eine vierte Möglichkeit existiert.

Eine, die in keiner Statistik auftaucht.

Eine, über die niemand spricht.

Meine Geschichte ist der Beweis.

2

„Nein! Nein, nein, nein, nein, nein!“

Der rote Turnbeutel mit den schmutzig-verfärbten Zugbändern, die einmal hellweiß waren, kurz bevor der Alltag sie einholte, baumelt anklagend wie eine Mahnung vom Finanzamt an der Türklinke. Wie konnte Stella das übersehen? Was hat sie sich gedacht, dass ich das blöde Ding da zum Spaß hingehängt habe?

Verdammt, sie ist sechzehn, keine sechs mehr. Fast erwachsen.

„Rufus, Stella hat den Turnbeutel schon wieder vergessen, kannst du ihr schnell hinterherfahren?“, schreie ich in einer Lautstärke, die um diese Uhrzeit verboten sein sollte.

Mein Mann kommt mit seiner „Bester-Papa-der-Welt“-Tasse aus der Küche geschlendert und sieht mich mit diesem Blick an, den er sich nur für mich aufhebt. Eine Mischung aus Mitleid und Nachsicht, so als müsste ich es eigentlich besser wissen.

„Sorry Schatz, das schaff ich nicht. Ich muss in fünf Minuten vorm Rechner sitzen. Daily Scrum, weißt du doch.“

Irgendetwas implodiert in mir, irgendwo ganz tief in meinem Inneren, aber ganz leise. Rufus drückt mir einen gutmütigen Kuss auf die Wange und merkt davon nichts. Denn wenn etwas so leise implodiert, dann hat es die Implosion gar nicht gegeben. Facts. Das ist wie mit dem Baum im Wald, der nicht umfallen kann, wenn keiner hinsieht.

„Bitte.“ Ein einziges Wort, ohne Schnörkel und Firlefanz. Ich bitte ihn schon lange nicht mehr um irgendwelche Sachen, weil es schneller geht, wenn ich es selbst mache – ob Müll rausstellen, Spülmaschine ausräumen oder einen Zahnarzttermin für Stella ausmachen. Doch heute siegt die Erschöpfung.

„Du fährst doch eh gleich, da kannst du doch einen Abstecher machen.“ Er hat mir schon den Rücken zugewandt, bereit, in sein Arbeitszimmer abzutauchen, zu seinem Daily-schieß-mich-tot. Home Office. Der Glückliche. Während gefühlt jede Firma nach Corona die großzügigen Remote-Regelungen beibehalten hat, gehört mein Steinzeit-Arbeitgeber zu der „Früher-war-alles-besser“-Fraktion. Heißt für mich: Ich fahre jeden Tag brav ins Büro, für den Teamspirit, fürs Betriebsklima und damit niemand sagen kann, ich sei unkollegial.

„Das ist ein Riesen-Umweg“, erinnere ich ihn scharf.

„Dann lass es halt. Meine Güte, keine andere Mutter rennt ihrer Teenager-Tochter so hinterher wie du.“ Klick. Schon schließt sich die Tür zum Arbeitszimmer hinter ihm.

Ich seufze. In seinem Vorwurf steckt ein Körnchen Wahrheit. Ob beruflich oder privat – ich war schon immer diejenige, die die Extra-Meile geht, die noch eine Schippe drauflegt, die mehr macht, als sie müsste. Lieber Helikopter als Bare-Minimum-Mom ist meine Devise. Fürsorge hört ja nicht auf, nur weil ein Kind älter wird.

Außerdem – wenn Stella den Beutel absichtlich vergessen hat, nur um sich vorm Sportunterricht zu drücken – dann soll sie damit verdammt nochmal nicht durchkommen.

3

Der erste Frost hat erbarmungslos über Nacht zugeschlagen. Ich verliere wertvolle Zeit beim Enteisen der Windschutzscheibe. Frau Ranz von nebenan beobachtet meine jämmerlichen Versuche, eine hauchdünne Eisschicht zu bezwingen. Als ich aufgebe und mit einem Tiefkühlpizza-großen Guckloch auf der Scheibe losfahre, zeigt sie mir den Vogel. Soll sie doch. Was eine Rentnerin morgens bei der Eiseskälte im Garten zu suchen hat, erschließt sich mir eh nicht. Wer hat hier den Vogel.

Die Straßen sind spiegelglatt, und ich komme kaum voran durch den dichten Verkehr. An einer roten Ampel schicke ich Stella eine knappe Sprachnachricht: „Ich bring dir den Turnbeutel vorbei. Warte an unserem Treffpunkt auf mich. Bis gleich.“

Dass wir überhaupt so etwas wie einen Treffpunkt haben, sagt schon alles. Stella war schon immer ein stilles, verträumtes Kind gewesen, das sich gerne in ihre eigene Welt zurückzog. Daran wäre grundsätzlich nichts auszusetzen, wenn ich ihr nur nicht immer alles drei- oder viermal sagen müsste. Wenn ich nicht ständig für sie mitdenken, sie erinnern und antreiben müsste. Klar, sie vergisst nicht mehr so viel wie früher. Aber immer noch genug, um mich zur Weißglut zu bringen.

Vor der Schule stehen fünf SUVs im Halteverbot, um Kinder der unteren Stufen auszuladen. Ich fahre in eine Nebenstraße. Ausnahmsweise meint es das Universum gut mit mir: Jemand fährt gerade weg. Ich rutsche in die Lücke wie ein Profi.

Beim Aussteigen schaue ich kurz aufs Smartphone. Komisch. Blaue Häkchen, aber noch keine Antwort von Stella. Hoffentlich hat sie die Nachricht abgehört.

Mich trennen nur noch ein paar Meter von unserem Treffpunkt bei den Mülltonnen. Der Turnbeutel schlägt bei jedem Schritt gegen mein Bein, beschwert von einer vollen Aluflasche, Turnschuhen und Wechselklamotten. Plötzlich nehme ich eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr. Ich kneife die Augen zusammen und fixiere den Seiteneingang des Schulgebäudes.

Schwarz glänzende Pufferjacke, hin- und her schwingender Zopf. Stella. Na endlich. Ich winke, doch sie schaut nicht in meine Richtung. Kurz darauf verlässt ein Mann im dunklen Anzug das Gebäude, legt ihr eine Hand auf die Schulter. Gemeinsam steuern sie über den Hof eilig auf die Sporthalle zu.

Was in drei Teufels Namen...!?

4

Stella und der Anzugträger sind in der Sporthalle verschwunden. Mit dunklen Vorahnungen und klopfendem Herzen renne ich über den Hof. Für das alles gibt es bestimmt eine Erklärung. Eine ganz normale. Muss es geben.

Ich stoße die Glastür auf, hetze den Flur entlang, reiße Türen zu Toiletten und Umkleiden auf. Niemand da. Wo sind sie? Wer ist der Kerl? Ich gehe im Kopf die Lehrkräfte durch, die ich vom Sehen kenne. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, doch Haltung, Größe, Statur? Vielleicht Constantin Greindler. Der Stellvertretende Schuldirektor.

Aber selbst wenn. Was hat er mit ihr allein in der Sporthalle zu suchen? Ein Mann. Eine Schülerin. Keine Zeugen.

In meinem Kopf beginnt alles zu flirren. Ich reiße die letzte Tür auf – die zur Halle. Die schweren Flügel schwingen mit einem dumpfen Knall auf, und ein Schwall abgestandener Luft schlägt mir entgegen. Mein Blick tastet suchend über den Boden, die bunten Linien, die Matten, die Bänke. Leer. Kein Mensch zu sehen. Nichts zu hören. Nur mein Atem, der viel zu laut in meinen Ohren dröhnt.

Da ist nich... Moment. Doch. Da ist etwas. Ein Leuchten. Unter dem Vorhang, hinter dem die Geräte stehen, flackert ein helles, blaues Licht. Da müssen sie sein.

Ich laufe auf das Licht zu. Das Adrenalin schießt durch meinen Körper, lässt keinen klaren Gedanken zu. Ich packe den Vorhang – und ziehe ihn mit einem Ruck zur Seite.

„Was zur...?!“ Mit aufgerissenen Augen starre ich in den Geräteraum, versuche, das Bild vor mir mit meinem Verstand in Einklang zu bringen. Stella und der Anzugträger – es ist tatsächlich Greindler – drehen sich erschrocken um.

In der Wand, vor der normalerweise ein Stufenbarren oder ein paar Kästen stehen müssten, klafft eine Öffnung – kein richtiges Loch, eher eine ovale Fläche, ausgefüllt von flackerndem Blau. Es vibriert wie Luft über heißem Asphalt, knistert leise, als stünde es unter Strom. Wie ein Signal.

Oder eine Warnung.

Ich bin so gebannt von dem Anblick, dass ich wie versteinert dastehe. Erst Stellas Stimme reißt mich aus der Starre.

„Mom?“

„Stella!“

Sie macht einen Schritt auf mich zu. Ich strecke instinktiv die Hand nach ihr aus, will ihr entgegeneilen – doch da packt Greindler Stella am Arm, reißt sie brutal zurück.

„Lass sie los!“, brülle ich – zu spät.

Mit voller Wucht stößt er Stella in Richtung der blauen Fläche. Sie wird sich wehtun, schreit mein Gehirn, doch stattdessen...

„Mom!“

...wird sie vom Licht verschluckt.

„Stellaaaaaaa!!!“, schreie ich, stürze nach vorn - doch Greindler stellt sich mir in den Weg. „Frau Manzoni, Sie verstehen das ni...“

Nein. Tue ich nicht. Ich verstehe gar nichts.

Plötzlich spüre ich wieder das Gewicht in meiner Hand. Ohne nachzudenken reiße ich das Zugband hoch – und schleudere ihm Stellas Turnbeutel ins Gesicht. Ich treffe ihn an der Schläfe. Der Schlag reißt ihm die Brille mit dem durchsichtigen Rand vom Kopf. Greindler schreit auf und schlägt die Hände vors Gesicht, doch das Wichtigste: Er macht den Weg frei.

Mit Anlauf springe ich auf das Licht zu. Für den Bruchteil einer Sekunde habe ich das Gefühl, in etwas Dichtes einzudringen – zäh wie Gelee, doch ohne Widerstand.

Dann falle ich.

5

Vor vielen Jahren hatte ich mal eine Gehirnerschütterung. Damals war ich in Stellas Alter, es passierte beim Basketballspielen an einem heißen Sommertag. Ich sprang zum Korb hoch, kollidierte mit einer Mitspielerin – und knallte mit dem Hinterkopf auf den Asphalt.

Als ich jetzt wieder zu mir komme, fühle ich mich genauso wie an jenem Tag vor so langer Zeit – benommen, schwindlig, übel.

„Augen auf.“

Die Stimme kommt aus dem Nichts; weder eindeutig männlich noch weiblich. Ich blinzele gegen das grelle Licht über mir, versuche etwas zu erkennen. Allmählich schält sich ein dunkler Umriss aus der Helligkeit, nimmt Gestalt an. Ein dürrer Körper, gehüllt in ein weißes, fast leuchtendes Gewand. Der ovale Kopf schimmert grünlich – und ist völlig überproportioniert. Kein Mund, keine Nase. Nur zwei gigantische Augenpaare. Und jedes dieser Augen besteht aus Hunderten kleinerer Augen, wie Insektenfacetten, die sich unaufhörlich bewegen.

Ich schreie, aber kein Ton kommt heraus. Alles in mir erstarrt, nur mein Herz rast, hämmert gegen die Rippen, als wolle es mir entkommen. Das muss ein schlechter Traum sein, oder? Ein Traum, ein schlechter Traum. Gleich werde ich aufwachen. Doch das erwartete Erwachen bleibt aus.

Ich versuche mich zu bewegen, doch ich komme nicht vom Fleck. Das, was auch immer unter mir ist, ist weich, aber fest zugleich – eine Liege? - und passt sich meiner Bewegung an. Als ich mich aufrichten will, spüre ich einen Widerstand quer über dem Brustkorb – unsichtbar, aber unnachgiebig.

„Halt still.“ Ein weiterer Befehl aus dem Nichts. Ich gehorche – nicht aus Überzeugung, sondern weil mir die Ausweglosigkeit meiner Lage bewusst ist. Lieber Kräfte sparen, für den Moment, in dem ich wirklich eine Chance habe. Mein Blick tastet das Gesicht des seltsamen Wesens ab - falls man das überhaupt so nennen kann – auf der Suche nach einem Mund. Vergeblich.

Die Stimme ist in meinem Kopf, begreife ich. Das Wesen deutet ein Nicken an. Als hätte es meinen Gedanken gelesen.

„Du hast eine cerebrale Erschütterung erlitten, Erdling. Wir haben deinen Körper stabilisiert. Schädelinnendruck ist innerhalb akzeptabler Schwankungsbreite. Reduziere sensorische Reizaufnahme für 72 Erdzyklen und vermeide schnelle Bewegungen nach Rückführung.“

„Was bist du?“, flüstere ich. Ich kann hören, was es sagt, doch ich verstehe kein Wort.

„Deinesgleichen nennt uns Außerirdische. Aliens. Höhere Intelligenz. Subjekte der Kategorie X.“

Das ist zu viel. Das ist unglaublich. Ich kann spüren, wie der Rahmen auseinanderbricht, der meinen Verstand zusammenhält.

„Du hättest nicht durch das Portal kommen dürfen, Erdling. Diese Art der Reise tut deinesgleichen nicht gut.“

Deinesgleichen. Das Wort erinnert mich daran, weshalb ich überhaupt hier bin – ob auf einem Raumschiff oder einem anderen Planeten, wo immer hier auch sein mag.

„Wo ist meine Tochter? Was hast du mit ihr gemacht?“

Deine Tochter? Du hast keine Tochter.“

6

Man nennt das Phänomen Brutparasitismus. Zum ersten Mal hörte ich davon als Kind, bei einem Waldspaziergang mit meinen Eltern. „Kuckuck, kuckuck“, klang es zwischen den Bäumen, und ich rief fröhlich zurück, versuchte den Vogel zu entdecken, der so klang. Schließlich zeigte mein Vater auf einen Ast hoch oben in der Krone, auf dem ein schlanker, grauer Vogel mit gelben Augen und gestreifter Brust saß.

„Ein ziemlich übler Typ“, sagte er. „Der spielt anderen Vögeln ganz schön fies mit.“

Auf meine obligatorische „Warum?“-Frage erklärte er mir, dass Kuckucke keine eigenen Nester bauen. Stattdessen warten die Weibchen ab, bis andere Vögel ihr Nest verlassen – dann werfen sie ein Ei hinaus und legen ihr eigenes hinein. Manchmal passt das Kuckucksei sogar in Farbe und Größe zu denen der Wirtsvögel. Obwohl das Küken später völlig anders aussieht, wird es weiter umsorgt.

Der Kuckuck flog davon, und ich sah ihm nach, plötzlich beklommen. Ich konnte es damals noch nicht in Worte fassen, doch ich spürte ganz deutlich: Das war nicht fair. Nicht richtig. Irgendwie gemein.

„Warum machen die das, Papa?“, fragte ich.

„Weil sie Tiere sind, mein Schatz. Sie folgen ihrem Instinkt.“

„Das ist traurig“, sagte ich leise.

„Das ist die Natur“, sagte mein Vater.

An dieses Gespräch muss ich denken, als ich der Stimme in meinem Kopf lausche – der Stimme, die mir weismachen will, dass genau das mir passiert sei.

Brutparasitismus.

All die Jahre soll ich ein Kind großgezogen haben, dass nie meines war. Ein... ein Alien.

Ich zwinge mich, das vieläugige Wesen direkt anzuschauen. „Das ist nicht wahr“, sage ich im Brustton der Überzeugung.

„Du zweifelst, Erdling?“

„Verdammt, das hätte ich doch wohl gemerkt. Ich habe Stella geboren!“

„Und sie war immer bei dir? Nie hast du sie aus den Augen gelassen?“

Ich starre weiter. Langsam gewöhnt sich mein Verstand an diesen Anblick, diese Andersartigkeit. Ich will widersprechen. Doch ich kann nicht - weil sie eben nicht immer bei mir war.

Schon kurz nach der Geburt hatte man mir Stella weggenommen. Für ein paar Untersuchungen. Routine, hieß es. Nein, Rufus könne nicht mitkommen. Er solle lieber bei mir bleiben, während ich genäht werde. Keine Sorge, sagten sie. In ein paar Minuten bekämen wir sie zurück. Sauber. Frisch.

Da soll... es... der Austausch... passiert sein?

Das Wesen nickt. Doch seine Bestätigung ist mir nichts wert. Das ist doch kompletter Unfug. Mein Baby soll in diesen Minuten vertauscht worden sein? Gegen... das da?

Nein. Einfach nein.

In meinem Magen brodelt es wie in einem Hexenkessel. Ich schlucke verzweifelt gegen die Magensäure an, die mir die Kehle hinaufbrennt. „Ich glaube, ich muss...“

„Wir können unsere Nachkommen äußerlich der Spezies anpassen, bei der sie aufwachsen sollen“, erklärt die Stimme. „Ab einem bestimmten Alter verlieren wir diese Fähigkeit. Wenn sich Anzeichen dafür zeigen, leiten wir das Rückführprotokoll ein.“

„...ich muss mich jetzt wirklich übergeben.“

Kaum habe ich es ausgesprochen, spüre ich, wie die Unterlage sich bewegt – langsam, kontrolliert, als würde eine unsichtbare Kraft mich aufrichten. Die Liege neigt sich nach vorn, bis ich beinahe stehe. Zum ersten Mal nehme ich meine Umgebung bewusst war. Alles erinnert an ein Krankenhauszimmer – die glatten Flächen, die Konsole mit den flackernden Symbolen, der Hauch von Desinfektionsmittel in der Luft. Ein schalenförmiges Gefäß gleitet geräuschlos aus der Wand neben mir heraus. Direkt unter meinem Kinn kommt das Ding zum Stehen.

Was für ein Service.

„Du willst mich also nicht an meiner eigenen Kotze ersticken lassen, was?“, knurre ich.

„Wir sind keine Barbaren, Erdling.“ Zum ersten Mal klingt die Stimme nicht völlig unberührt. Ich bilde mir ein, einen leichten Anflug von Empörung herauszuhören.

Ich würge ein paar Mal trocken, aber es kommt nichts hoch. „Was hast du dann mit mir vor?“, bringe ich heraus, der bitteren Realität ins Auge blickend: ich bin komplett ausgeliefert. Vielleicht sehe ich Stella – denn das ist sie noch immer, sie ist meine Stella, egal, was das Wesen sagt, es lügt – nie wieder. Vielleicht werde ich hier sterben.

„Wir wollen dich nicht töten. Wir wollen nur verstehen.“

„Was verstehen?“, frage ich irritiert. Die Sache mit dem Gedankenlesen wird von Sekunde zu Sekunde unheimlicher.

Tausend Augen sind starr auf mich gerichtet. Keine Antwort.

„Was verstehen?“, brülle ich.

„Für die Weitergabe dieser Information habe ich keine Freigabestufe. Das erfährst du von Praeceptoris.“

7

Senkrecht auf der Liege schwebe ich ohne sichtbare Halterung hinter dem Wesen aus der Krankenstation hinaus und einen langen, weißen Flur mit leicht gekrümmten Wänden entlang. Hinter jeder Tür, die wir passieren, könnte Stella sein – allein, verzweifelt, verletzt, in Ketten. Die Möglichkeiten sind schier endlos, und jede einzelne schnürt mir die Luft ab. Ich hoffe inständig, dass sie dort ist, wo man mich hinbringt.

Bei – Praeceptoris.

Der Name klingt in meinem Kopf nach. Endlich zahlt es sich aus, dass ich einer aussterbenden Spezies angehöre – derer, die in ihrer Schulzeit eine tote Sprache gelernt haben. Latein. Praeceptum bedeutet so viel wie Lehre, wenn ich mich recht entsinne. Im Mittelalter nannte man einen Lehrer Präzeptor. Ob man mich einem Alien-Gelehrten vorführt?

Wir biegen links ab – und plötzlich öffnet sich der enge Gang zu einem Saal, gewölbt wie das Innere einer riesigen Muschel. Ein leises Keuchen entweicht mir, als mein Blick über die stufenförmig angeordneten Reihen wandert: Da sind Dutzende von ihnen. Wesen, die im groben Aufbau meinem Begleiter ähneln, aber sich doch voneinander unterscheiden.

Da sind große und kleine Gestalten, schlanke und massige. Ihre Haut schimmert in unterschiedlichen Grüntönen – von einem fast durchscheinenden Lindgrün bis hin zu einem moosigen Dunkelgrün. Keiner hat einen Mund oder eine Nase, nur diese beiden übergroßen Insektenaugen – und darin kleinere, zusätzliche Augen.

Diese Übermacht überwältigt mich. Wie soll ich es mit all diesen Kreaturen aufnehmen? Wie kann ich Stella...

Plötzlich verliere ich den Halt. Im Fallen begreife ich, dass mein Begleiter die unsichtbare Vorrichtung gelöst haben muss, die mich an die Liege kettete – und das ohne Berührung. Oder Warnung. Mit einem Aufschrei schlage ich auf den glattpolierten Boden auf. Der Schmerz lässt meine Handflächen und Knie brennen.

„Entschuldigung“, höre ich die vertraute Stimme in meinem Kopf. Zorn und Erleichterung kämpfen in mir um die Oberhand – endlich frei, und doch... was kann ich schon ausrichten?

Ein tiefes Grollen rollt durch den Boden und lässt meinen Körper erzittern. Alarmiert rappele ich mich wieder auf. Was ist denn jetzt los? In der Mitte des Saals schieben sich Segmente des Untergrunds auseinander, und eine erhöhte Plattform steigt empor, auf der einer von ihnen steht - wie alle anderen in ein weißes Gewand gehüllt, aber größer und dunkler. Aus einem Ärmel ragen zwei lange, dünne Glieder hervor, ähnlich dem Griff einer Zange. Dazwischen klemmt ein Objekt, das wie ein Tischtennisschläger aussieht, aber sicher keiner ist. Eher ist es eine Waffe. Oder Schlimmeres.

Ohne Zweifel weiß ich nur eines – das ist Praeceptoris.

Mit meiner Gelehrten-Theorie lag ich wohl daneben. Alles an dieser Haltung, dieser Präsenz, schreit nach Anführer - auch wenn das eine das andere nicht ausschließen muss.

Ich warte darauf, dass etwas passiert, doch... nichts. Worauf wartet es? Dass ich meinen Respekt zeige? Nun, das sollte ich wohl. Es wäre vernünftig. Doch über Vernunft bin ich weit hinaus. Meine Tochter wurde mir gestohlen. Ich bin in eine fremde Welt gestürzt, wurde gegen meinen Willen festgehalten, meine Gedanken durchforstet. Und was sie mit mir gemacht haben, als ich bewusstlos war... will ich lieber nicht wissen.

Etwas in mir reißt. Mit einem hässlichen Ratschen – wie eine Naht, die unter zu viel Spannung platzt. Ich richte mich zu meiner vollen Größe auf - Schultern nach hinten, Rücken gerade, wie ich es im „Selbstbewusst auftreten“-Seminar gelernt habe – und schreie meinen ganzen Frust hinaus.

„Ihr habt keine Ahnung, mit wem ihr euch angelegt habt, ihr kinderstehlenden, psychopathischen Monster! Gebt mir meine Tochter zurück! Sofort!“

„Wir haben keine Ahnung, mit wem wir uns angelegt haben?“ Die Stimme in meinem Kopf ist neu – scharf und von einer Autorität, die keine Widerrede duldet. Automatisch ordne ich sie Praeceptoris zu. „Uns scheint, mit einem Erdling, der nicht richtig zuhört. Wir stehlen keine Kinder. Wir nehmen nur zurück, was uns gehört. Medicatoris hat es dir erklärt.“

„Was euch gehört?“ Ich lache hart auf. „Ein Scheiß gehört euch.“ Die Wut vernebelt mir die Sinne und mit ihr verschwindet der letzte Rest Vernunft. „Ihr schiebt eure Kinder ab, lasst andere die Arbeit machen und habt dann noch die Dreistigkeit, Ansprüche zu stellen? Wer seine Kinder freiwillig weggibt, hat jedes Recht verloren.“ Ich schnappe nach Luft und halte kurz inne, meine Stimme wird ruhiger. „Außerdem irrt ihr euch. Selbst wenn diese absurde Geschichte stimmt - meine Tochter wurde nicht ausgetauscht. Das hätte ich gemerkt. Ihr habt das falsche Mädchen!“

„Du verlierst keine Zeit, Erdling, das gefällt uns. Hilf uns verstehen: Du glaubst uns nicht. Du klammerst dich an deine Version der Wahrheit. Aber warum? Was treibt dich an, so heftig zu kämpfen?“

„Liebe“, sage ich schlicht. „Ich liebe Stella. Und ich werde sie nicht aufgeben. Niemals. Egal, was ihr sagt.“

„Ist dir denn nie aufgefallen, dass sie anders ist?“

Anders. Verdammt, wir haben 2025 - zeig mir einen Menschen, der komplett in die gesellschaftliche Norm passt. ADHS, Asperger, Laktose-Intoleranz, panische Angst vor Clowns, der Zwang, immer drei Mal zu prüfen, ob die Haustür abgeschlossen ist. Jeder hat doch irgendwas. Anders ist normal.

Natürlich habe ich mir früher Sorgen gemacht, dass etwas mit Stella nicht stimmt. Wie jede Mutter. Ihre ruhige Art. Dass sie keinen Blickkontakt halten konnte. So spät sprechen lernte. Kein Interesse daran zeigte, mit anderen Kindern zu spielen. Aber da denkt man an Autismus - nicht daran, dass man insgeheim ein Alien großzieht.

Nein, Anderssein beweist gar nicht.

„Vielleicht kannst du die Wahrheit nicht sehen, weil du sie gar nicht aufgezogen hast. Das, was du uns vorwirfst – das tust du doch selbst.“

Ich zucke zurück, als wäre ich geschlagen worden. „Was soll das heißen?“, frage ich schroff.

„Ihr Erdlinge. Kaum sind eure Abkömmlinge geboren, gebt ihr sie doch selbst ab – Krippe, Kita, Schule. Nur das Nötigste bringt ihr ihnen selbst bei, den Rest erledigen andere. Für alles habt ihr Lehrer. Und an freien Tagen schiebt ihr sie zu den Ältesten, damit ihr Zeit für euch habt. Die meiste Zeit seht ihr sie nur im Dunkeln – morgens verlasst ihr gemeinsam das Haus, abends kehrt ihr zurück.“ Praeceptoris schüttelt bedächtig das Haupt. „Das konntet ihr früher besser. Warum macht ihr das nicht mehr so wie früher?“

Ich ringe um Beherrschung, habe das Gefühl, die Menschheit verteidigen zu müssen. „Ihr wisst nichts von uns Erdlingen“, knurre ich. „Ja, unsere Kinder sind früher bei uns geblieben. Aber das hieß auch: Die Frau blieb zuhause, machte sich finanziell abhängig vom Partner.“ Ich balle die Hände zu Fäusten, spüre, wie sich meine Fingernägel in die Handflächen graben. „Und selbst wenn wir wollten – viele von uns könnten es sich heutzutage gar nicht leisten, auf ein Einkommen zu verzichten. Wir schicken unsere Kinder nicht weg, weil wir sie loswerden wollen, sondern weil wir keine Wahl haben.“

„Also würdest du nicht arbeiten, wenn du eine Wahl hättest? Nur für dein Kind da sein, bis es erwachsen ist?“

Für einen Moment starre ich Praeceptoris an, völlig überrumpelt. „Natürlich nicht. Ich bin ja nicht nur Mutter. Ich bin mehr als das. Ich mag meinen Job, ich arbeite...“

Praeceptoris hebt den Tischtennisschläger und unterbricht mich. „Danke, das reicht.“

8

Das war's jetzt, oder? Reflexartig zucke ich zurück. Jetzt werde ich dem Erdboden gleichgemacht. Praeceptoris’ Arm verharrt in der Luft, das seltsame Objekt zwischen den langen Zangengliedern, still wie ein Raubtier kurz vor dem Sprung. Dann, ohne Vorwarnung, sinkt der Arm. Kein Lichtblitz, kein Schlag, kein Schmerz. Nur die Stimme, die mein Bewusstsein flutet, warm und kalt zugleich.

„Sieh, wir verurteilen euch nicht. So hat es bei uns auch angefangen: Zunächst mit kleinen Stützpunkten, an denen unsere Abkömmlinge für einige Stunden am Tag betreut wurden. Später blieben sie dort über Nacht. Irgendwann haben wir die Erziehungsarbeit ganz ausgelagert. Auf euren Planeten.“ Es entsteht eine kurze Pause, wie um zu prüfen, ob ich folgen kann. „Seitdem sind wir weiter gekommen als in den Jahrtausenden davor – medizinisch, technologisch, kulturell. Keine Ablenkung, keine Verpflichtungen, nur Konzentration auf das, was uns voranbringt.“

„Das ist traurig“, sage ich, und es ist das kleine Mädchen, das ich mal war, das da aus mir spricht.

„Warum?“

„Warum?“, wiederhole ich. Da behauptet diese „Höhere Intelligenz“, sie seien keine Barbaren, aber das kann sie nicht verstehen.

„Weil nichts davon die Zeit mit deinen Kindern aufwiegt. Sie sind nur so kurze Zeit so klein. Und obwohl ich gearbeitet habe, war ich da – habe Erinnerungen geschaffen, Geschichten erzählt, Pflaster geklebt, Tränen getrocknet. Dinge, die jeder tun könnte – die aber nur durch Liebe unvergesslich werden.“

„Das mag gut für das Individuum sein, aber es bringt eure Spezies als Ganzes nicht weiter. In diesem Punkt kommen wir nicht überein.“ Praeceptoris' Stimme ist entschieden, doch auf den Rängen wird es unruhig. Einige der Wesen wiegen sich vor und zurück, als würden sie Wellen aus unsichtbarer Energie durch den Raum schicken. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie der Unterhaltung in meinem Kopf folgen können, alle von ihnen. Sie sind ein kaum wahrnehmbares, statisches Rauschen im Hintergrund. Jeder Gedanke, den Praeceptoris mir schickt, liegt für sie offen dar. Nur was machen sie daraus? Haben sie eine eigene Meinung? Oder sind sie längst nur noch Splitter desselben Bewusstseins?

„Gegensätze – aber genau das macht es zu einer perfekten Übereinkunft“, fährt Praeceptoris fort. „Du hattest deine Erfüllung, nun nehmen wir die unsere. Win-win, wie ihr sagt.“

„Das könnt ihr vergessen. Win-win am Arsch“, kontere ich. „Stella ist mein Leben. Ihr könnt sie nicht haben. Gebt sie zurück.“

„Du begreifst es wirklich nicht, oder?“ Praeceptoris klingt jetzt fast irritiert. „Sie ist unser Abkömmling. Sie ist im Begriff, ihre Fähigkeit, sich optisch an Erdlinge anzupassen, zu verlieren. Sie kann nicht länger unter euch leben.“

„Ihr wollt, dass ich das glaube. Ein Trick, damit ich aufgebe.“ Ich spüre, wie mir das Blut in den Schläfen hämmert. „Ihr lügt, um mich blind zu machen für das, was ihr wirklich mit ihr vorhabt.“

Praeceptoris Insekten-Augen sind unergründlich. „So kommen wir nicht weiter.“ Der Boden vibriert wieder. „Du lässt uns keine Wahl. Du musst sehen, um zu verstehen.“

Die Vibration wird stärker. Ich drehe mich um und sehe, wie sich der Untergrund erneut öffnet. Stumm wappne ich mich für das Schlimmste. Ich rechne mit allem, nur nicht damit, dass meine Tochter auf einer ebenen Vorrichtung nach oben gefahren wird, bis sie vor mir steht.

„Hi Mom“, sagt sie, so alltäglich, als hätte sie gerade erst ihre Schultasche in die Ecke geschleudert.

9

Stella. Sie ist es wirklich. In Jeans und ihrem roten Lieblingspulli steht sie vor mir, nur die Jacke fehlt. Sie sieht aus wie immer – sie haben ihr kein Haar gekrümmt. Dem Himmel sei Dank. Ein haltloses Schluchzen bricht aus mir heraus, Tränen strömen über mein Gesicht.

Stella weicht zurück. „Nicht, Mom. Das macht es nur schwerer.“

„Keine Sorge, mein Schatz, jetzt wird alles gut“, versuche ich sie zu beruhigen. Ein Funken Hoffnung flammt in mir auf, so hell, dass mir die Knie weich werden. Ich bin noch immer in einem Saal mit all diesen Außerirdischen und habe keinen Plan, wie ich uns retten kann, doch Stella ist hier bei mir und ihr geht es gut.

Ich reiße den Blick von ihr los und wende mich wieder Praeceptoris zu. „Bitte...“ Meine Stimme zittert, aber ich zwinge mich, standhaft zu klingen. „Lass uns gehen. Ich flehe dich an. Lass meine Tochter und mich nach Hause gehen.“

„Mom“, sagt Stella.

„Gleich, Schatz“, beschwichtige ich, lasse Praeceptoris nicht aus den Augen.

„Ich will hierbleiben, Mom. Ich gehöre hierher.“

Mein Atem stockt. Fassungslos drehe ich mich zu ihr um. Nein, nein, nein, nein. Sie haben sie bereits einer Gehirnwäsche unterzogen. Sie glaubt ihre Lügen. „Nein, Stella.“ Ich presse jedes Wort langsam und deutlich hervor, als könnte ich sie damit zurückholen. „Das ist nicht wahr. Du bist meine Tochter.“

„Sieh mich an, Mom. Sieh genau hin. Ich bin eine von ihnen.“

Ich setze zu einer Erwiderung an, doch die Worte bleiben mir im Halse stecken. Dann begreife ich es. Stella. Eben, als sie gesprochen hat, hat sich ihr Mund nicht bewegt. Ihre Stimme. Ich höre sie in meinem Kopf.

Es muss eine optische...

„Es ist keine optische Täuschung.“ Stella seufzt. „Hör mir einmal richtig zu, Mom.“

Sie sagt das so, als würde ich das sonst nicht tun. Zuhören.

„Weißt du, wie es ist, wenn du dein Leben lang spürst, dass was nicht stimmt mit dir? Dass du anders bist, egal wie sehr du dich anstrengst? Du siehst, wie alle um dich herum hineinpassen – nur du nicht. Du fragst dich, ob du krank bist. Oder kaputt. Und niemand kann dir eine Antwort geben.“ Eine einzelne Träne rollt ihre Wange hinab. „Jetzt weiß ich endlich, warum. Weil ich kein Mensch bin. Weil ich nie einer war.“

„Was redest du da, Schatz? Ich weiß, wer du bist.“

„Genug“, schaltet Praeceptoris sich ein. „Zeig es ihr. Sie muss es sehen.“

„Nein!“ Der Schmerz in Stellas Stimme trifft mich unvorbereitet. „Bitte, das kann ich ihr nicht antun. Sie war eine gute Mutter. Das hat sie nicht...“

Plötzlich krümmt Stella sich zusammen, als würde eine unsichtbare Last auf ihr niedergehen. „Stella!“, schreie ich und stürze nach vorn. Ich knie neben ihr nieder und fasse ihr Gesicht mit beiden Händen. Ihre Haut ist heiß und feucht unter meinen Fingern. „Was hast du getan?“, schreie ich in Praeceptoris Richtung.

Ein widerliches Knacken zerreißt die Luft – als würde eine gigantische Eierschale brechen. „Es tut mir leid, Mom“, flüstert Stella schmerzerfüllt und diesmal kommen die Worte aus ihrem Mund. Im selben Moment spannt sich ihre Haut, reißt an den Knochen auf, Pulli und Jeans platzen an den Nähten - und darunter tritt etwas Dunkleres hervor. Zu fremd, um noch menschlich zu sein.

Mit einem Aufschrei reiße ich mich von ihr los, stolpere rückwärts – und muss mitansehen, wie meine schöne Tochter Stück für Stück zerbricht. Wie ein Schmetterling, der aus der falschen Hülle schlüpft – nur dass dieser hier alles verschlingt, was ich liebe. Ein Wesen mit grüner Haut und übergroßen, facettenartigen Augen erhebt sich vor mir, dort, wo eben noch meine Tochter war.

Als mir schwarz vor Augen wird, höre ich eine Stimme in meinem Kopf, aber es ist nicht mehr die von Stella. „Mom?“

10

„Warum ich?“

Ich bin wieder auf der Liege festgeschnallt, an dem Ort, den ich für die Krankenstation halte. Das Wesen, das sie Medicatoris nennen, ist bei mir. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mir etwas verabreicht haben, um mich zu beruhigen, aber das ist mir egal. Sollen sie mit mir machen, was sie wollen. Es ist egal. Ich habe keine Tochter mehr.

„Nicht nur du. Viele.“

Ich habe nicht mit einer Antwort gerechnet, weil es auf diese Frage normalerweise keine gibt. Guten Menschen passieren grundlos schlimme Dinge. So einfach ist das.

„Viele? Wie viele?“, flüstere ich argwöhnisch.

„Ich kenne keine Zahlen, doch es gibt ein Abkommen mit euren Anführern. Man hat sich auf eine Quote an Kindern geeinigt, die jährlich aus jedem Land eures Planeten gegen unsere Abkömmlinge ausgetauscht werden.“

Schlagartig bin ich wieder hellwach. Es gibt Menschen, die davon wissen? Klar, Greindler, der Stellvertretende Schuldirektor, der Stella zum Portal gebracht hat, muss ein Mitwisser sein, doch... ein Abkommen, in dem alle Länder der Erde involviert sind? Nach allem, was heute passiert ist, dachte ich, mich könnte nichts mehr erschüttern. Doch das übersteigt alles.

Das kann einfach nicht sein.

Das – darf nicht sein.

„Warum zur Hölle sollte sich die Menschheit auf so einen faulen Kuhhandel eingelassen haben?“

„Euch kommt im Gegenzug ein Anteil an unseren Errungenschaften zugute. Heilmittel für Krankheiten. Technologie für Krieg.“

Krieg. Natürlich. „Und diese Quote“, hake ich nach. „Nach welchen Kriterien werden die Kinder ausgewählt?“

„Zufallsprinzip.“

Ich lache bitter auf. „Politikerkinder sind also auch im Lostopf, ja?“

Medicatoris sieht mich stumm an und niemand muss es aussprechen. Ich weiß es auch so.

Ein bläulicher Schimmer breitet sich auf der Wand mir gegenüber aus. Er nimmt von Sekunde zu Sekunde an Intensität zu. Das Portal. „Es wird Zeit“, sagt Medicatoris.

„Warte, eine letzte Frage“, flehe ich. So lange habe ich den Gedanken abgewehrt, Stella könne etwas anderes als meine Tochter sein, und darüber verdrängt, dass der Austausch erst nach ihrer Geburt geschah. „Was ist mit meiner echten Tochter?“

Medicatoris senkt den Kopf. „Davon wissen wir nichts. Das entscheiden eure Anführer. Es scheint... einen Markt dafür zu geben.“

Es ist die schlimmstmögliche aller Antworten. Sie könnte längst tot oder noch am Leben sein. Und wenn sie am Leben sein sollte – was ist das dann für ein Leben?

Ich kämpfe mit den Tränen. „Warum erzählst du mir das alles?“

Medicatoris hebt die beiden langen Glieder und legt sie seitlich an den Schädel. Augenblicklich schließen sich mehrere der kleinen Facettenaugen. In meinem Kopf kehrt eine unnatürliche Stille ein. Das kaum wahrnehmbare Rauschen ist fort. Und mit ihm, so spüre ich, auch die Präsenz der anderen.

„Ich habe auch eine Mutter. Auf der Erde.“ Es ist das erste Mal, dass eines dieser Wesen von sich in der Ich-Form spricht. „Sie heißt Diana Curth und kommt aus Liverpool. Sie lebt bis heute in Unwissenheit. All die Jahre – und sie weiß nicht, was mit mir passiert ist.“

Oh. Oh. Ich schaue Medicatoris an und begreife: Ihm ist das gleiche widerfahren wie Stella. Er ist auf der Erde als Mensch großgezogen worden und wurde dann aus seinem vertrauten Umfeld gerissen. Etwas in meiner Brust zieht sich zusammen – schmerzhaft und unerwartet. Es tut mir leid. So leid.

„Kannst du sie finden und ihr sagen, dass es mir gutgeht? Sag ihr nicht die Wahrheit. Sag ihr nicht, was ich wirklich bin.“ Ich schließe die Augen und in diesem Moment spricht kein Außerirdischer zu mir, sondern eine menschliche Stimme, voller Farbe, voller Gefühl.

„Sag ihr nur, dass es mir gutgeht.“

Epilog

Bis zuletzt hatte ich Zweifel, ob sie mich wirklich gehen lassen würden. Ob sie mir nicht meine Erinnerungen nehmen würden. Als sich das Portal vollständig aufgebaut hatte, kam Praeceptoris höchstpersönlich auf die Station, um mich zurückzuschicken.

„Ihr lasst mich einfach so gehen? Mit allem, was ich weiß?“, fragte ich skeptisch.

Praeceptoris sah mich lange an und sagte dann schlicht: „Was kann ein einzelner Erdling schon ausrichten? Wer würde dir glauben?“

Praeceptoris hat recht. Ein einzelner Mensch kann nichts ausrichten.

Doch ich bin nicht allein.

Ich werde andere finden.

Eltern, die ein Kind verloren haben. Eltern, die an Flucht, Entführung und Mord, aber nicht an die vierte Möglichkeit denken. An die, die in keiner Statistik auftaucht.

Wir sind viele. Wir existieren nebeneinander, ohne voneinander zu wissen.

Egal, wie lange es dauert. Ich werde sie finden.

Ich werde so viele Hinterbliebene finden, bis wir eine ganze Armee von Hinterbliebenen sind. Dann werden wir Antworten bekommen. Die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen.

Wir werden Regierungen stürzen, wenn es sein muss.

Egal, wie lange es dauert. Ich werde sie finden.

Ich weiß auch schon, wo ich anfangen werde. Bei Diana Curth aus Liverpool.

4 Kommentare

  1. Wow, wow, wow! Diese Story steht für mich ganz oben mit auf der Liste! Sie ist perfekt, besser geht’s nicht. Thema voll erfasst, super geschrieben, lebendig, außergewöhnlich, rundherum gut.

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  2. Diese Geschichte toppt alles, was ich bisher hier gelesen habe - und es sind schon die Hälfte. Sie hat alles, was verlangt war und so viel mehr. Menschlich, spannend, nachvollziehbar, rührt zu Tränen. Sprachlich einwandfrei. FANTASTISCH!!!!

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  3. Stellenweise fand ich die Geschichte etwas langatmig. Die Überlegungen zur Elternschaft finde ich aber interessant und genau passend zum Thema der Ausschreibung.

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  4. Die Geschichte greift ein heikles Thema auf und geht schon fast als Horror durch. Vor allem, wenn man bedenkt, was mit den ausgetauschten Menschenkindern geschieht. Die Andeutung allein ist schon grauenvoll. Ich finde nur, dass die Mutter sich etwas eher nach ihrer echten Tochter hätte erkundigen können. Klar, ihr Fokus liegt erst einmal auf ihrer angenommenen Tochter und sie zweifelt zunächst an der Behauptung der Aliens. Doch spätestens nach der Rückartung von Stella hätte die Frage sofort kommen müssen. Und die Antwort hätte die Mutter weit mehr traumatisieren müssen.

    Die Rückartung von Stella geht mir dagegen zu schnell vonstatten. Da die Aliens eine physische Form haben und keine amorphen Formwandler wie Odo sind, sollte das nicht von jetzt auf gleich gehen. Die Erklärung für die Kuckuckskinder ist auch etwas dürftig und nicht ganz zu Ende gedacht. Im Prinzip haben die Aliens einfach Besseres zu tun. Doch ihre Kinder wachsen in einem völlig anderen Wertesystem auf, sodass ihre Rückkehr zu gesellschaftlichen Spannungen führen sollte. Stella entscheidet sich außerdem viel zu schnell für ihre Rabeneltern, denen sie bisher egal war. Das Aufwachsen auf der Erde scheint völlig spurlos an dieser Spezies vorbeizugehen.

    Immerhin die meisten Fragen, die aufgeworfen werden, erklären sich irgendwann. Zum Beispiel, warum der Schuldirektor, der offenkundig ein Mensch ist, bei der Sache mit macht? Die Antwort ist ziemlich gruselig. Wenn alles so gut durchdacht wäre, würde die Geschichte super funktionieren. Der Schreibstil ist jedenfalls ordentlich, die Geschichte gut strukturiert und spannend aufgebaut. Nur leider beschränkt sich der seelische Konflikt auf die Mutter. Die Frage, was das alles mit der Gesellschaft der Außerirdischen macht, wird nicht einmal gestellt.

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