DACSF2025_22

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Schwester

Der Auftrag

Das Raumschiff der Außerirdischen wirbelt Staub auf, als es nach der Abenddämmerung landet. Es hat schon lange nicht mehr geregnet. Schmachtend erträgt die afrikanische Steppe den Durst, den ihr das Klima auferlegt.

„Die hiesige Flugsicherung hat nichts bemerkt. Unser Radar zeigt keinerlei Aktivitäten an“, resümiert die Pilotin und drückt Knöpfe auf dem Bedienpult, bis auch das letzte verräterische Summen verstummt.

„Ach, T’Lina – das tut sie doch nie“, lacht ihr Begleiter und wirft ihr einen Handkuss zu. „Dazu sind deine Landungen viel zu gut, regelrecht butterweich.“ Damit löst er seinen Gurt und macht sich zum Gepäckabteil des engen Raumschiffs auf, um kurz darauf mit ein paar Kleidungsstücken über seinem Arm zurückzukehren.

„Ach, Ka’Tong – du und dein ewiges Pflichtbewusstsein! Muss ich wirklich?“, stöhnt die Pilotin beim Blick auf die Mitbringsel und schwingt sich aus dem Sitz heraus. Sie wankt. Die Schwerkraft der Erde braucht stets eine kurze Eingewöhnung.

„Du kennst doch den Auftrag“, antwortet der Pflichtergebene. „Und dafür dürfen wir den Erdlingen nicht auffallen, wenn wir schon Gesicht und Körper perfekt an das Aussehen hierzulande anpassen können. Unser Sprössling wird heute 15 Erdenjahre alt. Höchste Zeit, dass wir ihn in die Heimatwelt zurückholen!“

„Und du bist dir sicher, dass er überlebt hat? Ich meine, bisher haben wir unsere Kuckuckseier stets in entwickelten Regionen auf dem Erdball ausgelegt. Dort verhungert keiner und die medizinische Versorgung genügt immerhin einem gewissen Standard.“ Damit öffnet sie die Ausstiegsluke, durch die ein Schwall der Hitze des endenden Tages in den Bauch des Schiffes strömt. „Aber hier, in einem Entwicklungsland?“

„Das ist doch gerade die Idee!“, beharrt ihr Partner und hält ihr abermals die Kleidung hin, die sie widerwillig gegen ihr überlegenes funktionales Outfit tauscht.

„Der Mangel ist eine Herausforderung – auch in unserer Zukunft!“, beteuert er. „Sohnemann wird wertvolle Erfahrungen mitbringen. Wir leben nicht länger in Saus und Braus. Und um die medizinischen Standards in der Heimatwelt ist es ebenfalls nicht zum Besten bestellt. Es gibt Krankheiten, die unbehandelt bleiben, weil Mittel für die Forschung fehlen!“

Sie seufzt, während sie sich die Jacke als das letzte Kleidungsstück überzieht. „Du solltest zuvorderst froh und dankbar sein, dass der Junge überlebt hat. Er ist immer noch unser Sohn, auch wenn wir ihn nicht selber aufgezogen haben. Doch du redest von ihm wie von einem nützlichen Gegenstand ohne Seele.“ Draußen hallt der entfernte Schrei eines Raubtieres durch die Nacht. „Das ist eine raue Umgebung hier – all diese gefährlichen Kreaturen. Können die Menschen da besser sein? Netter?“

„Bisher haben wir alle unsere Kinder gesund zurückgeholt“, antwortet Ka’Tong und zupft seine irdische Unauffälligkeitskleidung zurecht. „Warum soll es diesmal anders sein?“

„Weil die Not aus Wesen Bestien machen kann!“ Damit schwingt sich T’Lina mitsamt ihren Sorgen durch die Luke nach draußen.

Wellblechhütten

Die Besucher bahnen sich ihren Weg durch das Gestrüpp hin zu ihrem Ziel – dorthin, wo die für Erdlinge unsichtbare galaktische Überwachung der Aliens ihren Sprössling verortet. Seinen Namen kennen sie nicht, werden ihn aber respektieren, denn kulturelle Vielfalt ist Trumpf. Sie werden ihn noch heute erfahren – nach der quälenden Zeit des Wartens. Der Junge ahnt nichts von seinem Glück. Es ist ein aufregender Moment, wie bei jedem ihrer Kinder.

„Und du bist dir sicher, dass uns hier keine Raubkatze auflauert?“, fragt die Pilotin, als sie durch hohes dürres Gras stapfen, dessen Wachstum von einem tapfer der Hitze trotzenden Bächlein gespeist wird.

„Wie oft soll ich noch auf den Sensor schauen?“, fragt der Mann und hält das Gerät mit dem winzigen Display seiner Partnerin hin. „Hier gibt es keine Löwen, höchstens ein paar kleine Tierchen.“

„Schlangen??“

Er zuckt mit den Schultern.

T’Lina nimmt augenblicklich die Beine hin die Hand, flieht durch das Gras. Geschwindigkeit schafft ein Überraschungsmoment, was wiederum die Sicherheit erhöht – so lautet ihr Kalkül.

Ihr Begleiter rennt hinterher, erreicht sie so eben und hält sie fest, bevor ein herannahender Lichtkegel sie erfassen kann. „Bist du verrückt? Autos sind gefährlicher als Schlangen! Wenn wir in einen Unfall verwickelt werden, dann fliegen wir auf!“

Der zu den Scheinwerfern gehörige Jeep zieht unbeirrt vorüber. Die holprige Straße, auf der er unterwegs ist, markiert die Grenze des Graslandes. Dahinter tut sich ihr Ziel auf: die Siedlung.

„Endlich!“, triumphiert Ka’Tong.

T’Linas Gefühle biegen in die entgegengesetzte Richtung ab: Sie schluchzt.

„Was ist denn los?“, fragt er. „Wir haben unseren Bestimmungsort so gut wie erreicht und das ohne Schlangenbiss!“

„Na sieh doch selbst: Hütten aus Wellblech zusammengezimmert, wacklige Dächer, die Löcher in den Wänden mit Gras zugestopft. Das ist kein Platz für ein Kind!“

„Wenn bei uns die Ressourcen weiter schwinden und die Bevölkerung im gleichen Takt wie bisher wächst, dann sieht es bei uns bald ähnlich aus“, antwortet er.

„Wo andere ihr Herz haben, trägst du einen verdammten Taschenrechner!“, zischt sie zurück und wischt eine Träne weg.

Still liegt die Siedlung vor ihnen. Ein Hund bellt, aber niemand lässt sich blicken. Fast nirgendwo in den Behausungen brennt Licht.

„Die sind entweder alle zur Nachtschicht in die Mine marschiert oder erholen sich von der Arbeit. Sie ist körperlich schwer“, lässt der Mann sein angelesenes Wissen aufblitzen.

Sie betreten die Ortschaft durch eine dunkle Gasse. Es ist leicht gewesen, sich an den Wachen vorbeizuschleichen. Das Sicherheitspersonal spannt einen dünnen Schutzschirm zu den Truppen der Warlords auf, den Milizen, den Kindersoldaten. Das Wachpersonal wird von der Minengesellschaft bezahlt. Das ist eines der Privilegien, wenn man hier lebt.

Die Außerirdischen eilen auf direktem Weg zu einer der Hütten. „Kein Lebenszeichen hier“, sagt Ka’Tong beim Blick auf das Sensordisplay.

„Zeig mal her!“ Mit zitternden Händen grapscht seine Partnerin nach dem Gerät und überzeugt sich selbst. „Aber hier drin haben wir ihn damals abgelegt, genau an dieser Stelle! Du erinnerst dich: Die Herrin des Hauses bekam gerade ihr eigenes Kind und wir mussten sie in einen kurzen Schlaf versetzen, um unseres unbemerkt dazuzulegen. Und jetzt? Er kann doch nicht einfach so weg sein! Umgezogen sind sie nicht, das hätte uns die galaktische Überwachung gemeldet.“

„Ja, hätte sie.“ Er legt seine Hand auf ihre Schulter. „Beruhige dich, das Häuschen ist bewohnt“, sagt er nach einem flüchtigen Blick von außen durch ein kleines Fenster der Behausung. „Er ist bestimmt weggegangen, feiert seinen Geburtstag woanders.“

Sie schauen sich um. Ein paar Katen weiter brennt noch Licht. Lachen dringt an das außerirdische Ohr. Eine Geburtstagsfeier? Das werden sie auch ohne Sensoren herausbekommen.

Die Frau stürmt voran. Die letzten Meter schleicht sie auf leisen Sohlen, erobert mit ihrem Mann einen unauffälligen Beobachtungspunkt – mit Blick durch die offene Tür, durch die die mittlerweile erfrischende Abendluft in den Raum strömt.

Alte Geschichten

T’Lina beobachtet das pulsierende Leben in der Hütte. Nervös suchen ihre Augen die anwesenden Personen ab. Welcher von ihnen ist der Junge – ihr Junge? Es tummeln sich ein paar Halbwüchsige, die ins Schema passen. Und wer sind die Pflegeeltern?

„Nein, Onkel Jomo, bitte nicht!“, fleht ein groß gewachsener Jugendlicher in der Mitte des Raumes.

„Oh doch, Matayo!“, zeigt der Alte kein Erbarmen. „Heute an eurem Ehrentag erzählen wir die Geschichte eurer Geburt – von dir und deiner Schwester Malaika.“ Er zeigt auf das Mädchen, das sich an den großen Jungen schmiegt, so als suche es Beistand vor der eigenen Verwandtschaft.

„Aber ich habe sie schon mindestens hundert Mal gehört!“

„Geschichten bleiben am Leben, indem man sie erzählt. Die Älteren unter uns vergessen schnell. Und ihr später auch.“

Die beiden Geburtstagskinder halten sich im Spaß die Ohren zu, als der Onkel anfängt: „Eure Eltern haben sich schon lange Kinder gewünscht. Nur hat das nie geklappt. Doch schließlich wurden ihre Gebete erhört und ihr kamt auf die Welt. Darauf stoßen wir an!“

In kleinen Bechern steht ein Getränk bereit, das der außerirdische Sensor aus der Ferne als eine Form von Alkohol erkennt, der die Stimmung beflügeln soll. Der Onkel erhebt sein Trinkgefäß, die meisten Gäste tun es ihm gleich. Sie nehmen einen Schluck auf das Wohl der Kinder.

„Eure Mutter war eine zierliche Frau. Die Geburt hat sie erschöpft; sie erlitt einen Schwächeanfall, nachdem sie Malaika das Leben geschenkt hatte, verlor kurz die Besinnung, wie sie sagte. Euer Vater war nicht da, musste schuften gehen, wie immer. Die Mine wartet nicht, nicht für die Arbeiter und nicht für Kinder. Na jedenfalls: Als meine Schwester nach der Geburt wieder zu sich kam, lagen ein Mädchen und ein Junge gemeinsam in ein Tuch gehüllt neben ihr. Die Hebamme war schon längst über alle Berge – weitergezogen zu einem anderen Fall. Seitdem seid ihr auf der Welt und bereichert uns!“

Ein dankbares Lächeln umspielt seinen Mund. Doch der folgende Satz löscht es wieder aus: „Eure Mutter hätte euch gerne länger durchs Leben begleitet. Diese verdammten Krankheiten hier!“ Er nippt abermals an seinem Becher, so als ob er still auf seine Schwester anstößt.

„Ihr wart viel allein. Euer Vater musste arbeiten“, erzählt der Alte weiter.

„Aber bei dir und Tante Kiah war es immer schön“, sagt Malaika. „Besonders die Geburtstage, so wie heute. Nur die Geschichten kann ich nicht mehr hören!“

„Das ist der Preis, den du zahlst!“, findet der Alte sein Lachen wieder. „Wir hatten nicht viel und ihr musstet alles mit euren Cousins und Cousinen teilen, bis auf den Schlafplatz in eurer eigenen Hütte. Aber schaut uns an!“, triumphiert er und beschreibt mit seinen Armen einen Kreis, als wenn er die ganze Runde umarmen wollte. „Wir sind immer noch da!“, jubelt er.

Er hält für einen Moment inne. Seine Stimme klingt brüchig, als er fortfährt: „Nicht alle. Aber eure Eltern sind jetzt an einem besseren Ort.“ Seine Augen richten sich nach oben.

Die Blicke der beiden Geburtstagskinder verharren hingegen im Raum. „Wir haben Vater verziehen“, sagt Malaika und legt ihre Hand auf die Schulter des Bruders. „Die Mine, die dürftigen Atemmasken, die Staublunge, die niemand heilen kann. Er war ein anderer Mensch, nachdem er nicht mehr arbeiten konnte.“

Matayo schaut auf den Becher, der für ihn bereitsteht – heute zum ersten Mal. Er rückt ihn von sich weg. Malaika hat ihren noch keines Blickes gewürdigt. In diesen Gefäßen wohnt in ihrer Vorstellung der Teufel. Ihr Vater wurde damals sein Untertan. Matayo zieht das Hemd, das er zur Feier des Tages trägt, nach unten, damit es seinen Rücken bedeckt. Vorhin, in den Momenten der Ausgelassenheit, des Tanzes hat es die Narben der Schläge preisgegeben, die er für sich und seine Schwester eingesteckt hat. Er hat sich vor sie gestellt, wenn der Vater getobt hat. Ihre zarte Statur hätte die Prügel nicht ausgehalten.

„Ich muss morgen früh raus“, sagt Matayo und steht auf.

Malaika tut es ihm gleich. „Unsere Hütte wartet. Wenn wir zu spät kommen, ist inzwischen eine Horde Paviane eingezogen“, scherzt sie.

„Halt, ihr beiden!“, beschwört sie der Onkel. „Ihr müsst doch noch hören, was ich euch zum Geburtstag wünsche!“

Matayo hustet. „Na gut“, sagt er, als er seine Stimme wieder im Griff hat. „Die Mine läuft bis morgen nicht weg. Die Schicht beginnt 6 Uhr.“

„Genau darüber wollte ich mit euch reden!“, sagt der Alte. „Zeig her, was du da in deiner Hosentasche trägst!“, fordert er Matayo auf.

Der holt verstohlen ein elektronisches Gerät heraus. „Das Mobiltelefon. Es ist betagt, gilt gerade noch so als smart. Willst du auch davon eine Geschichte erzählen? Ich meine: Klar, wir sind dir dankbar. Du hast es einem Touristen abgekauft, in der Hauptstadt.“

„Das ist Jahre her und hier nicht das Thema“, unterbricht ihn der Onkel. „Es geht vielmehr darum, was dieses unscheinbare Etwas darstellt!“

Eine gespannte Stille erfüllt den Raum.

„Es ist nicht nur so ein Apparat zum Telefonieren. Es ist das Tor in die Welt! In eure Zukunft!“, ruft der Alte. Und er erzählt, dass sich Matayo und Malaika als Kinder damit stundenlang am Verwaltungsgebäude hier in der Siedlung rumgedrückt haben. Dort gibt es ein offenes drahtloses Netz. Sie haben sich darüber Apps auf das Smartphone geladen. Mit den Inhalten haben sie ihre kargen Kenntnisse aus der Schule aufgebessert, die öfter ausfiel, als sie stattfand.

„Dieses kleine Teil“, sagt der Onkel und zeigt auf das Gerät, „ist der Unterschied zwischen der Mine, in die du seit deinem zwölften Geburtstag arbeiten gehst, weil du kräftig bist und damit das Geld reicht, und einer echten Zukunft!“ Seine Augen funkeln. „Gebt euch nicht mit dem zufrieden, was alle hier tun: sich durchschlagen und heranwachsen, bis man sich im Bergwerk abplagen kann! Schaut, was dieses Leben aus eurem Vater gemacht hat! Hierzulande verschreibt man sich der Mine oder reiht sich in den nächsten riskanten Flüchtlingsstrom ein. Das soll nicht eure Bestimmung sein!“ Abermals zeigt er auf das antike Smartphone. „Lernen, erfahren, begreifen, anwenden – das ist ein besseres Ziel und darin liegt mein Wunsch. Macht etwas aus dieser Gegend, diesem Land, dem Kontinent, ja der ganzen Welt! Lasst den Funken auf andere überspringen! In euren Köpfen steckt der Schlüssel dafür.“

Noch ein Wunsch

Die Geburtstagsgesellschaft zerstreut sich und die Außerirdischen flüchten augenblicklich von ihrem Beobachtungspunkt. Sie schleichen sich unbemerkt zurück in die Hütte, in der Matayo und Malaika leben.

Als die Geschwister zu Hause ankommen, halten sie die beiden Unbekannten im ersten Moment für Einbrecher. Malaika versteckt sich hinter ihrem Bruder. Der schirmt sie ab, so wie damals gegen den Vater, wenn Prügel gedroht haben. Der Onkel hat vorhin auf dem Fest von der Zukunft gesprochen. Doch heute scheint sie ihre Vergangenheit einzuholen.

„Wir tun euch nichts. Wir wollen helfen. Wir wollen dir helfen, Matayo“, sagt Ka’Tong und stellt sich und seine Frau vor. Er erzählt von dem Kuckuckskind, das sie vor Jahren der Mutter hier in dieser Hütte mit einem Trick untergeschoben haben, ohne dass es jemand bemerkt hat.

„Und das sollen wir euch glauben?“, fragt Malaika. „In Onkel Jomos Geschichten von früher kommen keine Eierschalen vor!“, schimpft sie und wirft einen abschätzigen Blick auf T’Linas ranke Figur. „Und wie große Eierleger seht ihr nicht gerade aus. Schon ein Straußenei würde euch überfordern!“

„Es ist kompliziert“, windet sich der Außerirdische.

T’Lina geht einen Schritt auf die jungen Leute zu. „Wir beweisen es euch“, sagt sie und reicht Matayo ihre Hand. „Keine Angst“, haucht sie.

Der Junge schreckt zurück. Liegt eine Bedrohung oder eine Chance vor ihm? Er zögert.

Die Versuchung siegt und er erwidert den Händedruck, erst unsicher, dann fester. Bei der Berührung durchströmt ihn ein Hauch von Elektrizität – anspannend und zugleich betörend.

„Ihr habt Worte, Umarmungen“, erklärt die Außerirdische. „Wir haben viele Möglichkeiten, um Gefühle zwischen Eltern und Kindern auszutauschen.“

Matayos Körper wird von einer wohligen Wärme durchdrungen, die weiter anwächst, bis von den beiden umschlungenen Händen ein sanfter Lichtschein die bislang nur vom fahlen Mondlicht ausgeleuchtete Hütte erhellt.

Malaika will dazwischen gehen, holt mit ihrer Faust zum Schlag gegen T’Lina aus. „Du vergiftest ihn!“

„Nein!“, fleht Matayo. Er hält die Schwester mit seinem anderen Arm zurück.

„Ich ...“, ringt er nach Worten. „Ich ... sehe mein Zuhause!“, sagt er.

Eine Träne rinnt über die T’Linas Wange.

Malaika hält inne.

„Wir müssen Matayo mitnehmen“, sagt Ka’Tong. „Es ist an der Zeit. Es tut mir leid. Wir haben nur einen freien Platz in unserem Schiff.“

„Geht weg!“, schreit das Mädchen die Fremden an. „Und Matayo bleibt hier, klar?“ Sie ballt abermals ihre Faust.

In diesem Moment zuckt T’Lina mit ihrer Hand zurück, beendet die Verbindung zu ihrem Sohn. Der Schein erlischt. Nur das kalte Mondlicht bleibt.

„Du hast es gesehen, nicht wahr?“, fragt Matayo die Frau.

„Ja.“ Sie wendet sich ab, schluchzt.

„Ich glaube euch“, sagt der Junge. „Aber ich kann nicht mitkommen.“

„Und ob du das kannst!“, beweist Ka’Tong, dass er sich auf väterliche Strenge versteht.

Seine Frau wendet sich ihm zu, legt ihre Hand auf seinen fordernd ausgestreckten Arm. „Sei nicht so grob! Es ist unser Sohn und er braucht uns jetzt.“

„Deswegen sind wir doch hier ...“

„Nein, er braucht uns auf eine andere Art, als du denkst.“

„Die Krankheit“, sagt Matayo. „Sie wohnt schon in mir. Wie bei Vater damals.“ Er hustet, stärker noch als auf dem Fest.

Malaika verliert den Boden unter den Füßen. Sie sinkt auf einen der Teppiche in der Hütte herab.

T’Lina setzt sich neben sie.

„Und das wolltest du mir wann sagen?“, schreit Malaika ihren Bruder an.

„Sobald ich genug Geld gespart habe, damit du von hier weggehen kannst. Onkel Jomo hat recht: Unsere Zukunft liegt nicht in der Mine.“ Er hustet abermals. „Meine Zeit läuft ab. Es tut mir leid.“ Er setzt sich an die andere Seite seiner Schwester.

„Bei uns gibt es exzellente Mediziner!“, sagt Ka’Tong, während er sich ebenfalls ächzend auf dem Boden der Hütte niederlässt. „Sie heilen dich! Bestimmt.“

„Bestimmt oder nur vielleicht? Und wie lange werde ich leben? Noch 50 Jahre oder 10 oder 3?“, fragt Matayo. „Und außerdem: Dann sitzt meine Schwester hier und arbeitet sich zu Tode, folgt dem Pfad des Vaters.“

„Aber wir sind deine Eltern! Wir ...“, begehrt Ka’Tong auf.

Doch seine Frau hebt die Hand und unterbricht ihn. „Und was möchtest du?“, fragt sie Matayo.

Der junge Mann zögert keinen Moment: „Ihr sollt nicht mich mitnehmen, sondern Malaika!“

„Das geht nicht! Du bist in der Datenbank eingetragen ...“, streitet Ka’Tong.

Wieder reckt sich die Hand der Frau im Einspruch nach oben. „Die Datenbank kann sich auch mal irren, nicht wahr? Vor allem, wenn ein Eintrag 15 Erdenjahre zurückliegt und man nicht mehr alle Umstände kennt. Man muss das nur richtig verkaufen. Wo bleibt deine Ehre als Vertreter, der jeden Tag seine Produkte anpreist? Du machst den Job doch gerne, sagst du!“

Der Mann schweigt.

„Vergiss es, dass ich dich hier zurücklasse!“, faucht Malaika zu ihrem Bruder gewandt.

Die Hand der außerirdischen Frau legt sich sanft auf ihren Arm – ohne Elektrizität und Leuchten, aber dennoch beruhigend.

„Doch, das kannst du“, antwortet Matayo leise und umso eindringlicher. „Denn ich habe heute Geburtstag und es ist mein einziger Wunsch.“

Hoffnung

Matayo schaut dem abfliegenden Raumschiff hinterher, wie es durch den aufgewirbelten Staub nach oben strebt, noch bevor das Licht des anbrechenden Tages es einem menschlichen Auge verraten kann.

Malaika hat geweint, geschrien, um sich geschlagen. Doch am Ende hat sie ihm seinen Wunsch erfüllt.

Und diese beiden Außerirdischen? Sie haben versprochen, sich um seine Schwester zu kümmern, ihr beizubringen, was sie für das Leben braucht. Dieses Kuckucksvolk ist viel herumgekommen, hat einen Schatz an Erfahrungen gesammelt. Malaika wird ihm zusätzliche Kapitel hinzufügen. Sie wird das All erklimmen, weiter als je ein Mensch vor ihr.

T’Lina hat ihr vertraut, als die junge Dame sie auf dem Weg zum Raumschiff an der Hand genommen und durch das hohe Gras geführt hat – ohne Angst vor Schlangen und ohne die Schlangen in Angst vor irdischen und außerirdischen Zweibeinern zu versetzen. Also wird Matayo seinerseits den Außerirdischen vertrauen.

Und Onkel Jomo? Dem wird er nur erzählen, dass Malaika den Sprung nach draußen gewagt hat, weg aus der Siedlung.

Zum Abschied hat Matayo seiner Schwester gesagt: „Du wirst zurückkehren. Und du wirst eine Perspektive im Gepäck haben, einen Funken, der auf die Menschen überspringt, ihnen Hoffnung gibt, und der Onkel Jomos Geburtstagswunsch Wirklichkeit werden lässt. Für alle hier.“

6 Kommentare

  1. Wunderbare Geschichte, gefällt mir.

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  2. Diese Geschichte ist mein Ideal schlechthin. So feinfühlig, emotional, stimmungsvoll. Alles aus der Ausschreibung erfüllt. Nicht so technisch, nicht zu lang. Ich musste am Ende weinen.
    Twelfe points for number 22!

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  3. So schön! Gefühlvoll, herzberührend! Eine sehr gute Geschichte. In sich rund und gut geschrieben.

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  4. Eine sehr schöne, emotionale Geschichte mit einem überraschendem Ausgang.

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  5. Eine gelungene Geschichte, die das Thema gut umsetzt. Es ist mutig, die Handlung in Afrika anzusiedeln und die prekären Verhältnisse dort anzusprechen. Nur bei dem Smartphone hätte besser recherchiert werden können. China stellt billige Versionen für den afrikanischen Markt her, sodass in den meisten Ländern ein Großteil der Menschen keinen Mangel daran hat. Es wäre wahrscheinlich sogar teurer, einem Touristen eins abzukaufen. Und warum sollte ein Tourist seins hergeben? Ohne wären die meisten heutzutage doch komplett aufgeschmissen, zumal in einem fremden Land.

    Die Kultur der Aliens hätte vielleicht auch noch etwas präziser herausgearbeitet werden können. Warum herrscht bei denen ein ähnlicher Mangel wie bei uns in Drittweltländern? Die beherrschen die interstellare Raumfahrt – Ressourcenmangel sollte da kein Problem darstellen. Und warum das eigene Kind in einem armen Land unterbringen, wo es schon mit 12 in einer Mine schuften muss und sich dabei die Lunge kaputt macht? Abgesehen von solchen Logikfehlern fand ich die Geschichte jedoch sehr einfühlsam erzählt. Eine der Besten bisher.

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