DACSF2025_21

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Die tanzenden Frequenzen

I. Die Erwachten

Die Nacht breitete sich nicht einfach über Nova Babylon aus – sie infiltrierte die Stadt wie ein subtiles Gift, sickerte durch die Ritzen der Hochhäuser und die Spalten zwischen Menschenseelen. Am Himmel brannten die Sterne wie ferne Warnfeuer, während unter ihnen das künstliche Leben der Metropole in seinem eigenen fiebrigen Rhythmus pulsierte. Dr. Elena Merova betrachtete die Daten auf ihrem Bildschirm – Hirnwellenmuster von Kindern zwischen sieben und sechzehn Jahren. Eine Anomalie, so subtil, dass kein Standard-Screening sie jemals entdecken würde.

“Was hat es mit dem grünen Arbeitsanzug auf sich?”, fragte Direktor Necul, während er auf einen der Bildschirme deutete. Ein kühles Lächeln umspielte seine dünnen Lippen, und für den Bruchteil einer Sekunde sah Elena etwas Unmenschliches in seinen Augen – ein geometrisches Flackern, als würde eine andere Frequenz durch die vermeintlich feste Realität seiner Gestalt schimmern.

“Der Täter nutzte diese Arbeitskleidung als Tarnung”, antwortete Elena und wischte das Bild beiseite. “Nichts davon erklärt, warum ein Vierzehnjähriger einen Obdachlosen enthauptet hat.”

Sie befanden sich im 87. Stock des NeuraCorp-Towers – weit über den Smogwolken, die die unteren Bezirke von Nova Babylon in ewige Dämmerung tauchten. Durch die Panoramafenster sah man die Lichter der Stadt bis zum Horizont, wo die phosphoreszierenden Wellen des vergifteten Ozeans gegen die Küstenbarriere schlugen.

Elena drehte sich zu Necul um. “In den vergangenen drei Monaten habe ich siebzehn Fälle dokumentiert – siebzehn Kinder, die über Nacht zu Monstern wurden. Der erste Fall, ein zwölfjähriger Junge aus den mittleren Ebenen, hatte am 15. März für Schlagzeilen gesorgt. Heute, am 18. Juni, scheint die Situation außer Kontrolle zu geraten.”

“Deine Theorie, Elena?” Neculs Gesicht blieb ausdruckslos, aber seine Finger trommelten einen seltsamen, asymmetrischen Rhythmus auf den Tisch – eine Dissonanz in der Melodie der Wirklichkeit.

Sie nahm einen tiefen Atemzug. “Kein Kind wird teuflisch geboren. Aber etwas… etwas geschieht ab einem bestimmten Alter.”

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, seine kleinen schwarzen Augen auf Elenas blasses Gesicht gerichtet. Elena war keine klassische Schönheit, aber ihre Güte durchströmte ihr ganzes Wesen und ließ einen glauben, einem Engel gegenüberzustehen. “Besessenheit? Ist das deine wissenschaftliche Schlussfolgerung?”

“Ich spreche nicht von mittelalterlichen Vorstellungen von Dämonen”, erwiderte sie scharf. “Die Scans zeigen eine Art… Überlagerung. Als ob etwas anderes in ihren neuronalen Netzen mitschwingt. Eine fremde Frequenz, die mit ihrem Bewusstsein interferiert.”

Necul nickte langsam. “Zeig mir die Muster.”

Elena aktivierte die holografische Projektion. Über dem Tisch schwebten mehrere dreidimensionale Hirnscans – zuerst normal, dann mit abnormalen Aktivitätsmustern, die wie fraktale Strukturen in der Amygdala und dem Präfrontalkortex pulsierten.

“Der mediale Temporallappen zeigt hyperaktive Muster im Bereich der Amygdala, während simultan der ventromediale präfrontale Kortex supprimiert wird – genau die Konstellation, die impulsive Aggression begünstigt. Gleichzeitig registrieren wir abnorme Delta-Theta-Oszillationen im thalamokortikalen Netzwerk, die mit keiner bekannten neurologischen Erkrankung korrespondieren.”

“Kein natürliches Phänomen”, murmelte Necul, und Elena bemerkte, wie seine Pupillen sich kurz zu schmalen Schlitzen verformten, bevor sie wieder normal wurden.

“Nein. Und das Beunruhigende: Die Muster sind bei allen Fällen identisch. Als würde dieselbe Entität, dieselbe Frequenzsignatur, sich in verschiedenen Kindern manifestieren.”

In diesem Moment piepte ihr Kommunikator. Eine Nachricht scrollte über ihr Implantat-Display: “Sektor 7, Ebene 22. Neuer Fall. 12-Jährige. Eltern getötet.”

Elena und Necul tauschten Blicke aus. “Wir sollten uns das ansehen”, sagte sie.

Der Direktor schüttelte den Kopf. “Nein. Du gehst. Ich muss jemanden kontaktieren.” Ein feines Lächeln huschte über sein Gesicht, verschwand aber sofort. Elena spürte eine plötzliche Unbehaglichkeit. Necul schien fast… erfreut über die Eskalation der Vorfälle.

Die Polizeidrohnen schwebten wie metallische Insekten um das Apartmentgebäude in Sektor 7. Elena zeigte ihren NeuraCorp-Ausweis und wurde sofort durchgelassen.

Die Wohnung war klein – ein typisches Mittelklasse-Modul in den mittleren Ebenen der Stadt. Es war ordentlich gewesen, bevor die Wände mit Blut bedeckt wurden.

“Das Mädchen ist im Nebenraum”, sagte Detektiv Robert Stola. Sie kannte ihn von früheren Fällen – einer der wenigen, die unbestechlich blieben und aufrichtig an Gerechtigkeit glaubten. In den letzten Monaten hatten sie bei ähnlichen Fällen zusammengearbeitet, und Elena hatte seine scharfe Beobachtungsgabe und seinen Instinkt schätzen gelernt.

“Wir haben sie sediert”, fuhr Robert fort. “Sie hat ihre Eltern mit einem Küchenmesser attackiert, während sie schliefen. Über zwanzig Stiche bei jedem. Dann hat sie sich hingesetzt und Frühstücksflocken gegessen, während sie verbluteten.”

Elena nickte, ihr Gesicht eine professionelle Maske. “Ich muss sie scannen.”

Robert rieb sich die Narbe über seinem Auge – ein Andenken an seinen ersten Fall mit verschwundenen Kindern.

Im kleinen Schlafzimmer lag ein zierliches Mädchen mit blonden Zöpfen auf einem Feldbett. Ihre Hände und ihr hellblaues Nachthemd waren noch mit getrocknetem Blut bedeckt.

Elena aktivierte ihren tragbaren Scanner. Nach einigen Minuten hatte sie die Bestätigung: dasselbe abnormale Aktivitätsmuster wie bei den anderen Kindern – eine fremde Frequenz, die die natürlichen Rhythmen des kindlichen Gehirns überlagerte.

Sie trat zurück in den Hauptraum, wo Robert wartete. “Dasselbe Muster”, bestätigte sie. “Wie die anderen.”

“Und was bedeutet das?”

“Ich weiß es nicht. Aber—”

Das Mädchen stand plötzlich in der Tür. Die Sedierung hätte sie noch für Stunden außer Gefecht setzen sollen.

“Sie kommen wieder”, sagte das Kind mit einer Stimme, die nicht die eines 12-jährigen Mädchens war. Tief, resonant, alt.

Robert griff nach seiner Waffe, aber Elena hob die Hand, um ihn zu stoppen. Sie spürte instinktiv, dass dieses Kind nicht mehr unter dem Einfluss der fremden Frequenz stand, die die anderen kontrollierte. Etwas anderes sprach durch sie – etwas, das gegen die Kontrolle ankämpfte.

“Wen meinst du mit ‘sie’?”, fragte Elena ruhig.

Das Mädchen lächelte, und in diesem Moment war nichts Kindliches mehr in ihrem Gesicht. “Die Nefilom. Die Kinder des Feuers. Wir sind nur die Vorboten.” Ihre Augen rollten nach hinten, und sie begann zu zittern. Robert und Elena stürzten gleichzeitig vor, als das Kind zusammenbrach. Blut quoll aus ihren Ohren, ihrer Nase, ihren Augen – die Körpertemperatur stieg rapide an.

“Notfallteam!”, schrie Robert in sein Kommunikationsgerät.

Elena versuchte verzweifelt, die Blutung zu stoppen, aber in ihren Händen begann das kleine Mädchen zu verbrennen – von innen heraus. Ihre Haut wurde rot, dann schwarz, dann riss sie auf wie ausgetrocknete Erde. Im letzten Moment öffnete das Kind noch einmal die Augen und sah Elena direkt an.

“Sie kommen durch die Kinder”, flüsterte sie. “Weil Kinder rein sind. Weil sie noch die Klänge jenseits der Schwelle hören können. Vertrau nicht denen, die vorgeben, Beschützer zu sein.”

Dann war da nur noch Asche.

II. Die Entdeckung

Im NeuraCorp-Labor untersuchte Elena die Daten des Vorfalls. Die neuronalen Scans bestätigten ihre schlimmsten Befürchtungen: Was immer diese Kinder beeinflusste, es verbreitete sich mit alarmierender Geschwindigkeit.

“Sieh dir das an”, sagte sie zu Necul, der gerade eingetroffen war. "Sie kommen im Schlaf. Wenn wir am schwächsten sind." Elena deutete auf den Scan. "Hier dringen sie ein, dann hier. Wie ein Virus."

“Wie viele?”

“Hunderte, vielleicht Tausende allein in Nova Babylon. Und es werden mehr.”

Necul schwieg. Seine Augen reflektierten das Licht des Labors auf eine Weise, die nicht ganz menschlich wirkte – als würde ein anderes Lichtspektrum durch sie schimmern.

“Du wirkst nicht überrascht”, sagte Elena schließlich.

“Weil ich es nicht bin.”

Er ging zur Tür und versiegelte sie mit seinem höchsten Sicherheitscode. “Es ist Zeit, dass du die Wahrheit erfährst.”

Er aktivierte eine versteckte Projektion an der Wand des Labors. Dort erschienen alte Texte, Symbole und Bilder – archaische Schriften, die Elena nur teilweise identifizieren konnte.

"Das Buch Henoch", sagte er und aktivierte ein holografisches Fragment. Uralte Symbole wirbelten um sie herum, formierten sich zu Bildern von Wesen, die vom Himmel herabstiegen.

Elena berührte die schwebenden Zeichen. Die Symbole reagierten, enthüllten Szenen: Wesen, die Menschen Werkzeuge reichten, Sterne zeigten, sich mit menschlichen Frauen vermischten.

"Was zum—" Sie zuckte zurück, als die Projektion zu Bildern von Gewalt und Chaos wechselte, gefolgt von einer Darstellung von Wesen, die in Lichtfesseln gebunden wurden.

"Siebzig Generationen", flüsterte Necul. "Keine Mythen, Elena. Geschichte. NeuraCorp überwacht ihr Gefängnis."

“Ein Gefängnis?”

“Die gefallenen Wächter wurden nicht vernichtet – sie wurden gebunden. Ihre Essenz wurde in ein dimensionales Konstrukt eingesperrt, das wir das ‘Siegel’ nennen. Ihre Schwingungen, ihre Frequenzen, wurden aus unserer Realität herausgefiltert.”

Elena starrte ihn an, sprachlos. Die letzten Worte des sterbenden Mädchens hallten in ihrem Kopf wider: “Vertrau nicht denen, die vorgeben, Beschützer zu sein.”

“Die siebzig Generationen sind fast vorüber”, fuhr Necul fort. “Die Barriere wird schwächer. Was wir jetzt sehen, sind die ersten Anzeichen ihres Ausbruchs. Sie nutzen die Kinder als Vehikel, weil kindliche Gehirne formbar sind. Unschuldig. Die perfekten Resonanzräume für ihre Frequenzen.”

"Das ist Wahnsinn", flüsterte sie, instinktiv zurückweichend.

Necul lächelte, zu breit, zu hungrig. "Aber die Beweise..." Seine Stimme verschob sich für einen Moment in eine tiefere Frequenz, die nicht menschlich klang.

Elena dachte an das Mädchen, das vor ihren Augen verbrannt war. “Angenommen, ich glaube dir – was können wir tun?”

Necul schüttelte den Kopf. “Wir müssen die Kinder isolieren. Alle, die in der gefährdeten Altersgruppe sind. Es ist die einzige Möglichkeit, die Invasion zu verlangsamen.”

“Du willst alle Kinder zwischen sieben und sechzehn Jahren in Quarantäne stecken? Das ist unmöglich!”

“Es ist notwendig.”

Necul legte eine Hand auf ihre Schulter, und Elena unterdrückte einen Schauder bei der Berührung – seine Berührung war wie ein falscher Ton in der Harmonie ihres Körpers.

“Ich bringe dich zu unserem Hauptquartier. Dort wirst du alles verstehen.”

Sie fuhren mit Neculs privatem Aufzug tief unter das NeuraCorp-Gebäude, weit unter die untersten Ebenen von Nova Babylon. Die Luft wurde kühler, die Wände älter. Schließlich öffneten sich die Türen zu einem gewaltigen unterirdischen Komplex, der aussah, als hätte er schon existiert, lange bevor die Stadt darüber errichtet wurde.

“Willkommen im Tempel der Beschützer”, sagte Necul.

Der riesige Raum war kreisförmig, mit sieben konzentrisch angeordneten Ringen aus verschiedenen Materialien – jeder mit einer eigenen Resonanzfrequenz, die Elena fast körperlich spüren konnte. In der Mitte schwebte eine pulsierende Energiesphäre, die unnatürliches Licht ausstrahlte, ein verdichteter Knotenpunkt aus reiner Schwingung.

Um die Sphäre herum standen Menschen in weißen Gewändern, die komplizierte holografische Interfaces bedienten. Auf Bildschirmen sah Elena Echtzeit-Daten von Kindern auf der ganzen Welt.

“Seit über fünftausend Jahren halten wir sie gefangen”, erklärte Necul, und Elena bemerkte einen seltsamen Akzent in seiner Stimme, der vorher nicht da gewesen war. “Die Technologie hat sich verändert, aber die Mission bleibt dieselbe.”

Eine Frau in einem aufwendigeren Gewand trat zu ihnen. “Ist sie bereit für die Wahrheit?”, fragte sie Necul mit einem Blick, der zu intensiv war, zu berechnend.

“Sie muss es sein, Oberste. Die Zeit wird knapp.”

Die Frau nickte und wandte sich an Elena. “Ich bin Ura Ron, Hüterin des Siegels. Was Direktor Necul dir erzählt hat, ist nur der Anfang.”

Sie führte Elena näher an die pulsierende Sphäre heran. “Dies ist kein gewöhnliches Gefängnis. Es ist ein Dimensionsanker. Die Wesen, die wir ‘Wächter’ nennen – sie sind interdimensionale Entitäten.”

Als ihre Finger nur Zentimeter davon entfernt waren, spürte sie, wie ihr Bewusstsein sich dehnte. Bilder fluteten ihren Geist – dimensionale Korridore, Wesen aus reinem Licht.

"Die Kinder", flüsterte sie, plötzlich verstehend. In ihrem Kopf sah sie Gehirnwellen von Kindern, die perfekt mit kosmischen Frequenzen synchronisierten. "Sie können sie hören..."

Ura lächelte kalt. "Präzise Beobachtung, Doktor."

Elena zuckte zurück. In Uras Stimme lag kein Mitgefühl für die Kinder – nur das klinische Interesse einer Forscherin an Versuchsobjekten. Die Sphäre pulsierte stärker, fast als würde sie zustimmen.

“Aber warum jetzt?”, fragte Elena. “Warum beginnt es gerade jetzt?”

Ura und Necul warfen sich einen Blick zu, und für einen flüchtigen Moment nahm Elena etwas wahr – ein Aufflackern, eine geometrische Verzerrung in ihren Zügen, als würde ein fremdes Frequenzmuster kurz durch ihre menschliche Fassade hindurchbrechen.

“Weil die Zeit gekommen ist”, sagte sie schließlich. Seine Stimme klang plötzlich anders, tiefer, resonanter.

In diesem Moment bebte das unterirdische Labor. Alarme heulten auf, rotes Licht flackerte. Die Sphäre in der Mitte begann wild zu pulsieren, ihre Energie entlud sich in Blitzen, die durch den Raum zuckten – Wellen reiner Frequenz, die die Luft zittern ließen.

“Das Siegel schwächt sich”, erklärte Ura mit einem Ton, der für Elena seltsam beunruhigend klang.

Im nächsten Moment stürmten bewaffnete Gestalten in schwarzen Uniformen in den Tempel. An ihren Helmen prangte das Symbol einer flammenden Sonne – das Zeichen der “Kinder des Feuers”, wie Elena später erfahren sollte.

“Perfektes Timing”, murmelte Necul leise.

“Wer sind sie?”, fragte Elena, während Necul sie hinter eine Säule zog.

“Aufständische”, erklärte Necul mit falscher Dringlichkeit. “Sie nennen sich ‘Die Widerständler’ – verblendete Menschen, die glauben, die Wächter wären wohlwollende Wesen. Sie wollen das Siegel brechen, um die Invasion zu ermöglichen.”

Elena beobachtete, wie die Weißgewandeten an den Kontrollterminals hektisch arbeiteten. Etwas an ihrer Koordination mit den vermeintlichen Angreifern wirkte seltsam – als wäre das Chaos choreografiert.

“Sie versuchen, die Resonanzfrequenz des Siegels zu destabilisieren”, erklärte Necul. “Wenn es zusammenbricht, können die Wächter direkt mit unserer Realität kommunizieren. Wir müssen das verhindern.”

Er drückte Elena einen komplexen technischen Gegenstand in die Hand – halb antikes Relikt, halb moderne Technologie. “Dies ist ein Schlüssel. Er kann die Barriere verstärken, falls die Terminals kompromittiert werden. Aber es erfordert… ein Opfer.”

“Was für ein Opfer?”

“Ein Bewusstsein muss freiwillig in die Barriere eintreten, um sie von innen zu stärken.” Seine Augen bohrten sich in ihre. “Es ist ein Einweg-Ticket, Elena. Deine Frequenz würde Teil des kosmischen Gefängnisses werden.”

Elena sah, wie Ura und die Weißgewandeten koordinierte Bewegungen machten, die wie ein komplexes Ritual wirkten. Die Angreifer positionierten sich an strategischen Punkten und aktivierten Geräte, die mit den Terminals synchronisiert zu sein schienen.

“Die Sphäre wird instabil”, rief Ura mit einer Stimme, die mehr nach Anweisung als nach Warnung klang.

“Wir müssen die Sphäre schützen”, sagte Necul. “Wenn sie bricht, werden alle Siegel fallen und die Wächter könnten zurückkehren.”

Plötzlich explodierte eine Ladung neben Elena und Necul. Elena wurde gegen die Wand geschleudert, Schmerz durchfuhr ihren Körper. Als sie wieder klarsehen konnte, war Necul verschwunden.

Ura stand im Zentrum des Kreises, ihre Hände in die Höhe gereckt und einen Energieschild um die zentrale Sphäre errichtete. Sie blickte zu Elena hinüber und formte mit den Lippen ein Wort: “Jetzt.”

Elenas Hände zitterten, als sie den Schlüssel betrachtete. Die Zeit schien sich zu dehnen, jeder Herzschlag eine Ewigkeit. Durch den künstlichen Rauch und das Chaos hindurch sah sie wie eines der schwarzgekleideten Kommandos seinen Helm abnahm – es war ein Kind, nicht älter als 15, mit leeren Augen und einem grausamen Lächeln. Seine Stimme hallte unnatürlich durch den Raum: “Die Zeit der Menschen endet. Die Zeit der Nefilom beginnt.”

In einem von ihnen erkannte sie die Tochter einer Kollegin wieder, ein Mädchen, das auf der letzten Weihnachtsfeier begeistert von Astronomie gesprochen hatte.

In diesem Moment kristallisierte sich Elenas Entscheidung: Was auch immer der Preis sein mochte, sie würde diese Kinder retten.

Der Schlüssel erwärmte sich in ihrer Hand, pulsierte im selben Rhythmus wie die Sphäre. Ein Hologramm erschien darüber – komplizierte Symbole, teils mathematische Gleichungen, teils archaische Zeichen.

Eine Stimme in ihrem Kopf flüsterte: “Willst du eintreten? Willst du das Siegel werden? Willst du Teil des Klangteppichs werden, der durch Raum und Zeit webt?”

Sie drückte den Aktivierungsknopf des Schlüssels, sprach die Worte, die plötzlich in ihrem Bewusstsein auftauchte: “Ich bin das Siegel. Ich bin die Brücke.” Und ein blendender Lichtblitz erfüllte den Raum. Elena spürte, wie ihr Körper sich auflöste, wie ihr Bewusstsein sich ausdehnte – über den Raum hinaus, über die Stadt, über die Welt. Sie sah alles gleichzeitig: jedes manipulierte Kind, jeden Riss in der Realität.

Und sie sah mehr – sie erkannte plötzlich die wahre Natur der Wirklichkeit: nicht Stein, nicht Staub, nicht Ding – sondern Energie, gesungen von kosmischen Saiten. Jedes Teilchen ein Flüstern, jedes Atom eine Melodie.

In diesem erweiterten Bewusstsein sah sie auch Necul, Ura und all die anderen, wie sie wirklich waren. Nicht Menschen, nicht Beschützer, sondern etwas anderes – Wesen aus Schatten und geometrischen Unmöglichkeiten, die sich in menschlicher Form verbargen. Nefilom, eine Spezies, die die Wächter fürchtete und den Menschen Lügen über sie erzählt hatte.

Sie erkannte die Wahrheit: Dies war kein Angriff – es war ein Ritual. Keine Verteidigung gegen eine Invasion der Wächter, sondern eine Verstärkung des Gefängnisses, das sie fernhielt. Und sie sollte der letzte Schlussstein werden. Aber anstatt die Barriere gegen die Wächter zu verstärken, veränderte Elena mit ihrem neu erweiterten Bewusstsein die Funktion des Siegels – nun würde es die Nefilom filtern und den wahren Wächtern erlauben, behutsam mit der Menschheit zu kommunizieren.

Die Geschichte, die Necul ihr erzählt hatte, war eine verdrehte Version der Wahrheit. Die Wächter waren keine Gefahr – die wahre Bedrohung waren Wesen, die sich seit Jahrtausenden als menschliche Beschützer ausgaben. Die Wächter waren die ursprünglichen Beschützer der Menschheit, nun gefangen und verleumdet von den Nefilom, die sich als ihre Kerkermeister ausgaben.

Mit einem letzten bewussten Gedanken projizierte Elena ihr Selbst in die Barriere, wurde eins mit dem Siegel, spannte ihr Bewusstsein wie ein Netz um die Erde.

Doch selbst als ihr menschliches Selbst verblasste, erkannte sie eine schreckliche Wahrheit: Sie konnte die Nefilom nicht für immer aufhalten. Sie hatte nur Zeit erkauft.

Und in den letzten Fragmenten ihres individuellen Bewusstseins sandte sie eine Botschaft an die einzige Person, der sie noch vertrauen konnte – Robert Stola, der Detektiv, der ihr in den vergangenen Monaten mehr als nur ein Kollege geworden war, der als Einziger ihre wachsende Besorgnis über die seltsamen Fälle ernst genommen hatte…

III. Der Anfang vom Ende

Robert starrte auf das dreidimensionale Hologramm von Elena. Drei Monate hatten sie Seite an Seite gearbeitet, und in dieser Zeit war sie zu etwas geworden, das er nicht in Worte fassen konnte. Ihre intellektuelle Brillanz hatte ihn fasziniert, ihre Menschlichkeit berührt. In einer Welt, die zunehmend kälter und mechanischer wurde, war Elena ein Anker der Empathie gewesen. Er blickte auf das Tablett in seiner Hand. Die Nachricht war vor einer Stunde auf seinem persönlichen Terminal erschienen – von Elena Merova, die seit dem Angriff auf das geheime NeuraCorp-Labor vor drei Tagen als vermisst galt.

“Robert, wenn du das siehst, bin ich nicht mehr… menschlich. Aber ich bin nicht fort. Ich bin überall. Zwischen Sternen und Seelen fließt dieselbe Energie. Ich halte sie auf, aber nicht für lange. Du musst die Wahrheit finden. Suche nach den Kindern, die immun sind. Sie sind der Schlüssel. Die Antwort liegt in den Sternen, nicht in der Erde. Und vertraue Necul nicht – er ist nicht, wer er vorgibt zu sein.”

Er steckte das Tablett weg und blickte aus dem Fenster seines Apartments auf die nächtliche Skyline von Nova Babylon. Seit dem Vorfall hatten sich die Vorfälle mit gewalttätigen Kindern vervielfacht. Die Regierung hatte den Notstand ausgerufen, Quarantänezonen für Kinder eingerichtet. Familien wurden auseinandergerissen, Proteste niedergeschlagen.

Sein Kommunikator piepte. “Detektiv Stola? Hier Direktor Necul von NeuraCorp. Wir müssen uns unterhalten. Es geht um Dr. Merova.”

Robert zögerte. “Vertraue Necul nicht.” Warum hatte Elena das gesagt?

“Ich bin in zehn Minuten bei Ihnen”, antwortete er schließlich.

Während er wartete, öffnete er sein privates Terminal und rief die Daten über Kindervermisste in den letzten Monaten ab. Eine Anomalie fiel ihm sofort auf – einige Kinder zeigten keine Veränderungen. Keine Gewalt, keine neurologischen Abweichungen. Sie schwangen in ihrer eigenen, einzigartigen Frequenz und blieben unberührt von den fremden Einflüssen. Sie schienen… immun zu sein.

“Die Kinder, die immun sind”, hatte Elena gesagt.

Ein Klopfen an der Tür unterbrach seine Gedanken. Robert öffnete – aber statt Necul stand dort ein Mädchen mit langen dunklen Haaren und ungewöhnlich alten Augen. Sie war vielleicht 14 Jahre alt und trug ein einfaches weißes Kleid.

"Wer bist du?", fragte Robert verwirrt. "Wie bist du hier hochgekommen?"

Das Mädchen lächelte. Ihre Finger bewegten sich ständig in einem komplexen Muster, wie jemand, der unhörbare Frequenzen dirigiert. "Du bist Robert Stola. Elena schickt mich."

“Elena? Dr. Merova?”

Das Mädchen nickte. “Sie kann nicht selbst kommen. Sie ist jetzt… anders. Ein Gedicht ohne Dichter, ein Klang durch Raum und Zeit. Aber sie sieht alles. Sie hat mich gebeten, dir zu helfen.”

Robert trat zur Seite, um das Kind einzulassen, zögerte aber. War dies eine Falle? Ein besessenes Kind, wie die anderen?

"Ich bin nicht wie sie", sagte das Mädchen, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Ihre Pupillen reflektierten das Licht in einem unnatürlichen Blauton. "Ich bin Ayara. Ich bin immun. Meine Frequenz lässt sich nicht überschreiben."

“Immun? Gegen was?”

“Gegen die Nefilom. Sie können mein Gehirn nicht übernehmen. Es gibt mehr wie mich, aber wir sind selten.” Sie trat in die Wohnung. “Wir haben nicht viel Zeit. Necul ist nicht der, für den du ihn hältst.”

In diesem Moment hörte Robert das Summen des Aufzugs am Ende des Korridors. “Er ist hier”, flüsterte er.

Ayara griff nach seiner Hand. “Wir müssen gehen. Jetzt.”

“Wohin?”

“Die Antwort liegt in den Sternen, nicht in der Erde”, zitierte sie Elenas Worte. “Sie meinte es wörtlich. Wir müssen zum alten Observatorium.”

Gegen alle Vernunft folgte Robert dem Kind durch den Notausgang. Als sie die Treppe hinunterhasteten, hörte er, wie seine Wohnungstür aufgebrochen wurde.

Die Stadt war ein Chaos. Militärfahrzeuge patrouillierten die Straßen, während Drohnen Beruhigungsmittel in die Menge sprühten. Robert und Ayara schlichen durch Hintergassen und verlassene Tunnel.

"Was passiert hier wirklich?", fragte Robert, während sie durch die verlassene U-Bahn-Station hasteten. Ihre Schritte hallten von den gefliesten Wänden wider.

Ayara blieb abrupt stehen. Ein Graffiti an der Wand – ein Auge in einem Dreieck. Sie berührte es flüchtig. "Alles, was Necul Elena erzählt hat, war eine Lüge."

"Eine Lüge?" Robert beobachtete nervös die Schatten am Ende des Tunnels.

"Die Wächter waren nie Monster." Ayara wandte sich ihm zu, ihre Augen glänzten im schwachen Notlicht. "Sie kamen vor Jahrtausenden zur Erde. Haben uns geholfen. Uns... erweckt."

Robert rieb sich die Schläfen. "Moment. Du meinst die, die im Siegel gefangen sind?"

Ayara nickte und zog ihn weiter. "Sie stimmten unsere Bewusstsein feiner. Öffneten unsere Sinne für mehr als nur die materielle Welt." Sie verstummte, als ein fernes Geräusch durch den Tunnel hallte. Nach einigen Sekunden fuhr sie fort: "Aber dann kamen die Nefilom."

"Die Kinder des Feuers", murmelte Robert.

"Parasiten." Ayaras Stimme wurde hart. "Sie ernähren sich von Bewusstseinsenergie. Und plötzlich gab es hier eine Spezies mit erweitertem Bewusstsein – ein Festmahl."

Sie erreichten einen Verbindungstunnel. Robert zögerte. "Und dann?"

"Krieg", sagte Ayara schlicht und deutete nach links. "Die Nefilom waren schwächer, aber listiger. Sie drehten alles um – nannten die Wächter Dämonen, stellten sich als Beschützer dar. Sperrten die wahren Beschützer aus und fälschten unsere Geschichte."

Robert blieb stehen, sein Gesicht im Halbdunkel kaum erkennbar. "Die Kinder—"

"—sind Werkzeuge. Neculs Leute manipulieren ihre Gehirne. Erzeugen diese Gewalt." Ayara kniff die Augen zusammen. "Sie wollen, dass die Menschen Angst haben. Vor dem, was angeblich durch die Kinder kommt."

"Damit sie die Quarantäne akzeptieren", ergänzte Robert, plötzlich verstehend. "Die perfekte Kontrolle über eine ganze Generation."

"Genau." Ayara lächelte dünn. "Wir Immunen sind ihr Albtraum – Kinder, deren Frequenz sie nicht überschreiben können."

Der Boden unter ihnen vibrierte leicht. Irgendwo fuhr ein Zug. "Und Elena?", fragte Robert leise.

Ayaras Gesicht wurde weicher. "Sie hat im letzten Moment verstanden. Hat das Siegel umgekehrt." Ihre Stimme brach kurz. "Sie ist überall jetzt. Zwischen den Welten. Hält die Nefilom zurück, öffnet Kanäle für die Wächter." Sie griff nach Roberts Hand. "Komm. Sie hat uns Zeit verschafft. Aber nicht viel."

Sie erreichten das verlassene Observatorium am Stadtrand – ein altes Gebäude aus der Zeit vor den dichten Smogwolken, als der Himmel über Nova Babylon noch klar genug war, um die Sterne zu sehen.

Sie verließen die belebten Hauptstraßen und nahmen einen verschlungenen Pfad durch einen verlassenen Industriesektor. Die Gebäude hier waren älter, stammten aus der Gründungszeit von Nova Babylon, als die Stadt noch Hoffnung auf eine bessere Zukunft verkörperte. Der Weg zum Observatorium führte sie durch einen stillgelegten Transporttunnel, dessen Wände mit seltsamen Symbolen bedeckt waren – älter als die Stadt selbst, als hätten frühere Generationen hier bereits Botschaften für diejenigen hinterlassen, die die Wahrheit suchen würden.

Im Inneren des Observatoriums herrschte eine eigenartige Stille. Robert atmete tief ein – der Geruch erinnerte ihn an die Bibliothek seines Vaters, in der er als Kind Zuflucht gesucht hatte. Der Staub, der im schwachen Licht der Notbeleuchtung tanzte, schien seine eigene Geschichte zu erzählen- von vergangenen Generationen, die hier nach Antworten in den Sternen gesucht hatten. Ayara bewegte sich durch den Raum, als wäre sie mit jedem Molekül der Luft vertraut. Sie summte eine fremdartige Melodie, die die Staubpartikel um sie herum zum Tanzen brachte. Robert betrachtete die alten astronomischen Instrumente, die nun wie vergessene Relikte einer hoffnungsvolleren Zeit wirkten.

“Dies ist eine Sternenkarte”, erklärte Ayara. “Sie zeigt nicht nur die Positionen der Sterne, sondern auch Dimensionstore – Punkte, an denen die Barriere zwischen den Realitäten dünner ist, wo verschiedene Frequenzmuster sich überlappen.”

Sie berührte bestimmte Zeichen in einer komplexen Sequenz. Die Wand leuchtete auf und glitt zur Seite, offenbarte einen verborgenen Raum mit uralter Technologie, die mit modernen Geräten vermischt war.

“Das ist es!”, sagte Ayara, während sie zu einer kristallinen Struktur in der Mitte des Raumes ging. “Gebaut von den ersten Menschen, die mit den Wächtern kommunizierten, lange bevor die Nefilom kamen. Er kann Bewusstsein in reine Schwingung übersetzen.”

Ayara aktivierte den Kristall, der in einem pulsierenden bläulichen Licht zu leuchten begann. “Wir müssen Elena helfen, eine Verbindung zu den Wächtern herzustellen. Nur sie können uns gegen die Nefilom helfen.”

Der Kristall strahlte immer heller, die Luft im Raum begann zu vibrieren. Robert spürte, wie sich die Haare auf seinen Armen aufrichteten, wie die Realität um ihn herum zu flimmern schien – als würde der Schleier der materiellen Welt dünner werden, den Blick freigeben auf die tanzenden Frequenzen dahinter.

In diesem Moment der Stille zwischen den Welten überkam Robert eine überwältigende Sehnsucht nach Elena. Nicht nur nach ihrer Brillanz oder ihrer Entschlossenheit – sondern nach den kleinen Momenten. Wie sie gedankenverloren mit einer Haarsträhne spielte, während sie Daten analysierte. Ihr leises Lachen, wenn er einen schlechten Witz machte, um die Anspannung bei besonders grausamen Fällen zu brechen. Die Art, wie sie nach drei Tassen Kaffee mit den Händen sprach, Gedanken in die Luft zeichnend. Hatte er je die Chance gehabt, ihr zu sagen, was sie ihm bedeutete? Würde er sie je wiedersehen?

Plötzlich erklang eine Stimme – nicht in seinen Ohren, sondern direkt in seinem Kopf. Elena.

“Robert! Ayara! Ich habe nicht viel Zeit. Die Nefilom haben fast alle ihrer Kontrollinstrumente aktiviert. Bald werden sie die Kontrolle über die meisten Kinder auf der Erde haben – ihre perfekten Wirte für eine vollständige Invasion.”

“Was können wir tun?”, fragte Robert.

“Der Kristall ist ein Nexus – ein Verbindungspunkt zwischen den Dimensionen. Durch ihn können die echten Wächter kommunizieren. Aber es brauch ein freiwilliges Bewusstsein, das als Brücke dient, das seine eigene Frequenz mit der ihren harmonisiert.”

Robert trat vor. “Ich mache es.”

“Nein”, sagte Ayara bestimmt. “Ich muss es sein. Ich bin immun gegen die Nefilom. Mein Bewusstsein kann nicht überschrieben werden.”

Bevor Robert protestieren konnte, legte das Mädchen ihre Hände auf den Kristall. Ihr Körper begann zu leuchten, erst schwach, dann immer intensiver, bis Robert die Augen abwenden musste.

Als er wieder hinsehen konnte, stand Ayara noch immer dort, aber sie war verändert. Ihre Augen leuchteten wie Sterne, ihre Haut schimmerte mit einem inneren Licht, als wäre sie selbst zu reiner Frequenz geworden.

“Die Verbindung ist hergestellt”, sagte sie mit einer Stimme, die nicht mehr nur ihre eigene war. “Die Wächter können nun durch mich sprechen.”

In diesem Moment explodierte die Tür des Observatoriums. Necul trat ein, gefolgt von mehreren Kindern mit leeren Augen. Seine menschliche Gestalt flackerte nun deutlich, offenbarte kurze Einblicke in seine wahre Form – ein Wesen aus Schatten und unmöglichen Winkeln.

“Zu spät, Detektiv”, sagte Necul mit einem kalten Lächeln. “Der Prozess hat bereits begonnen. Die Kinder gehören uns.”

Robert stellte sich schützend vor Ayara. “Was immer Sie sind, Necul, Sie werden nicht gewinnen.”

Necul lachte, ein unmenschliches Geräusch. “Wir haben bereits gewonnen. Seit Jahrtausenden infiltrieren wir eure Welt, manipulieren eure Geschichte.” Er machte eine Handbewegung, und die Kinder mit den leeren Augen traten vor, ihre Bewegungen synchronisiert wie Marionetten.

“Siehst du, wie perfekt sie sind? Reine Gefäße.” Neculs Gesicht verzerrte sich, Schatten und geometrischen Unmöglichkeiten traten hervor.

Ayara begann zu leuchten, heller und heller. “Du hast einen Fehler gemacht, Nefilom”, sagte sie mit ihrer vielstimmigen Stimme. “Du hast geglaubt, Elena würde als Siegel dienen, um die Wächter fernzuhalten. Aber sie hat verstanden. Sie hat das Siegel umfunktioniert – jetzt filtert es euch aus, nicht die Wächter.”

Der Raum vibrierte, Realität flackerte. Durch das Fenster sah Robert, wie sich der Nachthimmel veränderte – neue Sterne tauchten auf, Muster verschoben sich.

“Was tust du?”, zischte Necul, zum ersten Mal unsicher.

“Nicht ich”, antwortete Ayara. “WIR.”

Die Luft riss auf, und Robert sah für einen Moment das, was hinter der Realität lag – eine Dimension aus Licht und Gedanken, die sich in Mustern bewegten, die sein Gehirn nicht vollständig erfassen konnte. In den Tiefen des Unsichtbaren tanzten die Schwingungen, wie samtene Wellen im Ozean des Seins. Realität – nicht Stein, nicht Staub, nicht Ding – sondern Lied, gesungen von kosmischen Saiten.

Und zwischen den Welten schwebte eine Gestalt, die einmal Elena Merova gewesen war, nun transformiert in etwas, das sowohl mehr als auch weniger als menschlich war.

Die kontrollierten Kinder im Raum begannen zu zittern, ihre Augen flackerten, als würden sie aus einem Traum erwachen. Die Nefilom-Neurolinks in ihren Gehirnen wurden ausgeschaltet, als die Wächter durch Ayara und Elena eine Welle reiner Energie durch die Realität sandten.

“Dies ist nicht das Ende”, knurrte Necul, während seine menschliche Form weiter zerfiel. “Wir sind Legion. Wir sind überall.”

“Aber nicht mehr in den Kindern”, sagte Ayara ruhig. “Jedes Teilchen ein Flüstern, jedes Atom eine Melodie. Was fest scheint, ist nur Illusion. Die Kinder sind wieder frei.”

Mit einem letzten wütenden Schrei verschwand Necul in einer Implosion aus Schatten, seine kontrollierten Kinder fielen bewusstlos zu Boden, ihre Gesichter friedlich, als würden sie schlafen.

Robert starrte Ayara an, die nun in einem sanften Licht pulsierte. “Ist es vorbei?”

“Nein”, antwortete sie. “Es hat gerade erst begonnen. Die Nefilom sind nur zurückgedrängt, nicht besiegt. Sie werden andere Wege finden, zurückzukehren. Und die Wächter können nicht vollständig in unsere Realität eintreten – unsere materielle Ebene kann ihre reine Frequenz nicht ertragen.”

“Was passiert jetzt?”

Ayara lächelte. “Jetzt müssen wir die Wahrheit verbreiten. Die Eltern, die Kinder aufklären, sie stark machen. Ihnen beibringen, sich gegen den Einfluss der Nefilom zu wehren.” Sie blickte zu den schlafenden Kindern. “Diese hier werden sich an nichts erinnern. Aber einige – die Immunen wie ich – werden wissen. Werden verstehen.”

“Und Elena?”

“Sie bleibt zwischen den Welten, hält das Gleichgewicht. Sie ist das neue Siegel! Ein Kanal, durch den wir kommunizieren können. Zwischen Sternen und Seelen fließt das gleiche Fluidum, Resonanzen verbinden, was getrennt scheint.”

Robert schaute durch das zerbrochene Fenster des Observatoriums auf die nächtliche Stadt. In der Ferne waren Sirenen zu hören, Lichter flackerten, während Nova Babylon langsam aus dem Albtraum erwachte. Für einen Moment glaubte er, die unsichtbaren Frequenzen zu sehen, die zwischen den Gebäuden pulsierten, Verbindungen, die immer da gewesen waren, aber die er nie hatte wahrnehmen können.

"Du kannst sie jetzt auch sehen, nicht wahr?" flüsterte Ayara neben ihm. "Die tanzenden Energien, die alles verbinden. Dies ist nicht das Ende, Robert. Es ist der Beginn eines neuen Kapitels in der Geschichte der Menschheit."

Sie streckte ihre Hand aus. "Kommst du mit mir? Es gibt viel zu tun. Viele Kinder zu finden. Viele Wahrheiten zu enthüllen."

Robert nahm ihre Hand und spürte, wie sich etwas in ihm veränderte – als ob ein Teil seines Bewusstseins, der lange geschlafen hatte, endlich erwachte. Vielleicht ist der Kosmos ein Gedicht ohne Dichter, ein Klangteppich webend durch Raum und Zeit. Und wir – selbst Schwingung, selbst tanzende Frequenz – Mitschöpfer der Symphonie, die wir Realität nennen.

“Ja”, sagte er. “Ich komme mit.”

Als sie das Observatorium verließen, blickten die Sterne auf sie herab – Fenster zu anderen Welten. Und irgendwo zwischen den Dimensionen wachte Elena, das neue Siegel, während der ewige Kampf zwischen Licht und Schatten weiterging.

DIE GEGENWART: mit all dem, was sie erschuf, DIE VERGANGENHEIT: mit all dem, was von der Gegenwart erschaffen wurde, und DIE ZUKUNFT: mit all dem, was von der Vergangenheit und Gegenwart erschaffen werden sollte, flüchteten alle an das Ende der Zeit.

Und dort, in den tanzenden Frequenzen zwischen den Welten, warteten die Kinder des Feuers auf ihre Stunde.

6 Kommentare

  1. Eine spannende Science Fiction Geschichte einer Invasion der ausserirdischen Nefilom indem sie sich der Menschenkinder bemächtigen. Diese Geschichte dürfte gerne auch länger sein. Aber wo sind denn nun die ausserirdischen Kuckuckskinder, die nach der Geburt ausgesetzt werden und später wieder abgeholt werden? Aufgabe leider nicht erfüllt.

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  2. Bin schwer begeistert von dem, was die Autorin/der Autor drauf hat. Die Überfrachtung an hchtechnischen Begriffen war für mich diesmal gerade noch nachvollziehbar und lesbar. Das zwischenmenschliche hat dieser Geschichte eine Wärme gegeben, die vielen anderen der Geschichten fehlt.
    Trotzdem: Der vorherige Kommentar hat recht. Es wurde kein Alienbaby zurückgeholt.

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  3. Wow! Was für ein toller Stil! Spannend bis zum Schluss, poetisch, bedeutungsvoll. Und, ja, keine Kuckuckskinder, die abgeholt werden, aber ja schon Kinder, die als Wirte / Brücke für eine andere Spezies dienen. Ich kann mir die Geschichte auch als Roman vorstellen, finde aber, dass der/die Autor/in den Text auch als Kurzgeschichte richtig gut hinbekommen hat. Einzige Anmerkung wäre, dass mir die „Bösen“ durch ihre Mimik und Stimme von Anfang an schon als zu böse dargestellt wurden. Hätte die Geschichte gar nicht nötig gehabt ;)

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  4. Eine abgefahrene Geschichte ist das, und großteils ist sie auch gut geschrieben. Gelegentlich will der Autor zu viel, scheint mir. Leider leidet auch diese Geschichte darunter, dass durch Kenntnis des Thema nicht wirklich viel Spannung entstehen kann, zumal (leider) der Autor die vermeintlich guten schon diskreditiert: Necul wirkt recht früh schon suspekt.

    Mit dem würde ich übrigens anfangen: <“Nichts davon erklärt, warum ein Vierzehnjähriger einen Obdachlosen enthauptet hat.” Maximale Spannung im ersten Satz.>

    Dann das streichen:


    Viel zu schwierig und pretentiös.

    Fortfahren dann mit:

    >Dr. Elena Merova betrachtete die Daten auf ihrem Bildschirm ...>



    Und das ist fast schon 'Deus ex Machina': Da erklärt der Autor dem Leser unverblümt, was Sache ist.


    Und das ist ein Beispiel für das 'Zuviel'.

    Vielleicht wär das wirklich Stoff für einen Roman, mit mehr Personen, Verwicklungen und einem allmählichen Aufdecken des Plots. Sprachlich müsste man noch ein wenig feilen, aber im Großen und Ganzen ist das schon gut geschrieben.





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  5. Ledier sind da ein paar Zitate nicht mitgegangen.

    Dann das streichen: Die Nacht breitete sich nicht einfach über Nova Babylon aus – sie infiltrierte die Stadt wie ein subtiles Gift, sickerte durch die Ritzen der Hochhäuser und die Spalten zwischen Menschenseelen. Am Himmel brannten die Sterne wie ferne Warnfeuer, während unter ihnen das künstliche Leben der Metropole in seinem eigenen fiebrigen Rhythmus pulsierte. Dr. Elena Merova betrachtete die Daten auf ihrem Bildschirm.

    Und das ist fast schon 'Deus ex Machina': Da erklärt der Autor dem Leser unverblümt, was Sache ist:
    Die Geschichte, die Necul ihr erzählt hatte, war eine verdrehte Version der Wahrheit. Die Wächter waren keine Gefahr – die wahre Bedrohung waren Wesen, die sich seit Jahrtausenden als menschliche Beschützer ausgaben. Die Wächter waren die ursprünglichen Beschützer der Menschheit, nun gefangen und verleumdet von den Nefilom, die sich als ihre Kerkermeister ausgaben.

    Und das ist ein Beispiel für das 'Zuviel'.
    Elena war keine klassische Schönheit, aber ihre Güte durchströmte ihr ganzes Wesen und ließ einen glauben, einem Engel gegenüberzustehen









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  6. Die Geschichte beginnt als Krimi, was eine durchaus kreative Herangehensweise an das Thema gewesen wäre. Dieses wird jedoch leider verfehlt, da es sich überhaupt nicht um Kuckuckskinder handelt, sondern um eine Art dämonischer Besessenheit. Der anfängliche Krimiplot, der wirklich vielversprechend war, ergeht sich zudem in esoterischen Verschwörungstheorien, die denen von David Icke ähneln. Das wäre cool als Parodie oder wenn es wenigstens abgrundtief finster umgesetzt worden wäre. Doch stattdessen bringt Necul aus nicht nachvollziehbaren Gründen Elena in eine Position, in der sie seine Identität durchschauen und seine Pläne blockieren kann. Als Auflösung sabotiert sie die Neuralinks der Kinder, was auch technisch hätte gelöst werden können.

    Hinzu kommt, dass die Prä-Astronautik nicht konsequent bedient wird. Wenn man schon die Nephilim ins Spiel bringt, sollten sie dann auch von Himmelswesen gezeugte Hybride sein, womit wenigstens das Thema getroffen worden wäre. Stattdessen wird der Name in Nefilom umgewandelt, was irgendwie falsch klingt. Und welche Stadt heißt heute noch Babylon? Als Krönung gibt es dann: „Ein Graffiti an der Wand – ein Auge in einem Dreieck.“ Einfach mal völlig random Freimaurersymbolik einstreuen. Etwa in der Hoffnung, die Jury zu beindrucken? Ich glaube nicht, dass es sich hier um eine solche Art von Jury handelt, die auf so etwas anspringt.

    Hinzu kommen sprachliche Mängel, wie: „Militärfahrzeuge patrouillierten die Straßen“ – sie patrouillierten durch (!) die Straßen, müsste es heißen.

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