DACSF2025_12

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Holzapfel

Magda

Ich bemerkte die Frau gleich zu Anfang. Es war nicht schwer, sie zu bemerken. Sie trug einen olivgrünen Mantel mit einem abgetragenen Lammfell am Kragen. Eine breite Naht zog sich wie eine schlecht verheilte Narbe über die von dunklen Sprenkeln übersäte Vorderseite. Ihre Haare fielen wie Seide in kleinen Wellen auf den Kragen und sorgten dafür, dass sie trotz ihrer abgetragenen Kleidung weder arm noch ungepflegt wirkte. Wild. Der Begriff kam mir in den Sinn, als hätte ihn mir jemand zugerufen, und er passte. Ihr Blick gefiel mir nicht. Sie durchbohrte mich mit zusammengekniffenen Augen. Einen Mundwinkel seitlich nach oben gezogen. Wenn ich mir nicht sicher gewesen wäre, dass wir uns zuvor nie begegnet waren, hätte ich geglaubt sie verachte mich. Ich sah weg. Kaum hatte ich die Holzäpfel bezahlt, verließ ich den Markt. Der Korb wog schwer auf meinem rechten Unterarm. Ich spürte ein Zucken in meiner Rückenmuskulatur - wie immer, wenn etwas hinter meinem Rücken geschah, dass nicht meiner Kontrolle oblag. Ich beugte meinen Oberkörper vor und bewegte mich hastig weiter. Ich wusste erst, dass ich mich umdrehen würde, als ich es tat. Ich riss die Augen auf. Da war sie. Sie starrte mich an. Schritt auf mich zu. Ich hastete weiter. Den Blick immer noch nach hinten gerichtet.

„Pass doch auf!“ Ich hatte einen älteren Herrn angerempelt. Ich entschuldigte mich nicht. Es trieb mich weiter. Immer schneller. Als ich mich erneut umdrehte, trennten uns nur noch wenige Meter. Etwas Silbernes blitzte in ihrer linken Hand auf. Ich bog in eine schmale Gasse und begann zu rennen. Nach rechts. Nach links. Ich hörte einen Schrei. Rannte weiter. Der Schrei drohte mein Trommelfell zu zerplatzen. Es war mein eigener. Plötzlich wurde ich nach hinten gerissen. Stolperte. Die Äpfel verteilten sich auf dem Asphalt. Ich fing mich mit den Handflächen ab. Sie stand vor mir. Breitbeinig. Vorwurfsvoll. Plötzlich riss sie die linke Hand nach vorne, in der ich zuvor das Messer gesehen hatte. Ich warf die Arme nach oben, legte sie schützend vor den Kopf. Biss mir auf die Lippen. Drückte die Fersen in den Asphalt.

Die Zeit, bis sie zustach, kam mir vor wie eine Ewigkeit. Schweiß perlte meinen Nacken hinunter. Oder war es Blut? Wer würde sich um Großmama kümmern? Würde sie verhungern? In diesem Moment verabschiedete ich mich innerlich von meiner Zukunft als Physikerin. Ich hatte immer davon geträumt. Hatte Großmamas Wohnzimmer in ein laienhaftes Labor verwandelt. So war ich immer bei ihr, wenn ich arbeitete. Sie liebte es, mir zuzusehen. Klatschte begeistert, wenn die Experimente gelangen. In diesen Momenten spürte sie keine Schmerzen. Das sagte sie mir immer wieder. Hatte sie schon zugestochen? Fühlte ich keinen Schmerz, obwohl ich starb? Großmama hatte immer über meine Fantasie gelacht. Sie meinte, sie hätte nie geglaubt, dass eine Wissenschaftlerin so verträumt sein könne. Ich senkte vorsichtig den rechten Arm und linste darüber.

„Was ist los mit dir?“ Zum ersten Mal hörte ich ihre Stimme. Sie hörte sich vertraut an. Der Ton gefiel mir nicht. Verächtlich. Warum hasste sie mich so? Ich richtete mich auf, legte die Arme um die Knie und wagte erst jetzt, sie anzublicken. Sie hielt die linke Hand immer noch ausgestreckt von sich. Kein Messer. Ein Spiegel. Der Spiegel.

„Woher hast du den?“ Ein von altgoldenen Geißblättern umrandeter Taschenspiegel. Großmamas Spiegel. Panik kroch in mir hoch. „Was hast du mit ihr gemacht?“ Ich richtete mich auf. Mein Atem ging stoßweise. Ich musste zu ihr.

„Sie hat ihn mir gegeben.“ Ich hob erstaunt den Kopf und sah ihr direkt in die Augen. Warum hätte sie ihn ihr geben sollen?

„Das glaube ich nicht. Sie hat immer gesagt, ich bekäme ihn, wenn … wenn sie …“ Ich konnte es nicht aussprechen. Es stand unmittelbar bevor. Heute wollte ich den Apfelkuchen für sie backen. Das Rezept ihrer Großmutter. Sie wollte ihn ein letztes Mal riechen, schmecken. Sie schnaubte verächtlich.

„Hast du noch nicht genug? Hast du nicht alles bekommen?“ Ich sah die Einkerbung auf ihrer rechten Wange. Neben der Nase. Ich hob meinen Arm an die selbe Stelle. Sie war wie ein Grübchen. Großmama meinte, diese Kuhle würde mich immer verraten. Wenn ich behauptete, alles wäre gut, sah man die Verzweiflung daran, dass die Einkerbung sichtbar wurde. Ich blickte ihr wieder in die Augen und sah, dass sie ebenfalls auf meine Wange blickte. Kurz sah sie aus, als wäre ihre Wut verflogen.

„Wer bist du?“ Ich schaute sie an und plötzlich verspürte ich den Drang, sie in die Arme zu ziehen. Ich ging einen Schritt auf sie zu. Sie ging einen zurück.

„Ich bin die, der alles genommen wurde, damit du ein üppiges Leben haben kannst.“ Ich zog die Augenbrauen hoch.

„Geht’s etwas konkreter?“ Ich wippte ungeduldig mit den Füßen. Dann bückte ich mich und begann die Holzäpfel aufzulesen. Etwas Belangloses und doch Sinnvolles zu tun, half mir meine Ungeduld auszuhalten. Als ich den letzten Apfel greifen wollte, schoss ihre Hand nach vorne. Der Handrücken war trocken und an manchen Stellen blutig. Sie griff nach dem Apfel und legte ihn in den Korb. Als sie ihre Hand zurückziehen wollte, griff ich danach. Ich fuhr mit meiner Hand über die rissige Haut. Dann bog ich vorsichtig ihren Daumen nach hinten. Wie mein Daumen, ließ auch ihrer sich viel weiter nach hinten biegen als üblich. Ich wunderte mich darüber, dass sie es geschehen ließ. Ich hob meinen Blick. Ihr Gesicht war nicht weit entfernt von meinem. Ihre Augen glasig. Ich blickte sie fest an, beschwor die Tränen herauf, bis sie sich über das schmale Gesicht ergossen. „Komm mit.“ Immer wenn ich weinte, hatte Großmama mir eine Tasse an die Wangen gedrückt und meine Tränen aufgefangen. Meistens musste ich dann lachen, aber es hat mich auch oft genervt. Konnten wir nicht einfach mal weinen? Ohne, dass uns jemand davon ablenkte? Wir waren schon fast an der Haustür angelangt, als ich ein Ziehen am Arm verspürte. Sie blieb plötzlich stehen.

„Sie hat mich vergessen.“ Sie senkte den Kopf.

„Sie stirbt.“ Dann setzten wir uns auf den Boden neben der Mülltonne und sie erzählte mir ihre Geschichte.

Freya

Ich habe nie einen Tropfen Regen auf der Haut gespürt. Ich stelle mir vor, dass er im Sommer kalt und im Winter warm ist. Manchmal habe ich einen Finger in eine Pfütze getunkt oder bin barfuß hineingesprungen. Ich habe ihnen alles geglaubt, was sie mir sagten. Seit einiger Zeit weiß ich, dass sie lügen. Ich weiß nicht, warum sie es tun, aber ich weiß, dass sie es tun. Sie sagen zwar, es wäre eine Sünde zu lügen, aber oft schimpfen sie, wenn ich Wahrheiten ausspreche. Da wäre zum Beispiel die Sache mit Oma – sie sagten, ich könne sie am nächsten Tag im Krankenhaus besuchen. Als ich am Abend vor dem nächsten Tag in die Küche komme und sehe, wie Vater sich die glasigen Augen reibt, behauptet er, er habe eine Bindehautentzündung. Am nächsten Tag ist sie weg. Die Bindehautentzündung. Und Oma. Können Väter weinen? In der Nacht träume ich davon, wie ich Papas Tränen mit einer Tasse auffange, so wie die Frau in meinen Träumen es bei mir getan hat. Und dann träume ich davon, mit ihm durch den Regen zu laufen. Wir lachen und tanzen. Die Tränen vermischen sich mit Regen. Es tut überhaupt nicht weh. Träume sagen nicht immer die Wahrheit, aber manchmal schon. Es regnet nur nachts, deshalb gehen wir nachts niemals raus. Sie sagen, niemand sei je wieder zurückgekommen aus dem tödlichen Regen. In Omas Geschichten war der Regen immer schön. Wenn ich bei Oma übernachten durfte, weckte sie mich gelegentlich und wir setzten uns mit einer Tasse Kakao ans Fenster, um den Regen zu betrachten. Sie erzählte mir aufregende Geschichten von fernen Welten und von sanftem Regen. Es war gefährlich, solche Geschichten zu erzählen, wo doch jeder wusste, dass der Regen tödlich war. Inzwischen ist Omas Tod zwei Jahre her und ich bin kein Kind mehr. Ich bin 10 Jahre alt und ich will die Wahrheit wissen. Niemand hat Lehnsen je verlassen. Und wer es verlassen hat, der kam nicht wieder. Oh, wie sehr ich mich danach sehne, die Berge und das Meer zu sehen. Oma hat mir Bilder gezeigt. Es sind keine echten Bilder, so wie der Dorffotograf sie in seiner Dunkelkammer macht, es sind gemalte Bilder. Ich habe meine beste Freundin Betti an den Regen verloren. Ihre Familie ist mit der Kutsche abgereist – ganz früh am Morgen, als der Regen aufhörte. Mutter schaute an diesem Abend aus dem Fenster. Jetzt hat sie der Regen geholt. Dann schrubbte sie weiter die Fliesen. Ich habe die ganze Nacht vor dem Fenster gebetet. Kann etwas, dass alle glauben, falsch sein? Oma hatte auf ihrem Speicher Bücher, verbotene Bücher – in allen kam der Regen vor – genau wie in ihren ausgedachten Geschichten. Ich darf mit Mutter und Vater nicht darüber reden. Ich durfte mir immer nur ein Buch ausleihen, um das Oma die blaue Hülle der Gemeindebücher legte. Einmal hatte ich einen Traum, der fühlte sich ganz echt an. Ich saß am Fenster und schaute auf die große alte Tanne, die sich vor dem Kornfeld im Wind wiegte. Da sah ich einen roten Fuchs. Ich drückte meine Nase ans Fenster. Ich schrie. „Lauf!“. Doch er stand da wie erstarrt. Eigentlich hatten doch nur Vögel einen natürlichen Regenschutz – so hat Mutter es gesagt. Bettis Mutter meinte, Rehe haben es auch. Sie widersprechen sich. Durch das Fenster sehe ich am Horizont die Sonne aufgehen.

„Guten Morgen, Sonne!“, rufe ich erfreut. Ich springe aus dem Bett und tauche meine Hände in die Keramikschüssel. Heute macht mir das kalte Wasser im Gesicht gar nichts aus. Heute ist es so weit.

Es riecht nach Zichorienkaffee und frisch gekochten Eiern. Meine Eltern begrüße ich zurückhaltender als die Sonne. Sie sehen unbändige Freude und Leidenschaft nicht gerne bei Kindern. Und das ist ja nur verständlich, denn Leidenschaft schafft Leiden. Es kann mir nur keiner erklären, weshalb da ein f in dem Wort fehlt.

„Guten Morgen.“ Vater sitzt mit zusammengekniffen Augen an der Frontseite – wie alle Väter es immer tun. So können sie am besten mit allen Kindern und der Frau schimpfen. Johanna schneidet das Brot. Johanna ist zwei Jahre älter als ich und macht immer, was man von ihr erwartet. Die meisten Familien hier im Dorf haben elf oder zwölf, manche sogar zwanzig Kinder. Warum habe ich nur diese eine blöde Schwester?

„Morgen.“ Mutter hebt konzentriert ein Ei nach dem anderen aus dem Kupfertopf in eine Schüssel. Die Kinder müssen die Eltern immer ansehen beim Grüßen. Die Eltern müssen nicht viel. Wenn sie mich doch nicht ansehen und gar nicht sehen, dass ich sie ansehe, weshalb muss ich sie dann ansehen? Ich habe es Oma mal gefragt und sie meinte, es sei eine Schnurrpfeiferei. Das bedeutet, dass sie diese Regeln für nutzlos hielt. Oma hatte immer lustige Worte. Mutter mag nicht, wenn ich diese Worte verwende. Sie sind nicht demütig genug. Oma meint, sie wäre bloß wütend, weil sie sie nicht verstehen würde. Bei Oma haben wir immer fröhlich geplaudert beim Frühstück. Und auf den Betten gehüpft. Sie fehlt mir so.

„Was seufzt du so? Es ist undankbar.“ Johanna sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, aber eigentlich sind ihre Augenbrauen immer so, weil sie ihren Zopf so eng flicht, dass alles in ihrem Gesicht ein Stück nach oben wandert.

„Entschuldigung“, murmele ich, was mir von Mutter einen erstaunten Blick beschert. Sie kontrolliert gerade, ob ich meine Hände gut gewaschen habe. Sie gibt einen murrenden Ton von sich, sagt aber nichts. Den braunen Rand unter meinen Nägeln kriegt man nicht mehr weg. Der kommt vom Kartoffeln graben. Johanna ist am gefährlichsten. Sie passt immer auf, dass ich alles richtig mache. Oma hat sie immer meine Gouvernante genannt. Aber sie hat auch gesagt, dass Johanna viele Fragen gestellt hat, als sie klein war. Sie muss damit aufgehört haben, weil es keine Antworten gab. Ich werde nie aufhören zu fragen. Jetzt wo Betti und Oma fort sind, weiß ich nur nicht, wen ich noch fragen kann. Gestern war es leicht, zwei Scheiben Brot zu stehlen. Wobei es eigentlich kein Stehlen war, denn ich hätte sie sowieso am nächsten Morgen gegessen, wenn ich nicht dem Regen entgegengehen würde. Ich habe auch ein paar Kartoffeln genommen. Wie man Feuer macht, wusste ich schon, als ich noch ein Baby war. Und vier von den trockenen Keksen, die es beim Nachmittags-Kaffee am Sonntag gab. Das ist schon eine Woche her. Am liebsten wäre ich vor dem Frühstück schon losgelaufen, aber man hätte mich gleich gesucht.

„Ich hole heute Gerda zum Gottesdienst ab.“ Obwohl sie mich mein Leben lang belogen haben, ist es nicht leicht sie anzulügen. Erneut sieht Mutter mich erstaunt an. Ich bin viel alleine und sie will immer, dass ich dazu gehöre, so wie Johanna. Betti und Oma waren meine einzigen Freundinnen, auch wenn Mutter meint, eine Oma wäre eine Oma und keine Freundin.

„Dann geh schon los, ich räume heute deinen Teller weg.“

„Danke, Mutter.“ Ich nicke ihr und Vater zu und verlasse langsam den Raum. Erst in meinem Zimmer erlaube ich mir einen kleinen Jauchzer. Mein Zimmer ist eine ehemalige Abstellkammer, aber das macht mir nichts. Johanna hatte ein eigenes Zimmer gewollt und für mich blieb nur die Kammer. Mir ist es recht. Ich liebe mein kleines Reich. Ich ziehe mein Sonntagskleid über mein Alltagskleid, stecke das Brot ein – immerhin eine Scheibe. Manche sagen, der Regen wäre so heiß, dass du selbst verdampfen und zu Regen werden würdest. Andere meinen, er wäre so kalt, dass man erfrieren würde. Und dann gab es Leute, die behaupten, er wäre ätzend wie Säure. Doch ich glaube nichts von alledem. Einmal habe ich etwas Waschsoda auf meine Fensterbank gestellt und gesehen wie der Regen reintropft. Es sprudelte nicht so, wie es gesprudelt hätte, wenn er sauer gewesen wäre. Ich habe heißen Tee auf die Fensterbank gestellt und er ist nicht eingefroren und auch nicht mehr verdampft als gewöhnlich.

Erst als ich den Hügel erklommen habe, traue ich mich, mich umzublicken. Von unserem Haus ist nur noch der eckige Schornstein zu sehen. Da beginne ich zu rennen. Als ich völlig aus der Puste bin, gehe ich ein kleines Stück, um dann wieder zu rennen. Ich werde zwei Stunden Zeit haben – meine Eltern werden mein Verschwinden erst nach dem Gottesdienst bemerken. Die Kinder sitzen oben auf der Empore. Johanna sitzt schon bei den Frauen und bedeckt sich die Haare mit einer Leinenhaube. Das werde ich niemals tun. Oma hat mir alles über die Blutung der Frauen erzählt. Niemand sonst spricht darüber. Ab der Blutung sitzt man unten und trägt die Haube. Manche verloben sich auch schon. Oma hat mir gesagt, sie hätte nicht geheiratet, wenn sie die Wahl gehabt hätte. Schon damals habe ich gewusst, dass ich vor der Blutung weglaufen würde. Meine Wasserflasche ist nur noch halbvoll, als die Sonne im Süden steht. Es muss ungefähr 12 Uhr sein. Erneut beginne ich zu rennen. Erst bei Sonnenuntergang, wenn alle in ihren Häusern verschwinden, bin ich sicher und kann ein Loch neben dem Bach graben, um das Wasser durch Erde und Gestein zu filtern. Wilde Wiesen und Birken ziehen an mir vorüber. Ich kenne diese Plätze, obwohl ich niemals über die rote Markierung gehen darf. Vater sagt, es sei das Blut derer, die über die Grenze gelaufen sind. Doch ich weiß, dass es kein Blut ist. Ich habe mir in den Finger geschnitten und das Blut neben die Grenze tröpfeln lassen. Blut ist viel dunkler, wenn es trocknet. Noch eine Lüge. Ich renne wieder schneller. Fort von den Lügen. Ich habe vier Bücher eingesteckt. Und mein Tagebuch. Ich hätte sie gerne alle mitgenommen, doch es ging nicht. Ein paar der Bücher habe ich in Wachspapier eingewickelt und vergraben – ich werde sie mir holen, wenn ich den Regen überlebe.

Das Feuer knistert. Ich drehe den Ast, auf den ich die Kartoffel gesteckt habe, zwischen den Fingern hin und her. Ich habe nicht die Zeit gehabt, mir ein richtiges Moosbett zu bauen, wie ich es mit Oma getan habe. Auch das Feuer wird nicht die ganze Nacht brennen. Jetzt ist nicht die Zeit dafür, ich muss schnell weiter, doch nun warte ich auf den Regen. Wird er das Feuer löschen? Ich werfe etwas Rainfarn in die Flammen um die Mücken zu vertreiben. Ich habe keine Angst. Ich fühle mich glücklich. Und erschöpft. Ich will auf gar keinen Fall einschlafen, bevor der Regen kommt.

Ich schrecke hoch. Da höre ich es wieder. Ein Fuchs. Ich liebe diesen Schrei. Er hört sich verrückt und frei an. Ich versuche, ihn nachzuahmen. Ich habe meine Stimme den ganzen Tag nicht gebraucht - aus Angst gehört und gefunden zu werden. Einen Fuchs wird niemand suchen. Nachts wird niemand suchen. Erst jetzt nehme ich den Regen wahr. Er fühlt sich so natürlich an, dass ich ihn gar nicht bemerkt habe. Ich springe aus dem Moos auf und strecke die Arme in die Luft. Es tut überhaupt nicht weh und die Luft riecht so gut! Ich drehe mich im Kreis. Vielleicht stirbt man nicht sofort oder nur, wenn man den Mund aufmacht. Wagemutig strecke ich die Zunge raus. Schmecke den Regen, der nach Regen schmeckt. Anders kann ich es nicht beschreiben. Es ist nicht, wie das Wasser, das man trinkt, denn es landet auf der Zunge wie eine kalte Messerspitze ohne zu schneiden. Der Vollmond schenkt ein dämmriges Licht. Ich beginne zu tanzen, wie ich es nur mit Oma durfte. Immer um die Glut herum. Genau wie das Bachwasser hat der Regen das Feuer gelöscht. Ich singe laut ein Lied von der Freiheit, das mitten aus meinem Herzen kommt. Plötzlich wird aus meinem Gesang ein Weinen und wie im Traum vermischen sich die Tränen mit Regen. Ich weine um Mutter und um Vater, um Johanna und um die Wahrheit und ich weiß, dass ich niemals zurückkehren werde zu der Lüge.

Magda

„Wie ist dein Name?“, frage ich.

„In der Siedlung nannten sie mich Deborah. Als ich weglief, nahm ich den Namen Freya an. Ich hatte mal ein Buch über eine Freya gelesen, die rebellisch, stark und klug war - von der Fruchtbarkeitsgöttin hatte ich damals keine Ahnung.“

„Und ihr habt wirklich geglaubt, außerhalb der Siedlung gäbe es nichts?“, fragte ich.

Sie nickte.

„Man wollte uns dort halten. Ich glaube, selbst von den Erwachsenen haben es viele geglaubt.“

„Wieso wollte man euch dort halten?“

„Damit Leute wie du dieses Leben haben können.“

„Leute wie ich?“

„Aliens.“ Vergeblich suchte ich in ihrem Gesicht nach einem Anzeichen für Humor. Als ich keines fand, zweifelte ich an ihrem geistigen Zustand. Vielleicht wird man so, wenn man in einer Sekte groß wird.

„Du machst Witze?“

„Bei meiner Geburt gab man mir den Namen Magda.“ Zweifelnd blickte ich sie an. Ich bin Magda. „Du lebst in meiner Familie. Bald wird deine Familie vom Planeten LHS 1140b kommen, um dich abzuholen.“

„Klar, sicher. Ist das nicht der Gesteinsplanet, der den roten Zwergstern im Sternbild Walfisch umkreist?“

„Ich meine es ernst. Ich weiß, wie verrückt sich das anhört.“

„Vielleicht schreibst du einen Science-Fiction Roman? Ist diese Sekten-Story auch erfunden?“ Ich griff nach dem Korb und richtete mich auf. „Ich habe keine Zeit dafür.“ Ich nahm zwei Stufen auf einmal, schloss die Haustür auf, doch Freya drängte sich ebenfalls in den Eingang.

„Verschwinde!“

„Ich will sie sehen.“

„Ver-schwin-de.“ Ich betonte jede Silbe, doch Magda hastete, zwei Stufen auf einmal nehmend, an mir vorbei. Dabei glitt ihre Rechte über den Treppenbogen. Ich lief hinterher, hielt mit beiden Händen den Korb umklammert. Im 1. Stock blieb sie genau vor unserer Wohnungstür auf der rechten Seite stehen.

„Woher weißt du …?“

„Als Kind bin ich oft das Geländer runtergerutscht. Bis ich eines Tages gestürzt bin. Ich schrie wie am Spieß, bis Großmama anfing mit einer Tasse meine Tränen aufzufangen. Ich musste trotz der Schmerzen lachen. Da wusste sie, dass es halb so schlimm war.“

Mit offenem Mund starrte ich sie an. Woher konnte sie das mit der Tasse wissen? Ich ließ zu, dass sie mir den Schlüsselbund aus der Hand nahm und beim ersten Versuch den richtigen Schlüssel ins Schloss steckte. Zufall. Oder? Eine Wahrscheinlichkeit von eins zu drei. Ich beobachtete Freya mit Luchsaugen wie sie auf dem schmalen Orientteppich den Flur entlang schritt und die Wände nicht nur mit Blicken sondern auch mit den Fingerspitzen betrachtete. Großmamas Landschaftsmalereien und sorgfältig mit der Feder abgeschriebene Gedichte zierten ebenso die Wände wie das Periodensystem und Sternbilder. Auf eigensinnige Weise ergab es ein stimmiges Gesamtbild. An einem Aquarell, dass die Felsen an der Küste Portugals abbildete, blieb ihre Hand in der Luft schweben. Ich war es, die Großmama gebeten hatte nur die Steine abzubilden. Nein, Oma nicht das Meer, auch nicht den Weg, nur die Felsen, so von oben, als gäbe es nichts anderes. Ich verbrachte den Großteil des Urlaubs damit, wie ein gestrandeter Wal auf diesen Gesteinsbrocken zu liegen und die schönsten Mini-Exemplare in meinem Eimer zu sammeln. Freya drehte sich zu mir um, musterte mich kühl, ehe sie vom Bild abließ, vor der offenen Wohnzimmertür tief durchatmete und zögerlich auf Großmamas Bett zuging. Ich hastete nach vorne, bereit einzugreifen. Großmamas Augen waren geschlossen. An ihrem Lächeln sah ich, dass sie wach war.

„Da bist du ja.“

Freya griff nach Großmamas Hand und legte ihre hinein. Dicke Tränen bahnten sich den Weg über ihr Gesicht. Da öffneten sich Großmamas Augen weit.

„Endlich bist du zurück, mein Kind.“ Nun rollten auch über Großmamas Wangen Tränen. Warum nannte sie diese Fremde mein Kind?

„Du hast es gewusst?“, fragte Freya.

„Ich habe es immer gewusst.“ Omas Blick glitt ans andere Ende des Wohnzimmers, wo das Gemälde mit der Hütte im Wald und den Enten am Bach hing, doch sie sah mittenhindurch in die Ferne. „Es gab damals viele … viele Wesensveränderungen unter den Kindern hier im Ort.“ Nun griff sie mit ihrer rechten nach meiner Hand. „Du warst ein Wildfang, immerzu wolltest du auf Bäume klettern. Wenn du nichts Grünes um dich hattest, hast du dich gelangweilt, beinahe Katzenartig bist du barfuß über die Ackerwiesen gelaufen. Du hast dir nichts bieten lassen – wenn die Jungen von Irma dich getriezt haben, hast du mit Tannenzapfen nach Ihnen geworfen. Du hast gerne mit den anderen Kindern gespielt. Als du etwa drei Jahre alt warst, fing es an. Du wurdest ruhiger. Meist alleine. Äußerlich warst du dieselbe, aber deine Bewegungen – du gingst als wärst du es gewohnt, gegen einen Schneesturm anzukämpfen – da war viel zu viel Kraft. Ständig bist du gestolpert oder hingefallen. In den Wald wolltest du überhaupt nicht mehr, hast dich im kargen Beton und bei Steinen wohlgefühlt.“ Ich kannte diese Geschichten über mich als Kind. Großmama schüttelte leicht den Kopf. „Ich habe nie aufgehört dich zu suchen … Ich kam mir irre dabei vor … Irma meinte, ich hätte Hans Tod nie verkraftet und wäre wunderlich geworden … Dabei hat mir Hans Tod nicht viel ausgemacht, es war so viel leichter ohne ihn.“ Großpapa Hans war von der alten Schule – Großmama war kreuzunglücklich an seiner Seite, weil er nicht zuließ, dass sie als Malerin arbeitete und mit ihrer Hausarbeit nie zufrieden war. Auch, wenn die Zeiten sich inzwischen geändert hatten, warnte Großmama immer noch jede Frau vor der Heirat: Ihr sucht vielleicht die Liebe, aber die Männer suchen Hausmädchen, merkt euch das! Aber das alles interessierte mich jetzt nicht. Ich rieb meine Stirn und sank auf die Bettkante. „Und der Spiegel. Du hast ihn immer so gemocht. Bist mit deinen Fingerchen die Umrandungen nachgefahren – der Spiegel war fort. Ich hatte zwei davon. Ich wusste immer, dass du ihn hast und das hat mich ein wenig getröstet.“

„Aber wie …? Was hat das alles zu bedeuten?“, fragte ich.

„Weißt du es, mein Kind?“ Großmama blickte Freya an und diese nickte. Dann setzte auch sie sich auf die Bettkante und erzählte. Den ersten Teil über die Regen-Sekte kannte ich ja bereits, doch dann erfuhr ich mehr von ihrer Geschichte.

“Nachdem ich abgehauen bin, habe ich lange gelebt wie ein Eichhörnchen. Manche Nacht verbrachte ich auf einem Baum. Als meine Vorräte zu Ende gingen, ernährte ich mich eine Zeitlang von wilden Wurzeln, Blättern, Samen und Beeren, fing sogar gelegentlich einen Krebs oder einen kleinen Fisch. Dennoch war ich völlig ausgehungert, als ich an einem kleinen Bauernhof ankam. Eine verhärmte Frau fragte mich, ob ich auch aus Lehnsen käme. Ich war erstaunt. Auch? Und wieso kannte sie diesen abgelegenen Ort? Tatsächlich war ich nicht die erste Geflohene, die bei ihnen klingelte. Die Frau ließ mich widerwillig im Stall schlafen. Ich habe schon genug von euch durchgebracht, der Herr weiß es. Jeden Tag hörte ich diesen Satz. Doch als sie merkte, dass ich gut zupacken konnte und ein Händchen für die Tiere hatte, öffnete sie sich. Ihr Mann war Trinker. Sie war völlig überfordert mit drei Kindern, Haushalt und Hof. Ich war schon fast drei Jahre bei ihr, als sie mir von einem Netz aus Ehemaligen berichtete. Sie drückte mir eine Telefonnummer und eine Adresse in die Hand. Sie hätte dir gefallen, Großmama. Sie ließ ihren Mann nicht ran, weil sie schon mit vier Kindern – ihn eingeschlossen - überfordert war. Schließlich brachte mich ihr ältester Sohn Peter mit dem Heuwagen zu der Adresse. Es war ein altes Bauernhaus voll mit scheuen, wortkargen Bewohnern. Keiner wollte mit mir reden, bis ich nach meiner Freundin Betti fragte. Dann erzählte mir ein älterer Herr mit grauem Bart, den alle Vogel nannten, eine ganze Menge. Ich hielt ihn für verrückt. Eine hochentwickelte Spezies vom Planeten LHS 1140b soll ihre Kinder wie Kuckkuckseier in Familien einnisten. Eine kam von ihrem Planeten zurück. Aufgrund der Entfernung von rund 49 Lichtjahren lebte niemand mehr aus ihrer Menschenfamilie und sie schloss sich den Ehemaligen an. Sie hat es auf dem Planeten nicht ausgehalten, sehnte sich nach der Erde. Von ihr kommen die meisten Informationen. Aber ich habe gehört, dass sie nicht die einzige ist. Manche von ihnen sind mit ihren neuen Familien untergetaucht. Angeblich können sie jede Gestalt annehmen, lernen schnell, sind anpassungsfähig. Auf diese Weise wurden sie von den Menschen angenommen wie ihre eigenen Kinder. Auf dem Planeten ist man auf sich gestellt, es gibt keine Gemeinschaft, keine Familien, keine Regierung. Der Nachwuchs würde elendig verkümmern. Ich habe lange nicht gewusst, dass es ein Leben vor Lehnsen gegeben hat. Ich habe angenommen, Johanna sei meine Schwester, Jakob mein Vater und Elsa meine Mutter, obwohl ich mich nie zu Hause gefühlt habe. Ich hatte eine Oma - weiß nicht, wer sie war, aber ohne sie wäre ich gewiss in der Sekte geblieben. Ich habe dich in meinen Träumen gesehen, die Tränen-Tasse, das Geländer, den Apfelkuchen. Erst als ich die Geschichten der Ehemaligen hörte, konnte ich mir alles zusammenreimen. Dann kamen immer mehr Erinnerungen. Naja, viele Erinnerungen hat eine dreijährige nicht.“

„Das ist doch verrückt. Glaubst du ihr, Großmama?“ Zu meinem Erstaunen blickte Großmama mir ernst in die Augen.

„Ja, ich glaube ihr.“

„Du denkst, ich wäre ein Alien?“

„Ich bin bereit so manches zu glauben, nachdem was ich erlebt habe. Aber du bist genauso mein Kind.“ Dann sieht sie Freya an. „Wann werden sie sie holen?“

„Das weiß ich nicht, es ist ganz unterschiedlich. Manche wurden schon mit siebzehn abgeholt, andere mit zwanzig, wieder andere erst in den Dreißigern. Wir kennen das System dahinter nicht, aber hier seid ihr nicht mehr lange sicher.“

„Aber wie geht das mit dem Regen? Es kann doch nicht sein, dass es nie tagsüber geregnet hat?“

Freya nickt.

„Die Sekte gab es schon davor. Es heißt, sie sei im späten achtzehnten Jahrhundert aus einer konservativen christlichen Gemeinschaft entstanden. Eines Tages kam ein Prediger, der sich für einen von Gott gesandten Engel ausgab – er behauptete Gott wolle die verdorbene Welt erneut zerstören, doch, weil er versprochen hatte, keine Sintflut mehr über die Erde kommen zu lassen, wolle er die Welt mit Regen, der kalt sei wie Eis, atzend wie Säure und heiß wie Feuer, vernichten. Nur, wer nachts die Häuser nicht verlasse, wäre sicher. Lehnsen sollte der einzige Platz auf der Welt sein, an dem es tagsüber nicht mehr regnen und sicher sein solle. Sie beeinflussen das Wetter. Sie selbst werden zum Wind, zum Regen, zur Sonne. Anfangs hielten ihn natürlich alle für verrückt, aber als es tatsächlich nur noch nachts regnete, glaubten die Menschen ihm.“ Freya schnaubt verächtlich. „Vermutlich hätten sie den Regen tatsächlich jederzeit in Säure verwandeln können. Vielleicht haben sie das vereinzelt sogar.“

„Ich habe nicht mehr viel Zeit. Kinder, ich halte nicht viel von Versprechungen am Sterbebett, sie kommen Erpressungen gleich, aber … Wenn ich nicht mehr bin, bitte, lasst nicht zu, dass böses Blut zwischen euch herrscht. Haltet zusammen. Ich liebe euch beide. Ihr werdet durch mich immer verbunden sein. Ich weiß nicht, was die Absichten von dieser Spezies sind, aber sie haben viel Leid angerichtet, wir kennen ihre Geschichte nicht … ich darf mir kein Urteil erlauben …“

„Ich könnte dich zu den Ehemaligen bringen. Aber es wird nicht leicht… Sie sind grundsätzlich jedem Alien gegenüber skeptisch.“

Alien. Ich fühlte mich zu schwach, um mich gegen diese Bezeichnung zu wehren. Großmamas Hand tätschelte sanft meinen Rücken. So lebhaft wie heute war sie lange nicht mehr.

„Lass uns jetzt Apfelkuchen backen“, sagte ich und blickte Freya fest an.

Etwa zwei Stunden später flutet ein warmer, knuspriger Duft die ganze Wohnung. Großmamas Augen sind geschlossen. Um ihre Lippen liegt ein verträumtes Lächeln.

„Wie in der Kindheit. Der Duft lockt uns aus dem Hinterhof. Großmutter buk genug, um auch ein paar Nachbarskinder zu beköstigen. Peter und Heinrich waren immer als erste zur Stelle. Man verstand unsere …“ Großmama fuhr mit der Zunge über ihre trockenen Lippen. „Unsere Liebe zum sauren Holzapfel nicht, bis man ein Stückchen auf dem Teller vor sich hatte. Die Säure des Apfels, die Würze von Thymian oder Salbei, die Süße des Zuckers – alles in Einklang. Viele der Nachbarn hatten importierten Zimt und Nelken. Großmama erntete die Kräuter aus dem Garten und aus den Wäldern. In ihrer Kindheit hatten sie nicht das Geld für exotische Gewürze und später blieb sie sparsam wie eh und je. Oft zerrieb sie ein Blatt zwischen den Fingern.“ Großmama rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. „Und dann roch sie mit geschlossenen Augen.“ Ihre Finger bewegten sich zu ihrer Nase, öffneten sich wie eine Blüte. „Dann war sie wie weggetreten. Wenn sie dann die Augen öffnete, sagte sie etwas wie: Beifuß im Kompott? Warum eigentlich nicht? Man hielt sie für verrückt, Beifuß war das Fleisch- und Fischkraut. Doch irgendwie … irgendwie gelang es ihr, alles so zusammenzufügen, dass es harmonierte.“ Großmamas Augen öffneten sich. Obwohl ich all das bereits unzählige Male gehört hatte, lauschte ich gebannt. „Ihr begreift nicht, wie ungewöhnlich das war. Arme Leute … arme Leute experimentierten nicht beim Kochen und Backen! Was, wenn es ungenießbar würde? Doch bei Großmutter war es, als könne sie alles in ihrem Geiste schmecken. Sie machte es, weil sie wusste, dass es gut sein würde, sie hatte es schon längst probiert. Hier.“ Großmama tippte sich an die Stirn.

„Komm, ich hole dir ein Stück.“ Freya begleitete mich in die Küche.

„So gut ging es ihr seit Wochen nicht mehr! Vielleicht … vielleicht ist sie über den Berg?“ Freya legte ihre Hand auf meinen Arm, schüttelte vorsichtig den Kopf.

„Kurz bevor … kurz davor blühen sie … oft auf.“

Ich hielt mir die Hand vor den Mund und schüttelte heftig den Kopf.

„Nein! Nein! Du warst nicht dabei, als sie …“

„Wir sollten jetzt bei ihr bleiben“, unterbrach Freya mich. In schnellen Handgriffen öffnete sie den Ofen, griff nach den karierten Topflappen und beförderte die Springform auf den Esstisch. „Keine Zeit zum Abkühlen“, sagte sie, öffnete den seitlichen Verschluss und zog die Seitenwände nach oben hin ab. Ich reichte ihr das Brotmesser und einen Porzellanteller. Sie hievte ein Stück darauf. Dann blickte sie mich fest an und wir gingen gemeinsam ins Wohnzimmer. Ich schluckte schwer. Für Großmama. Für Großmama riss ich mich zusammen.

„Ist das der Apfelkuchen? Sind Holzäpfel drin? Und Salbei?“ Großmama schmatzte kindlich mit der Zunge zwischen den Lippen. „Großmutter, kann ich zwei Stück haben? Großmutter?“ Freya warf mir einen Blick zu und da wusste ich, dass sie Recht hatte. Wir setzten uns von beiden Seiten auf die Bettkanten. Jede von uns hielt eine Hand. Großmamas Augen waren geschlossen. Stumme Tränen liefen mir übers Gesicht und als ich zu Freya blickte, sah ich, dass es ihr genauso ging. Der Teller mit dem Kuchen lag auf Großmamas Bauch. Ich legte mich seitlich neben sie, schmiegte meinen Kopf an ihren und drückte ihre Hand. Ich lauschte gebannt ihrer Atmung. „Danke Großmutter, danke!“, sagte meine Großmama mit niedlicher Stimme. Das sollten die letzten Worte sein, die wir von ihr hörten.

LHS 1140b

Magda

Ich wusste vom ersten Moment an, dass ich diesen Planeten liebe. Unter der Felsmasse, die den ganzen Planeten bedeckt, befinden sich Ozeane. Wolkendunst hängt dicht in der Luft. LHS 1140b ist ein massereicher Planet und hat eine stärkere Gravitationskraft als die Erde. Entgegen aller Logik sind meine Bewegungen hier fließend, leicht und natürlich. Ich denke oft an Großmamas Worte, an meine zu kraftvollen Schritte auf der Erde. Die Felswesen sind Einzelgänger – jeder lebt für sich, ist eins mit dem Planeten und eins mit dem Wasser. Ich fühle mich vollkommen, all mein Wissensdurst, den ich auf der Erde verspürte, scheint für immer gestillt, als bräuchte ich all das hier nicht mit dem Verstand zu begreifen. Mir ist jegliches Zeitgefühl verloren gegangen, auch, wenn ich weiß, dass der Planet in 24,7 Tagen um den roten Zwergstern, der viel kleiner, kühler und lichtärmer als die Sonne ist, kreist. 24,7 Tage entsprechen einem Jahr auf meinem Planeten. Ich bin also ein knapp 300 Jahre altes Wesen. Die meiste Zeit befinde ich mich auf der Nachtseite – dieser Planet kennt nur ewige Dunkelheit und ewiges Licht. Temperaturunterschiede nehme ich nicht wahr, da mein Körper sich automatisch an die Umgebungstemperatur anpasst. Die Neugeborenen werden nicht aus den Wesen selbst, sondern vom Planeten geboren. Sie sind hilflos wie die Säuglinge der Menschen. Deshalb ist es ganz natürlich, sie auf anderen Planeten abzulegen und dort aufwachsen zu lassen. Ich weiß inzwischen, dass nicht nur die Erde als Nest für die Felsenkinder genutzt wird. Eine Überlebensstrategie der Natur dieses Planeten, die der des Kuckucks gleicht. Ist nicht der Kuckuck wichtig für das ökologische Gleichgewicht? Können wir ihm etwas vorwerfen? Der Flug durch das All war nicht annähernd so aufregend, wie ich es mir vorgestellt hatte. Wir verwandelten uns in robuste Flügel mit solaraktivem Gewebe an der Oberfläche. Es fühlte sich an wie Fahrrad fahren – als hätte ich es schon immer so gemacht. Kaum vorstellbar, dass währenddessen 49 Jahre auf der Erde vergangen sein sollen. Wenn ich je wieder zurückkehre, wird niemand, den ich je gekannt habe, noch am Leben sein. Doch selbst das lässt mich merkwürdig unberührt. Großmama war der wichtigste Mensch in meinem Leben. Sie fehlt mir jeden Tag. Die Felsenwesen kommunizieren über Lichtmuster, auch das geht völlig unbewusst von statten. Auf diese Weise gelange ich immer wieder zu neuen Informationen, die urplötzlich in meinem Kopf Gestalt annehmen, als hätte ich sie schon immer gewusst. Ich nenne die Bewohner dieses Planeten Rupes - lateinisch für markante Felsen. Hier gibt es keine Wörter, doch mein vermenschlichtes Gehirn sucht immer noch nach passenden Begriffen für alles. Ich war auf dem Weg zur Universität, als mir meine Spezies in Gestalt von Freyas menschlichen, verstorbenen Eltern erschien. Ich war ihnen nie begegnet, sie starben bei einem Autounfall als Freya ein Jahr alt war. Ich kannte sie nur von Großmamas Erzählungen und von einer Fotografie. Es erschreckte mich statt Vertraulichkeit zu erwecken. Als sie jedoch in fließenden Felsen vor mir standen, berührten sie mich auf eigentümliche Weise und ich wusste, ich würde mitgehen.

4 Kommentare

  1. Das war eine spannende und interessante Geschichte. Die Handlung war fesselnd und die Charaktere glaubwürdig. Gute Arbeit!

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  2. Sehr klug vom Inhalt her. Aber langatmig und ich wusste bis zuletzt nicht, ob Freya oder Magda der Alien ist. Schon gut konstruiert, aber irgendwie überdosiert. Anders kann ich es nicht ausdrücken.

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  3. Fand ich echt gelungen, net die 0815 Alien Geschichten die man so kennt. Stellenweise hatte ich sogar Gänsehaut 😊

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  4. Kein eigener Ton: Die Sprache ist korrekt, aber beliebig – sie klingt wie aus einem Schreibseminar, nicht wie aus einer echten inneren Stimme.
    → Es fehlt Stilcharakter – keine Rhythmik, keine sprachliche Signatur.

    Emotionale Distanz: Die Figuren bleiben blass, selbst die dramatischen Szenen (Angst, Tod, Offenbarung) berühren nicht.
    → Es wird erzählt, nicht erlebt.

    Überladen mit Plotideen: Sekte, Alien, Spiegel, Doppelgänger, religiöse Symbolik, Science Fiction – das wirkt wie ein Mix aus zu vielen Genres ohne klare emotionale Linie.
    → Das verwässert die Wirkung.

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