DACSF2025_11

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Einer unter allen

„Wirf endlich rüber, du Idiot!“

Ben schaute sich hektisch um. Die Situation sah ausweglos aus. Von drei Seiten stürzten Gegenspieler auf ihn zu. In weniger als fünf Sekunden wäre alles vorbei. Er fand keine günstige Anspielstation. Jetzt oder nie. Er warf den Ball zu Thomas.

Einer der Gegner streckte sich. Seine Hand fing den Basketball in der Luft ab. Sofort brachte er ihn unter Kontrolle und passte einem Kameraden. Kurz darauf stand es 23:20 für das gegnerische Team.

Herr Garbuzov pfiff laut. „Aus! Für heute war es das. Alle umziehen gehen! Wir sind zeitlich leicht hintendran. Wehe es kommt jemand zu spät in der Klasse an! Ich erfahre es.“

Niedergeschlagen ließ Ben sich in der Umkleidekabine auf die harte Bank fallen und starrte auf den Boden.

Ein paar Sportschuhe erschienen im Blickfeld.

Langsam schaute er nach oben und sah in das wütende Gesicht von Thomas.

„Haste ja gut hinbekommen, du Pfeife! Du hättest direkt passen sollen. Wegen dir haben wir verloren.“ Er schlug mit der Faust knapp neben Bens Wange vorbei gegen den Metallspind. „Glaub mir, das war das letzte Mal, dass du in meinem Team spielst.“ Schnaufend drehte er sich um und ging rüber zu seinen Kumpels. Dort regte er sich weiter lauthals über Ben auf, beleidigte ihn, was ihm verschmitzte Lacher von den Freunden einbrachte.

Ben ließ den Kopf wieder sinken. Er hatte es geahnt. Der Tag hatte sich beim Aufwachen schon beschissen angefühlt.

Allerdings hätten ihn seine Eltern hochkant rausgeworfen. Die Schule schwänzen kam für sie nicht in Frage.

Dummerweise war Ben sein ganzes Leben lang noch nie krank gewesen, was ihm ermöglicht hätte, zuhause zu bleiben. Keine Grippe, keine Windpocken, nicht mal ein verdammter Schnupfen.

In Gedanken versunken bemerkte er plötzlich, dass es auffällig still in der Umkleide geworden war. Er hob den Kopf.

Alle Klassenkameraden waren verschwunden.

„Mist!“ In Windeseile zog er sich um. So schnell er konnte, rannte er über den Schulhof von der Halle zum Hauptgebäude. An der Tür verwechselte er in der Panik Ziehen mit Drücken. „Geh auf du Scheißteil!“ Die Treppen dahinter sprang er regelrecht hinauf. Im Gang sah er, wie Thomas als letztes gerade in den Klassenraum ging.

Der bemerkte ihn, grinste fies und zog die Tür hinter sich zu.

Hechelnd sprintete Ben zum Raum und riss die Klinke nach unten.

„Haben wir die Zeit vergessen?“ Die strengen Augen von Frau Heigend blickten ihn vorwurfsvoll über die dicken Brillenränder hinweg an. Sie machte einen Vermerk in ihrem Buch.

Ben erkannte von der Tür aus nicht, was sie schrieb. Mürrisch ging er zu seinem Platz und ließ die Taschen neben dem Stuhl fallen.

„Geht das dezenter, Herr Granges? Oder wollen Sie sicher stellen, dass auch der Letzte im Raum verstanden hat, dass Sie zu spät kamen?“

„Man kann sich echt anstellen“, flüsterte er leise vor sich hin.

„Was meinten Sie? Lassen Sie uns teilhaben an ihren Gedanken.“

„Nichts, Frau Heigend, es war nicht wichtig.“

„Dann verkneifen Sie sich zukünftig Bemerkungen, wenn sie keine Relevanz für meinen Unterricht haben.“ Sie schaute kurz in die Unterlagen, die vor ihr auf dem Pult lagen. „Ok. Wir haben letzte Stunde mit der Interpretation von Kafkas Brief an den Vater angefangen. Sie sollten für heute eine tiefenpsychologische Analyse vornehmen, um herauszufinden, was Kafka beim Schreiben bewegt haben könnte. Holen Sie bitte ihre Schriften hervor. Jeder darf als kurze Zusammenfassung ihre oder seine Gedanken vortragen.“

Ben sank im Stuhl nach unten. Natürlich hatte er die Hausaufgabe vergessen.

Wütend knallte er den Rucksack in die Ecke. Etwas zerbrach hörbar im Inneren. „Woah! Was ein Scheißtag!“ Ben warf sich aufs Bett und drückte das Gesicht tief ins Kissen. Er hörte Schritte, die sich seinem Schlafzimmer näherten.

Die Tür flog auf.

„Hier ist aber jemand schlecht gelaunt. Mama will, dass du runterkommst. Das Essen steht auf dem Tisch.“ Seine Schwester Mira klang herablassend.

„Verzieh dich und mach die Tür zu. Ich habe keinen Hunger.“

„Was hast du gesagt? Dein Genuschel ins Kissen versteh ich nicht.“

Er drehte sich auf die Seite und stierte sie gereizt an. „Ich sagte, du sollst dich vom Acker machen. Ich habe keinen Hunger.“

Mira zuckte mit den Schultern. „Das wird ihr nicht gefallen. Dein Problem.“ Sie ging die Treppe hinunter und ließ die Tür offenstehen.

„Blöde Kuh!“ Ben sprang aus dem Bett und knallte die Tür zu. Im selben Moment wusste er, dass es ein Fehler war.

Es dauerte keine Minute und sie wurde erneut aufgerissen.

„Mein lieber Freund, wenn du noch einmal in diesem Haus dermaßen die Türen knallst, wirst du dein blaues Wunder erleben.“ Michaela, seine Mutter, stand in drohender Pose vor ihm.

„Könnt ihr mich nicht einfach in Ruhe lassen? Ich hatte echt einen miesen Tag und will alleine bleiben.“ Er spürte, wie Tränen aufstiegen. Schlapp ließ er sich rückwärts aufs Bett fallen.

„Wenn jeder die Türen zuschlagen würde, wenn er einen schlechten Tag hatte, würde es in diesem Dorf 24 Stunden lang krachen. Schlag in dein Kissen oder gehe in den Wald schreien, mir egal. Aber lass die Tür in Ruhe. Die kann nichts dafür.“ Sie atmete tief ein und aus. Dann setzte sie sich aufs Bett. Ihr Gesichtsausdruck wurde mitfühlend. „Willst du drüber reden?“

Ben sah zum Fenster raus. „Nein. Momentan ist einfach alles scheiße.“

Sie berührte ihn sanft am Fuß. „Iss eine Kleinigkeit. Danach gehts dir besser.“

Er schüttelte den Kopf.

„Ok.“ Seine Mutter stand auf und verschwand nach unten in die Küche.

Um ihn herum zwitscherte und raschelte es, als Ben durch den nahegelegenen Wald beim Dorf schlenderte.

Er war so wütend.

Dabei lag es nicht unbedingt an diesem Tag, der von Anfang an schief lief.

Ihn erfüllte seit längerem eine innere Wut und Anspannung, die nicht mehr verschwand. Er regte sich nur noch auf. Sei es die pubertierende Schwester, die ihn regelmäßig in den Wahnsinn trieb, oder ein Vater mit Scheiß-egal-Einstellung zu alles und jedem. Dazu kamen die Sticheleien in der Schule durch Typen wie Thomas.

Und dann gab es gefühlt überall nur Krisen und Auseinandersetzungen in der Welt. Die Mächtigen der Länder stritten sich über fadenscheinige Dinge und wollten insgeheim doch nur Rohstoffe und mehr Macht. Jeden Tag hörte Ben in den Nachrichten, dass neue Krisenherde entstanden, Situationen eskalierten und mögliche Weltuntergangsszenarien prognostiziert wurden.

Mittendrin befand er sich als 17-Jähriger in einer Entwicklungsphase, die geprägt war von Selbstfindung, Zugehörigkeitsgefühlen und dem Entdecken des anderen Geschlechts.

Wenn er die Möglichkeit hätte, etwas in der Welt zu bewirken, er würde es tun. Die Menschen sollten einfach nur in Frieden koexistieren. Was war daran so schwer? Wieso schlugen sich alle lieber die Köpfe ein?

Er spürte, wie die Wut stärker wurde, jede Zelle des Körpers durchdrang und den Verstand benebelte. Sie schwoll an, verwandelte sich in einen tosenden Sturm, der ihm jegliche Sinne raubte.

Völlig hilflos sah Ben sich um. Ein Rauschen erklang in den Ohren. Ihm wurde schwindlig.

Die Bäume begannen, sich um ihn herum zu drehen. Die Umgebungsgeräusche verschwanden langsam im Hintergrund.

Schließlich hielt er es nicht mehr aus.

Er riss den Kopf nach hinten und schrie, so laut er konnte. Er entdeckte einen nahe stehenden Baum, der fast doppelt so breit wie er selbst war. Ohne drüber nachzudenken, holte er mit der Faust aus und schlug mit aller Kraft auf den Stamm ein.

Ein lautes Krachen ertönte.

Fassungslos betrachtete Ben seine Hand.

Sie steckte bis zum Gelenk im Holz drin. Eine Art grün-grau schimmernder Fels umzog sie schützend bis über den Unterarm hinauf.

Verwirrt zog er sie aus dem Stamm heraus.

Die seltsame Felsschicht zog sich von seinem Arm zurück und verschwand unter der Haut.

„Was zur Hölle passiert hier?“

„Ey Granges, wie war die Party bei Kojak? Thomas und dessen Kumpanen lachten hämisch. „Ach stimmt ja, Fiona hat dir einen Korb gegeben. Armes Bennilein. Wollte sie dich nicht küssen?“ Er spitzte die Lippen und machte übertriebene Küssgeräusche.

Die anderen kopierten ihn.

Ben stellte sich vor Thomas.

Sie waren fast gleichgroß.

„Weißt du was? Dein kindisches Gehabe interessiert niemanden. Dann hat sie mich halt abblitzen lassen. Gibt genug andere Mädels da draußen.“

Thomas Lippen wurden zu schmalen Schlitzen. „Oh ho, sind da jemandem Sackhaare gewachsen? Auf einmal so mutig?“ Er schob Ben von sich weg. Besser gesagt, er versuchte es.

Aber Ben bewegte sich keinen Zentimeter.

Thomas schaute kurz überrascht. Dann stieg sichtlich die Wut in ihm auf und er schubste ihn erneut, diesmal fester.

Wieder stand Ben unrückbar wie eine Steinsäule.

„Was zum...?“ Thomas trat einen Schritt zurück. Er nahm Anlauf und sprang wie ein Footballspieler gegen Ben. Als hätte er eine Wand attackiert, prallte er an ihm ab und rutschte zu Boden. Vor Schmerzen schrie er auf.

Seine Kumpels verstummten schlagartig und wischen von den beiden zurück. Ein Getuschel entstand unter ihnen.

Immer mehr Schülerinnen und Schüler kamen auf dem Schulhof zusammen, bildeten einen Halbkreis um die beiden Jungen.

Ben sah amüsiert nach unten. „Was ist los? Nichts gefrühstückt? Ein bisschen erbärmlich, was du hier abziehst.“

Schnaufend rappelte sich Thomas auf und wischte sich Blut vom Mund. „Halt dein Maul, Granges! Keine Ahnung, wie du das machst, aber es war ein Fehler. Dafür wirst du bezahlen.“ Hasserfüllt warf er sich auf Ben.

Der blieb gelassen und lächelte. „Ich denke nicht.“ Mitten in Thomas´ Angriff streckte Ben eine Hand aus. Es wirkte beinahe, als würde er den Jungen kaum berühren.

Das Ergebnis war jedoch überdeutlich. Wie eine Pistolenkugel schoss sein Angreifer nach hinten, flog schreiend durch die Luft und verschwand in den Hecken, die am Rand vom Schulhof wuchsen. Man hörte einen Aufprall und dann nichts mehr.

In der darauffolgenden Stille ertönte ein Schrei von einer Schülerin. Die umstehenden Schüler liefen alle panisch von Ben weg. Handys wurden gezückt und bald filmte ihn jeder, wie er alleine mitten auf dem Hof stand und grinste.

„Was hast du dir dabei nur gedacht?“ Das Gesicht seiner Mutter leuchtete rot vor Zorn. „Der Junge liegt im Krankenhaus. Gott weiß, wie es ihm geht und was für Schäden er behalten wird.“

Ben saß auf dem Bettrand und bot ihr trotzig die Stirn. „Es tut mir leid. Wie oft soll ich es noch sagen? Er hat angegriffen und ich habe mich lediglich verteidigt. Sieh dir doch die Videos im Netz an.“

Tatsächlich hatten ein paar Schüler bereits vor Bens Schubser angefangen zu filmen, als sie merkten, dass ein Streit in der Luft lag. Die Clips wurden anschließend direkt im Internet hochgeladen.

„Ich habe die Videos gesehen. Dein Schuldirektor hielt sie mir unter die Nase. Ja, Thomas mag provoziert haben. Aber das, was ich dort sah, ist mein Sohn, der es sichtlich genießt, seine Überlegenheit auszunutzen und einem Jungen so schwere Verletzungen zufügt, dass er vielleicht nie wieder gehen kann. So habe ich dich nicht erzogen, Ben.“ Sie wandte sich ab. Ihre Schultern bebten. Ein wehleidiges Schluchzen erklang. Sie putzte sich die Nase. Dann sah sie nach hinten, ohne Ben direkt anzuschauen. „Ich bin zutiefst enttäuscht von dir, dein Vater auch.“ Sie verließ das Zimmer.

Ben sprang auf. „Ihm ist das doch egal, wie immer“, schrie er in den Flur.

„Glaubst du, dass das eine gute Idee ist?“ Flo sah ihn besorgt an.

Ben konnte es seinem besten Freund nicht verdenken. Sie waren dabei, eine große Dummheit zu begehen. Im schlimmsten Fall bedeutete es, dass Ben sterben könnte.

Nachdem die Videos viral gingen, wurde Ben von allen in der Schule gemieden. Sie hatten Angst vor ihm.

Auch Flo war im ersten Moment zurückhaltender geworden. Nach ein paar Tagen schrieb er dann eine SMS, um sich mit Ben zu treffen und über das Geschehene zu reden.

Ben erzählte ihm von dem Erlebnis im Wald und beide waren sich einig, dass es das Beste sei, das erstmal für sich zu behalten, so gut es seit den Videos möglich war.

Wie in ihren geliebten Comicverfilmungen wollten sie an diesem Abend als Erstes die Fähigkeiten von Ben austesten. Sie standen auf der Baustelle eines neuen Firmengeländes im Industriegebiet der Stadt. Die Produktionshalle befand sich im Rohbau, doch bot die Umgebung mit all den Geräten und Materialien ausreichend Möglichkeiten, kreativ zu werden.

Außerdem hatte Flo das Jagdgewehr von seinem Vater mitgenommen. Der Code für den Sicherheitsschrank war ihm bekannt. Und mit dieser Waffe zielte er auf Ben. Der Lauf zitterte. „Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob wir das machen sollten.“

Ben stand zehn Meter entfernt. „Vertrau mir. Jetzt schieß!“

Flo atmete schnell. Der Schweiß perlte ihm von der Stirn. Dann schoss er.

Die Kugel traf Ben mitten auf der Brust und prallte von dort aus ab.

Am Einschlagsort hatte sich innerhalb eines Wimpernschlags eine schützende Schicht aus grün-grau schimmerndem Fels gebildet.

„Ist ja abgefahren!“ Flo riss das Gewehr nach oben. Mit weit offenstehendem Mund ging er auf Ben zu. „Wie machst du das?“

„Es geschieht automatisch. Es ist wie ein mitdenkender Schutzpanzer. Daheim habe ich mit den Küchenmessern auf meine Hand eingestochen. Sie sind zerbrochen. Mama war stinksauer, als sie keine mehr von ihnen fand. Habe sie alle entsorgt.“

Den Rest der Nacht probierten sie fleißig, Ben zu verletzen. Als die Sonne aufging, stellten beide schweißgebadet fest, dass es nicht möglich war.

Außerdem konnte Ben den Schutzpanzer jetzt bewusst herbeirufen und konstant halten. Und er hatte eine weitere Fähigkeit entdeckt.

„...während sich die Lage in Berlin zuspitzt. Zehntausende von Menschen sind in den Straßen unterwegs und demonstrieren gegen die Überlegung der NATO, die harten Geschütze in der Russland-Krise einzusetzen. Was genau unter die Bezeichnung fällt, ist bisher unklar. Aber allen dürfte bewusst sein, dass der längste Frieden in der Geschichte der Menschheit damit kurz vor dem Ende steht. Es kommt zu immer mehr Ausschreitungen und Gewalttaten gegen die Einsatzkräfte. Die Menge ist wütend. Ein Funke könnte die Stimmung komplett kippen.“ Der Korrespondent duckte sich, als hinter ihm ein Auto in Flammen aufging.

Die Übertragung brach ab. Die Nachrichtensprecherin im Studio wurde eingeblendet. Sie wirkte sichtlich nervös. „Wir werden versuchen, die Verbindung so schnell wie möglich wieder herzustellen.“ Jemand hinter der Kamera schien ihr etwas zu sagen, denn sie nickte. „Schalten wir nun zu meinem Kollegen nach Neung-eu-Beuvron. Dort findet heute der Weltrekordversuch für das längste belegte Baguette statt.“

Der Bildschirm wurde schwarz.

Bens Vater Ralf legte die Fernbedienung auf den kleinen Couchtisch. „Meine Güte, was ist nur los in der Welt?“

Seine Frau nahm Mira in den Arm. „Alles wird gut, Schätzchen.“

Ben saß mit angespanntem Kiefer am Esstisch. Die geballte Faust lag oben auf. „Gar nichts wird gut, Mama. Uns steht der dritte Weltkrieg bevor. Jemand muss etwas unternehmen.“

„Und wer soll das sein? Du?“ Ralf sah ihn an.

Bens Augen wurden groß. Langsam stand er auf. „Du hast recht, Papa.“ Er ging eilig Richtung Tür.

Hinter sich hörte er eine verwirrt klingende Stimme. „Womit habe ich recht?“

Generalsekretär Gérard Bulvignon sah besorgt in die Runde. Über ihm strahlten die LED-Anzeigen der Landesflaggen aller NATO-Länder.

Der Nordatlantikrat, kurz NAC, tagte bereits seit vier Stunden.

„Ich bin die ewigen Diskussionen leid. Lasst uns endlich diesen Krieg beenden.“ Der Botschafter aus Polen schlug auf sein Pult. „Mit jeder Sekunde, die wir zögern, rückt die Gefahr näher an meine Landsleute heran. Wir müssen handeln.“

„Damit würden wir einen viel größeren Krieg auslösen. Europa wird brennen. Ihnen dürfte klar sein, dass ein Einsatz von solchen Waffen zur Folge hat, dass unsere Gegner mit aller Härte zurückschlagen werden. Ich will das Blut nicht an meinen Händen kleben haben. Es muss eine andere Lösung geben.“

Gérard stimmte der italienischen Botschafterin insgeheim zu. Leider fiel ihm keine effektive Alternative ein.

Immer mehr Stimmen wurden laut. Die Lage schien zu eskalieren.

Der Generalsekretär stand auf und hob die Arme. „Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten nicht den Kopf verlieren. Gerade herrscht hier das Chaos. Lassen Sie uns wieder Ruhe finden. Die Menschen von Europa, vielleicht sogar der ganzen Welt, erwarten von uns, dass wir den Karren aus dem Dreck bekommen. Das gelingt uns nur mit Besonnenheit und Weitsicht.“

Plötzlich vernahm er in der einkehrenden Stille Geräusche von außerhalb des Sitzungssaals.

Ein Beben ging durch den Raum. Gläser fielen zu Boden.

Die Anwesenden schauten sich fragend gegenseitig an.

Mit einem gewaltigen Knall stürzte ein kleiner Teil der Decke nach unten. Ein paar LED-Anzeigen wurden ebenfalls zerstört.

Als Gérard die Hände sinken ließ, erschrak er.

Mitten im Schutt stand jemand. Die Gestalt war komplett von einer Art Steinpanzer umgeben, der grün-grau schimmerte. Aus dem Kopf leuchteten zwei neongrüne Augen.

Darum bemüht, nach außen hin Ruhe zu zeigen, hob Gérard die Hände. „Wer sind Sie und was wollen Sie?“

Die Gestalt sah ihn direkt an. „Ich suche die Entscheidungsträger der NATO. Sie sollen den Einsatz der heftigen Kriegswaffen nicht bewilligen.“

Rechts von sich vernahm der Generalsekretär ein Flüstern. „Scheiße, das ist ein Alien.“ Er signalisierte dem Sprecher möglichst unauffällig, sich zurückzuhalten. Dann wandte er sich wieder an die Gestalt. „Sie stehen mitten im NAC-Rat. Wir alle entscheiden im Konsens, ob der Einsatz gerechtfertigt erscheint. Noch einmal: Wer sind Sie?“

„Das tut nichts zur Sache. Lassen Sie die Waffen im Depot liegen. Ich biete an, mit der gegnerischen Partei zu verhandeln.“

Das verwirrte Gérard. „Sie sind also auf unserer Seite?“

„Ich bin auf niemandes Seite. Ich will lediglich, dass der ganze scheiß Krieg aufhört. Die Menschheit hat sich lange genug gegenseitig die Köpfe eingeschlagen.“

Hinter der Gestalt stand der polnische Botschafter auf. „Na hören Sie mal. Sie können nicht einfach so durch die Decke krachen und uns Handlungen diktieren. Wir sind der NAC-Rat, eines der mächtigsten Gremien der Welt. WIR befehlen IHNEN und nicht andersherum.“

Die Gestalt wandte sich dem Mann zu und lachte. „Versuch es doch.“

Aus drei Eingängen stürmten schlagartig bewaffnete Soldaten herein. Sie positionierten sich und legten die Gewehre an.

Für Gérard war klar, dass sie kurz vor einer Katastrophe standen. „HALT! Jetzt beruhigen sich alle wieder! Keiner trifft eine unbedachte Entscheidung. Lassen Sie uns manierlich und gesittet miteinander sprechen.“

Ein Schuss ertönte.

Innerhalb einer Sekunde sprang die Gestalt zum Soldaten und schlug ihn.

Der Mann flog quer durch den großen Saal und krachte gegen die Wand. Bewusstlos sank er zu Boden.

Die Gestalt behielt eine Haltung bei, die signalisierte, jederzeit erneut anzugreifen. „Will noch jemand sein Glück versuchen?“

„Stop! Bitte! Keiner schießt und Sie schlagen niemanden.“ Gérard spürte, wie der Schweiß sein Hemd einweichte. „Für uns alle ist diese Situation völlig neu. Verstehe ich Sie richtig? Sie wollen zur gegnerischen Führungsriege fliegen und dort das Ende der kriegerischen Aktivitäten einfordern?“

Die Haltung der Gestalt lockerte sich etwas. Schon fast lässig stapfte sie zurück in die Mitte unterhalb der Anzeigen. Sie hob die Arme und zuckte mit den Schultern. „Ja.“

„Das geht nicht. Wir können nicht irgendein Alien, dass plötzlich auftaucht, als Zwischenhändler senden. Das ist absoluter Blödsinn. Welche Garantien haben wir?“ Der deutsche Botschafter blickte fassungslos in die Runde.

„Wisst ihr was? Ich brauche euer Einverständnis nicht. Lasst die Waffen im Keller. Ich regel das.“ Die Gestalt schaute nach oben und schoss wie ein Pfeil durch das Loch in der Decke.

Sofort brachen überall heftige Diskussionen vom Zaun.

Gérard ließ sie. Benommen sah er nach oben. Er fühlte, wie nackte Angst in ihm aufstieg.

Vom NAC-Rat flog Ben auf direktem Weg nach Russland. Es dauerte, bis er die richtige Adresse herausfand, um den Präsidenten persönlich aufzufordern, die Soldaten zurückzuziehen. Leider mussten ein paar Menschen herbe Verletzungen einstecken, doch für Ben waren es notwendige Opfer, damit er schneller ans Ziel kam. Es überraschte ihn selbst, wie bereitwillig er anderen Schaden zufügen konnte. 17 Jahre Erziehung seiner Eltern hatten wohl versagt.

Der russische Präsident hatte ihn anfangs genauso wenig ernstgenommen wie die Schlipsträger im NAC-Rat. Als Ben jedoch ein paar der Elite-Leibwächter ohne Anstrengung außer Gefecht setzte und dem Präsidenten auf die Pelle rückte, gab dieser nach. Er versprach, das Heer zurückzubeordern, und griff sogar im Beisein von Ben zum Telefon und ließ den Worten Taten folgen.

Danach besuchte Ben den amerikanischen Staatschef.

Die Security des Weißen Hauses bot mehr Gegenwehr. Ganz im Sinne von ‚Erst schießen, dann Fragen stellen‘ ballerten sie aus allen Rohren auf ihn, sobald er in den Luftraum über dem Gebäude eindrang. Es nützte ihnen gar nichts.

Ohne einen Kratzer drang Ben ins Oval Office und wenig später in den Schutzbunker ein. Er riss die meterdicke Stahltür aus den Scharnieren und schlug die schießenden Wachleute bewusstlos.

Nachdem der Präsident ihm zugesichert hatte, zukünftig keine militärischen Operationen mehr durchzuführen, ging es für Ben weiter Richtung China und Nordkorea. Überall forderte er dieselben Bedingungen.

Zufrieden saß er nun auf der Couch und sah fern. Er war gespannt, was seine Bemühungen für Früchte tragen würden.

Die Nachrichtensprecherin erschien hinter dem Pult. Sie wirkte bleich im Gesicht. „Willkommen zu den Nachrichten. Laut offiziellen Berichten der NATO, Russland, den USA, China und sogar Nordkorea werfen sich betroffene Nationen plötzlich gegenseitig vor, Opfer eines Angriffs einer geheimen Superwaffe zu sein. Es ist die Rede von einem neuartigen Elite-Soldaten, der die führenden Präsidenten töten sollte. Jedes Land dementiert den Vorwurf vehement. Auf der Plattform X explodieren die politischen Meldungen. Die Server fielen heute Morgen zeitweise sogar aus, weil sie überlastet waren. Bis jetzt ist nicht ersichtlich, warum diese Vorwürfe so plötzlich einsetzten und um was es sich bei der Superwaffe handeln soll. Fakt ist, dass die Beschreibungen der Nationen zu dieser Waffe weitestgehend übereinstimmen und dadurch an Glaubwürdigkeit gewinnen. Wir schalten live zu Sven Machiakowski nach Berlin, Fachmann für militärische Entwicklungen.“

Ein älterer Mann mit dünnem Haarkranz und Brille erschien in einem separaten Bild.

„Hallo, Herr Machiakowski. Was können Sie uns zu dieser geheimnisumwobenen Superwaffe sagen. Gibt es Elite-Einheiten, die in jede Regierung dieser Welt eindringen können?“

Der Spezialist lachte kurz. „Diese Geschichte über einen Supersoldaten erscheint mir völlig absurd, gleichwohl die Idee davon schon länger besteht.“

„Sie glauben also, dass sämtliche betroffene Länder und Gremien - immerhin allesamt die mächtigsten Menschen der Welt – dahingehend etwas erfinden und das nahezu zeitgleich?“

„Es wundert mich schon, dass diese Vorwürfe so zeitnah geschahen. Ich versichere allen Zuschauern da draußen, dass kein Land der Erde über die technischen Mittel und das Wissen verfügt, diese Form eines Soldaten zu entwickeln. Laut etlicher Berichte besaß er eine Rüstung, der keine Waffe etwas anhaben konnte. Ein solches Material zum Schutz gibt es schlichtweg nicht.“

„Die Superwaffe könnte aber ein Soldat sein?“

„Das geht aus den Meldungen der Nationen hervor. Mittlerweile haben Russland und die USA Fotos geleaked, die eine Person zeigen. Ich denke jedoch, dass es sich dabei um aufwendig gefälschte Bilder handelt. Hinsichtlich unserer Fortschritte im Bereich der künstlichen Intelligenz ist das heutzutage möglich.“

„Was denken Sie, soll mit den Anschuldigungen bezweckt werden?“

„Wir befinden uns weltpolitisch in einer äußerst heiklen Lage. Gefühlt herrschen überall Krisenherde, ob militärisch oder wirtschaftlich. Die Nerven der Länder liegen blank. Die Kompromissbereitschaft sinkt täglich. Dies sind erste Anzeichen der Ausweglosigkeit, in der wir uns bewegen. Sämtliche Argumente wurden vorgelegt. Jetzt werden welche erfunden, um das eigene Handeln weiter zu rechtfertigen.“

Die Nachrichtensprecherin griff sich ans Ohr und blieb in der Position. Plötzlich hielt sie sich am Pult fest. Sie wirkte völlig entsetzt. „Wir...erhielten soeben die Mitteilung, dass die USA den Einsatz von nuklearen Waffen vorbereiten. Russland reagierte direkt darauf und drohte mit entsprechenden Gegenmaßnahmen. Aus China, Nordkorea und der NATO liegen noch keine Meldungen auf die Ankündigungen der beiden Großmächte vor.“

Das Gesicht von Sven Machiakowski zeigte blankes Entsetzen und verschwand.

Ben schaltete erschüttert den Ton aus. „Was habe ich getan?“

Hinter ihm zersprang ein Glas.

Ruckartig drehte er sich um und sah Mira in der Tür stehen.

Sie blickte schockiert in den Fernseher. „Was sagen die? Atomwaffen? Oh mein Gott!“ Sie wendete auf dem Absatz und lief in die Küche. „Mama! Der 3. Weltkrieg beginnt.“

Als Antwort ertönte ein schriller Schrei.

Sofort war Ben auf den Beinen und stürmte hinterher.

Die Frauen und hielten sich gegenseitig fest umschlungen und schauten beide durchs Fenster nach oben.

„Was ist los? Fliegen da etwa schon die Raketen?“ Ben durchfuhr ein Schauer.

Seine Mutter zeigte mit zitterndem Zeigefinger hinaus. „Da...da...ist etwas am Himmel. Bei Jesus und Maria, wir werden alle sterben.“ Sie verlor das Bewusstsein.

Ihre Tochter fing sie auf und ließ sie sanft zu Boden sinken.

Ben lief zum Fenster. Die Kinnlade fiel ihm runter. Mit pochendem Herzen rannte er durch den Flur und raus in den Vorgarten. Seine Augen waren wie gefesselt von dem Anblick, der sich ihm bot.

Aus den Nachbarhäusern in der ganzen Straße kamen Menschen heraus. Sie alle sahen nach oben, unfähig zu glauben, was sich dort ereignete.

„Houston, wir haben ein Problem.“

„ISS, erläutern Sie!“

„Schaut auf die Monitore! Wie soll ich das erklären? Hier ist ein gigantisches Gesicht aufgetaucht. Und wenn ich gigantisch sage, meine ich, dass die Erde im Vergleich dazu wie ein beschissener Medizinball wirkt.“

„Einen Augenblick, ISS, wir erhalten gerade unzählige Meldungen über eine Entität im Weltall. Herrgott, das Gebimmel hört überhaupt nicht auf. Können Sie uns mehr Informationen geben?“

„Ja...ich, verdammt, es ist so unfassbar riesig. Es wirkt wie eine Ansammlung verschiedener Farben kosmischen Nebels. Diese formen in der Mitte eine Art Gesicht mit zwei bläulich leuchtenden, pulsierenden Augen von jeweils der Größe eines Mondes. Überall zucken Blitze und es scheinen sowas wie interstellare Stürme zu wüten. Eine Reihe von drei Kugeln schwebt zwischen den Augenpartien senkrecht nach oben. Oh mein Gott, sind das Planeten? Das Ganze zerfasert undeutlich an den Rändern ins All hinaus.“

„Was macht die Entität?“

„Nichts. Scheint zu beobachten. Jedenfalls bewegen sich diese leuchtenden Augen leicht hin und her. Was sollen wir tun?“

„Moment, ich schau im Handbuch für kosmische Begegnungen nach. Verdammt, keine Ahnung, was wir ALLE jetzt tun sollen. Versuchen Sie, Kontakt herzustellen.“

„Verstanden, Houston. Gott steh uns bei!“

„ISS, so wie es aussieht, ist Gott gerade erschienen.“

Das Gesicht füllte den halben Horizont aus.

Ben wurde beim bloßen Anblick schwindlig. Sein Verstand konnte das Gesehene nur schwer verarbeiten. Die Relationen waren jenseits der Vorstellungskraft. Er spürte eine Hand auf seiner Schulter.

Sein Vater schaute wie alle anderen hinauf. „Was ist das?“

Mira tauchte neben ihnen auf. „Mama gehts so weit gut. Ich habe sie in die stabile Seitenlage gelegt.“ Sie klammerte sich ängstlich an Ralfs Arm. „Ich habe Angst, Papa!“

Er tätschelte liebevoll ihre Hand. „Warten wir ab. Vielleicht ist es uns wohlgesonnen.“

Ben lachte hämisch und zeigte nach oben. „Willst du mich verarschen? Da ist ein Wesen kosmischen Ausmaßes, das die Erde wie einen Apfel essen kann und du glaubst, es ist freundlich?“

„Ich denke halt positiv.“

Mira wimmerte leise. „Warum macht es nichts?“

Wie auf Kommando kam Bewegung in die nebelartigen Formen, wo der Mund hätte sein können.

Ein heftiges Beben ließ die Erde in der ganzen Straße erzittern. Starker Wind blies allen um die Ohren. Die Menschen konnten sich kaum auf den Beinen halten. Autoalarme jaulten auf, Fenster zersprangen.

In dem ganzen Getöse sprach eine tiefe, gewaltig klingende Stimme. „ZHULUMATULEM, KOMM ZU MIR!“

Ben ließ die Steinhaut erscheinen und verwandelte sich.

„Was zum...?“ Fassungslos sah Ralf seinen Sohn an. „Die Nachrichten hatten recht?“ Er musste schreien, um gegen den Wind anzukommen. Nur mit Mühe hielt er sich und Mira auf den Beinen.

Ben schienen die tobenden Naturgewalten plötzlich nichts mehr anzuhaben. Er stand dort, als würde lediglich ein laues Sommerlüftchen wehen. Die leuchtenden grünen Augen sahen seine Familie an. „Ich werde zu dem Gesicht fliegen und versuchen, mit ihm zu sprechen.“

„Seit wann kannst du fliegen?“ Ralf sah ihn völlig entsetzt an. Er war kreidebleich.

Ben antwortete nicht. Stattdessen trat er einen Schritt nach hinten, schaute hinauf und schoss wie eine Rakete in die Lüfte.

Die Landschaft verkleinerte sich rasend schnell.

So weit nach oben war er noch nie geflogen. Er wusste nicht, ob er es überhaupt bis zu diesem Wesen schaffen würde.

Bald spürte er eine leichte Kälte, als er in die obere Schicht der Atmosphäre eindrang.

Auf dem schimmernden Steinpanzer bildeten sich kleine Eiskristalle.

Je näher er dem Wesen kam, desto beeindruckender wurde es. Aber da war noch etwas, ein Gefühl von innerer Ruhe und Sorglosigkeit. Ben fühlte keine Angst und das verwirrte ihn. Tief in sich drin wusste er, dass ihm nichts passieren würde.

Woher kam diese Zuversicht? Lag es an seinen Fähigkeiten und der damit verbundenen Überheblichkeit?

Er verließ die Atmosphäre und flog ein kleines Stück ins Weltall hinaus, bevor er in gebührendem Abstand zum Wesen anhielt.

Das Gesicht huschte mit unfassbarer Geschwindigkeit nach hinten und fokussierte ihn mit beiden gigantischen leuchtenden Augen. Die Nebel formten erneut eine Art Mund und die tiefe Stimme erklang in Bens Verstand. „Endlich kehrst du zu mir zurück, Zhulumatulem.“

Ben erschrak, als er die Worte nicht wirklich hören konnte, sondern lediglich im Kopf wahrnahm. Wieder kam es ihm seltsam vor, keine richtige Angst zu fühlen. „Ich glaube, du verwechselst mich. Ich heiße Ben Granges.“

Blitze zuckten zu Tausenden in den Nebeln des Wesens. „So nennen dich die Erdenbewohner. Dein wahrer Name ist Zhulumatulem. Du bist kein Mensch.“

Bens Herzschlag beschleunigte sich. „Was soll das heißen? Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Ich seh wie einer aus. Natürlich bin ich ein Mensch.“

Die Nebel änderten immer wieder in fließenden Übergängen ihre Farben. „Dieser Körper ist nur eine erbärmliche Hülle: schwach, zerbrechlich und sterbend. Welcher Bewohner dieses Planeten kann das, was du kannst?“

Ben senkte den Kopf und wollte zu Boden schauen, doch der lag über 100 Kilometer tiefer zu seinen Füßen. „Keiner von dem ich je gehört hätte.“

„Du bist Zhulumatulem, der Eine unter allen. Ich brachte dich hierher, damit du auf der Erde sicher aufwächst. Wie es unserer Natur entspricht, kehrte ich zurück, als du die ersten Fähigkeiten entwickelt hast.“

„Moment!“ Bens Verstand versuchte, zu erfassen, was das Wesen ihm mitteilte. „DU hast mich heimlich auf der Erde ausgesetzt? Das heißt, Michaela und Ralf sind nicht meine richtigen Eltern?“ Ihm wurde schlecht.

Die leuchtenden Augen von der Größe eines Mondes sahen an ihm vorbei in die Unendlichkeit des Weltalls. „Genau so ist es.“

Ben wurde wütend. Das war alles zu viel für ihn. Seine Stimme zitterte. „Und was jetzt? Nimmst du mich wieder mit nach Hause zu meiner wahren Familie? Sehe ich in Wirklichkeit aus wie du?“

Das Gesicht näherte sich ihm innerhalb eines Wimpernschlags. „Das Aussehen kannst du frei wählen, wenn wir wieder bei den anderen sind. In dieser Form bist du ein Nichts im Vergleich zu deinen Geschwistern. Du bist ein hilfloses – wie würden die Menschen sagen – Baby.“

Ben stockte der Atem. Noch vor wenigen Tagen hatte er gedacht, unglaubliche Kräfte zu besitzen. Und jetzt sagte ihm dieses wabernde kosmische Gesicht, dass es nur die Spitze des Eisbergs sei.

Er dachte plötzlich an all die Menschen auf der Erde, die ihm etwas bedeuteten. Tränen stiegen auf. „Und wenn ich weiter bei denen wohnen möchte, die ich mein Leben lang als Familie kenne?“

Die Farben der Nebel wechselten Stück für Stück in ein tiefes Rot. „Du wirst mitkommen!“

Ben ballte die Fäuste. „Ich will aber nicht.“

„Du solltest etwas wissen über uns. Wenn wir den ausgesetzten Samen einsammeln, vernichten wir den Planeten, auf dem er gedeihen durfte. Es wird keine Erde oder Menschen mehr geben, zu denen du zurückkehren kannst.“

Schockiert flog Ben ein paar Meter nach hinten. „Warum? Was haben sie dir getan?“

Wieder wandelten sich die Nebel und schimmerten bunt. „Die Erde hat ihren Zweck als Brutstätte erfüllt und verdient ihre Auslöschung. Es ist logisch, dass du dich ihnen emotional verbunden fühlst, nach all der Zeit. Doch die Lebensdauer der Menschen ist unbedeutend. Deine Zieheltern und Schwester, jede Person, die du kennst, wird längst zu Staub zerfallen sein, während du weiterhin unbeschwert und voller Kraft auf der Oberfläche wandelst. Zivilisationen werden fallen, neu entstehen und wieder zerbrechen und du siehst ihnen dabei zu. Was glaubst du, welche Leere dich erfüllen wird, wenn alles um dich herum in seiner kümmerlichen Vergänglichkeit vergeht, ohne dass du es festhalten kannst?“

Ben drehte sich schwebend und sah auf die Erde hinab, die sich in ihrer ganzen Schönheit präsentierte.

Der Planet wirkte so friedlich, so voller Energie.

Gleichzeitig wusste Ben um den bevorstehenden atomaren Krieg, den er selbst wahrscheinlich ausgelöst hatte, obwohl er das Gegenteil erreichen wollte. Er erinnerte sich an die Geschichten in der Schule, die belegten, dass die Menschen seit ihrer Existenz immer wieder zu Gewalt und Zerstörung neigten. Sie lernten scheinbar nichts aus ihren Fehlern.

Die Entität näherte sich der Erde. Unzählige Nebelschwaden, voll mit blinkenden Sternen, leuchtenden Blitzen und sich permanent verändernden Farbkonstellationen flossen in Richtung des Planeten. „Willst du immer noch hierbleiben?“

In Bens Kopf herrschte Chaos. Er spürte die Liebe zu Michaela, Ralf und Mira. Gleichzeitig verstand er ansatzweise die Argumente des Wesens, was seine unglaubliche Lebensdauer betraf. Er konnte mit den Menschen weiterleben, aber es wäre nur ein Augenblick für Ben.

Langsam, zäh wie Sirup, kristallisierte sich ein Gedanke in all dem Durcheinander. Er ballte die Fäuste. „Ich möchte weiter auf der Erde bleiben, zumindest so lange, wie meine Eltern und Mira leben. Außerdem habe ich Fehler begangen und ich will sie wiedergutmachen. Bitte, gewähre mir diesen Wunsch.“

Die Entität wandte sich ihm zu. „So sei es. Was ist, wenn du gegen deine Fehler nichts mehr tun kannst?“

Bens Blick wurde kalt. „Dann vernichte ich die Erde persönlich.“

3 Kommentare

  1. Auch diese Geschichte hat mich geflasht. Wenn ich nicht denken würde, dass Axel sich raushält (ausser bei den Bonusgeschichten) würde ich denken, sie ist von ihm. Auch weil Ben so ehrenhaft lieber mit seiner Familie untergeht, sich seiner Verursachung stellt, als als Alien eine wichtige Position zu übernehmen.

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  2. Ergänzend: Thema perfekt getroffen.

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  3. Die Geschichte gefällt mir sehr gut. Das nächste Mal bitte die Orts- und Zeitwechsel klarer beschreiben, z.B. von der Schule zu Ben nach Hause oder von Ben im Bett zu Ben im Wald. Das Thema wurde aber gut getroffen.

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