Eine leichte Entscheidung
„Ich glaube, da sind Aliens im Fernsehen", sagte Richards Vater Klaus aus dem Nebenzimmer. Richard stand von seinem Schreibtisch auf und ging hinüber. Da sein Vater Demenz hatte, war er außergewöhnliche Äußerungen von seinem Vater gewohnt und auch das war nichts, was aus der Rolle fiel.
Sein Vater stand vor dem Fernseher. Auf dem Bildschirm war eine merkwürdige Kombination verschiedener Dinge zu sehen. Richard sah die örtlichen Nachrichten, deren Logo und Schriftzüge kombiniert mit einem Live-Bild wie aus dem Film Independence Day. Ein Himmel voller silberner, ovaler Objekte, die unbeweglich in der Luft standen. Der Sprecher erklärte in einem sachlichen Ton:
„...es kam noch zu keiner Kontaktaufnahme mit den Objekten, die zur gleichen Zeit erschienen sind. Das Militär tauscht sich gerade weltweit aus und versucht auf allen Kanälen einen Kontakt herzustellen. Wir bitten alle Anwohner, das Haus nicht zu verlassen, bis wir mehr Informationen haben."
„Das sind Aliens, Junge, sie kommen uns holen", sagte sein Vater mit erregter Stimme. Stress war überhaupt nicht gut für seinen Vater und seine Symptome wurden dadurch nur schlimmer. Richard legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Nein, Papa, das ist doch nur ein Film. Komm, wir wollten doch Fußball anschauen."
Wie erwartet verlor sein Vater die Konzentration auf die Sache und sprang auf das neue Thema an.
„Ach so, ja, Fußball. Ja, ja, das wollten wir doch zusammen gucken, oder? Auf dem Sportkanal da laufen ja ständig Sachen. Früher, als deine Mutter noch gelebt hat, da hat sie auch immer mitgeschaut, sich aber immer beklagt und dann haben wir umgeschaltet und irgendeinen Krimi-Mist geschaut. Ich hole uns etwas zum Knabbern aus der Küche", sagte er.
Es gab so viele Dinge, die er mit seinem Vater nachholen wollte, vor allem seit beide zusammenlebten, damit Richard sich besser um ihn kümmern konnte. Sie hatten viele Jahre keinen Kontakt gehabt und jetzt hatten sie Zeit, aber Klaus konnte sich an nichts mehr erinnern. Mit der Zeit hatte Richard herausgefunden, dass er am besten Zugang zu seinem Vater bekam, wenn sie zusammen alte Fußballspiele schauten. Irgendetwas daran beruhigte seinen Vater und brachte ihn manchmal sogar wieder in seinen früheren Zustand zurück, wenn auch nur kurz. Während Klaus in der Küche alles zusammensuchte, ging Richard zum Fenster.
Draußen sah er eines der Objekte direkt über ihrem Haus. Die anderen Anwohner standen auch an ihren Fenstern und schauten hinaus. Eine kleine Sonde löste sich von dem Objekt und landete in einem eleganten, schnellen Bogen direkt auf dem Rasen vor Richards Haus. Die Luke öffnete sich und eine Gruppe von fünf Gestalten in Raumanzügen kam heraus und ging auf die Eingangstür zu. Sie trugen keinen Helm und hatten lilafarbene Haut, gelbe Augen und keine Haare auf dem Kopf. Der Rest des Gesichts hatte menschliche Züge. Auch ihre Körperform, die Größe und Gliedmaßen wären als menschlich durchgegangen. Nun wurde Richard bewusst, dass sie direkt auf sein Haus zugingen. Richards Herz begann zu rasen. Das war kein Film. Das war real.
„Junge! Hast du das Bier kalt gestellt? Ich hoffe, du hast kein Kölsch gekauft, das trinke ich auf keinen Fall."
Richard atmete tief durch und zwang sich zur Ruhe. Sein Vater durfte nicht mitbekommen, was draußen vor sich ging.
„Papa, hör mir zu, tu mir einen Gefallen und fang schon mal an. Das Bier ist im Kühlschrank, ich bin gleich wieder da, ich muss kurz weg", sagte er. Er schaltete auf den Sportkanal, wo irgendein Spiel in der zweiten spanischen Liga lief.
„Kommst du auch gleich wieder, Junge? Ich will nicht allein sein. Ich habe mich doch so darauf gefreut, mit dir das Spiel zu schauen."
„Na klar, ich bin gleich wieder da", sagte er, trat vor die Haustür und schloss die Tür hinter sich. Die Gruppe kam auf ihn zu. Richard versuchte die Situation zu erfassen. Ein Kampf schien aussichtslos, aber er musste sie zumindest vom Haus weglocken. Die Gruppe blieb vor ihm stehen und einer von ihnen trat hervor. Er sah identisch aus wie die anderen, bei genauerem Hinsehen waren seine Gesichtskonturen etwas schroffer und sein Raumanzug besaß mehr Verzierungen, so wie die Abzeichen eines Generals. Er war wahrscheinlich der Anführer der Gruppe.
Mit einer klar verständlichen Stimme sagte er: „Mein Name ist Pascal. Wir sind gekommen, um dich zu holen, Lucan. Es wird alles gut. Es tut mir leid, dass wir mit so viel Aufsehen auftreten müssen, aber die Zeit drängt. Ich verlange viel, ich weiß, aber du musst jetzt mitkommen."
„Lucan?" Richards Atem stockte. „Mein Name ist Lucan", sagte Richard zu sich selbst. Dieser Name kam ihm so bekannt vor, als würde er irgendwo in ihm eine lang verschlossene Tür öffnen. Er schaute hoch, zeigte zu dem Raumschiff und fragte: „Da hoch?"
„Ja, zu unserem Raumschiff. Dort können wir alles besser besprechen."
Richard warf einen letzten Blick zu seinem Haus. Durch das Fenster sah er seinen Vater, der friedlich vor dem Fernseher saß und das Spiel schaute. Er bekam überhaupt nichts mit von dem, was hier draußen geschah. Das beruhigte ihn. Er ging vor der Gruppe her und setzte sich mit ihnen in den Gleiter. Es war klar, dass sie nicht zusammen gingen, sondern ihn eskortierten. Er fragte sich, was die Nachbarn dachten, als er mit einer Gruppe von lilafarbenen, menschenähnlichen Aliens in den Raumgleiter stieg. Drinnen gab es weder Kabel noch erkennbare Apparaturen, nur ein paar Sitze. Der Gleiter schloss sich und öffnete sich nach wenigen Momenten wieder. Sie waren bereits an Bord des Raumschiffs.
Der Hangar
Sie betraten einen riesigen Hangar mit vielen Arbeitern, die auf schwebenden Plattformen standen und an verschiedenen blinkenden Armaturen arbeiteten. Alles war sehr sauber und geordnet. Er sah nun auch die Frauen dieser Spezies. Ihre Gesichtskonturen waren weicher als die der Männer.
Sie führten Richard in einen weiteren Raum. Er ging hinein mit Pascal und setzte sich auf einen Stuhl am Ende des Raumes. Pascal zog sich auch einen Stuhl heran und setzte sich Richard gegenüber. Zum ersten Mal sah Richard eine Art Bedauern in den gelben Augen des Außerirdischen.
„Wir wollten dich nicht erschrecken. Ich gebe zu, es ist immer sehr aufwändig, unsere Kuckuckseier zu bergen."
„Kuckuckseier?", fragte Richard.
„Ja, so nennt ihr das doch. Wenn Vögel ihre Kinder in ein fremdes Nest legen. Wir sind die Zivilisation der Valerier. Wir lassen ausgewählte Kinder auf anderen Planeten aufziehen. Somit sind wir in der Lage, neue Kulturen kennenzulernen und unsere eigene ständig zu erweitern. Wir sind eine Spezies, die durch das Universum expandiert und das galaktische Imperium anführt. Niemand kommt uns gleich bei der Beherrschung von Materie und der Stärke unserer Armeen. Andere Spezies in der Galaxie würden uns ehrlicherweise als grausam bezeichnen. Nur haben wir uns durch unsere technische Entwicklung auf sozialer Ebene zurückentwickelt. Das Problem entstand durch ständige Aufstände in unseren Kolonien, weil wir zu gewaltsam mit unserem eigenen Volk umgehen.
Mittlerweile schwächt dies unsere Ressourcen und wir brauchen empathische Anführer. Seitdem setzen wir Anführer ein, welche aus empathischen Kulturen kommen, um diese Aufstände besser zu verstehen und zu kontrollieren.
Da kommen die Menschen ins Spiel. So unterentwickelt sie auch sind, hatten sie zumindest in der Vergangenheit Empathie füreinander. Eine Art von romantischer und naiver Weltsicht auf Themen wie Liebe und Freundschaft. Das bringst du mit. Hinzu kommt, dass deine ursprünglichen Gene von unseren stärksten Anführern stammen. Du bist somit die ideale Führungspersönlichkeit."
„Meine Eltern haben mich doch gezeugt?"
„Sie dachten, dass sie das haben. Wir haben insbesondere Menschen ausgewählt, die, wie würdest du sagen, der Mittelklasse angehören. Die Aufzucht sollte so authentisch und ohne Einfluss wie möglich stattfinden. Wir kamen gerade rechtzeitig, weil wir sehen, wie die Kultur der Menschheit sich zurückgebildet hat. Die Menschen degenerieren und können uns nicht mehr nützlich sein. Es wird daher keinen neuen Zyklus einer Aufzucht unserer Kinder mit dieser jetzigen Zivilisation geben. Und übrigens wirst du dein echtes Gesicht und deine Hautfarbe durch einen kleinen Eingriff zurückerhalten."
„Das bedeutet, das geht schon lange Zeit so?", fragte Richard.
„Oh ja, seit die Menschen auf dieser Erde sind. Nachdem wir hier waren, haben wir die Zivilisationen ausgelöscht, damit sich wieder eine neue bilden kann und wir die neu entstandene Kultur integrieren können. Um diesen Prozess zu beschleunigen, löschen wir die Zivilisationen aus. Die Erde ist erstaunlich, es sind immer wieder neue Zivilisationen entstanden in relativ kurzer Zeit. Azteken, Ägypter, die Kelten. Aus unserer Sicht waren die Atlanter die höchste Stufe der Menschen, uns fast gleichgestellt."
„Das bedeutet, ihr habt Zivilisationen nur in ihrem kulturellen Bereich ausgelöscht und nicht immer alle Menschen auf der Erde?"
„Ja, weil sie davon nichts mitbekommen haben. Wir haben immer darauf geachtet, dass eine solche Auslöschung keine Auswirkung auf die restliche Bevölkerung hat."
„Aber heutzutage, mit den Medien und dem Internet... würde das nicht mehr so funktionieren. Das bedeutet …"
Pascal schaute ihn ernst an.
„Ganz genau."
Die Worte trafen Richard in der Magengegend. Er griff nach der Rückenlehne seines Stuhls.
„Ihr wollt die komplette jetzige Menschheit auslöschen?", hörte Richard sich fragen, als wäre er selbst weit entfernt von diesen Worten.
„Ja. Ich muss dich noch informieren, dass nur das Tribunal diesen Akt verhindern kann. Wenn du das Recht forderst, vor dem Tribunal zu sprechen. Es ist dein Recht, diese Information zu erhalten. Falls dir überhaupt noch etwas an diesen Lebewesen da unten liegt."
„Kann ich meinen Vater mitnehmen?"
„Nein. Dein Vater ist erkrankt und wir sortieren unsere Kranken aus. Wir wollen nicht mit ihnen zusammenleben. Es schwächt uns."
„Ich will mit dem Tribunal reden", sagte Richard.
Das Tribunal
Sie gingen einen langen Flur entlang zu dem Raum, wo das Tribunal stattfand. Richard dachte an seinen Vater, der wahrscheinlich in seinem Lieblingssessel eingeschlafen war, wie er es meistens tat. Pascal blieb stehen und wandte sich Richard zu. Seine Stimme nahm einen härteren Ton an, den Ton eines Kommandanten, eines Mannes, der Kriege erlebt hatte und der klarmachte, dass er keine Zeit hatte für emotionale Unterredungen.
„Hör mir zu. Das Tribunal funktioniert wie ein Gerichtsverfahren, das ihr auf der Erde habt. Du solltest mit Logik argumentieren und weniger mit Emotionen. Du wirst jetzt bereits im Tribunal sehen, dass dir nicht jeder wohlgesonnen ist. Du bist in den Augen mancher Valerier keiner von ihnen und wirst es nie sein. Vor allem Vextar, er wird vor dem Tribunal gegen dich sprechen. Er verachtet die Menschen und ist nicht alleine mit dieser Meinung."
„Warum hilfst du mir? Es könnte dir doch egal sein."
„Es ist mir nicht egal, aber ich will, dass wir ein gutes Verhältnis haben. Weil ich weiß, dass du unserem Volk enorm helfen kannst. Es ist vorgesehen, dass ich in Zukunft auch in einer Kommandoposition tätig sein werde. Deshalb sollten wir eine gute Beziehung direkt zu Beginn aufbauen und ich will von dir lernen."
Die Türen am Ende des Ganges öffneten sich und Richard betrat einen Raum mit einem kreisförmigen Tisch, in dessen Mitte eine durchsichtige Kugel schwebte. An dem Tisch saßen vier Valerier. Am Ende des Tisches saß die Vorsitzende mit einer goldenen Robe. Zu ihrer Rechten saß ein jüngerer Mann in militärischer Uniform und zu ihrer Linken eine weitere Frau in einer Art wissenschaftlichen Robe. Gegenüber saß Vextar in einer schwarzen Robe und er starrte Richard durchdringlich an mit seinen kleinen, gelben Augen.
„Setz dich bitte, Lucan", sagte die Vorsitzende. „Ich bin Vorsitzende Thessia. Heute entscheiden wir über das Schicksal der Menschheit."
Richard setzte sich. Er fühlte sich leer. Alle Personen um ihn herum sprachen über die Auslöschung der gesamten Menschheit, als wäre es eine nebensächliche Angelegenheit. Und für diejenigen, die er versuchen musste vom Gegenteil zu überzeugen, war es das auch.
„Das Tribunal wird nun beginnen", verkündete Thessia. „Gemäß unserer Tradition darf der Neuankömmling sich in einem Tribunal für seine zurückgelassene Zivilisation einsetzen. Ich möchte dazu bemerken, dass es in der Geschichte dieses Tribunals noch nie eine Verschonung gegeben hat."
Sie wandte sich an den Mann in der schwarzen Robe.
„Gegensprecher Vextar wird die Position des Senats vertreten, dass die Menschheit ausgelöscht werden muss. Ankläger Vextar, beginnen Sie mit Ihrer Darstellung."
Vextar aktivierte die Kugel in der Mitte des Tisches und die Erde erschien dort als Hologramm. Dann erschienen Bilder von Kriegen und Umweltzerstörung.
„Euer Ehren, die Indizien sind überwältigend. Die Menschheit ist eine Spezies, die sich durch Gewalt, Gier und Selbstzerstörung definiert. In ihrer kurzen Geschichte haben sie bereits mehrfach an der Schwelle zur Selbstauslöschung gestanden. Sie führen Kriege um Ressourcen, vergiften ihren eigenen Planeten und haben eine primitive Künstliche Intelligenz entwickelt, die sie nicht kontrollieren können."
Die Bilder wechselten zu Statistiken. Millionen von Kriegstoten, Klimadaten, Artensterben.
„Schlimmer noch, ihre Aggressivität und ihr Expansionsdrang machen sie zu einer potenziellen Bedrohung für andere Welten, hätten sie die Technik der Raumfahrt jemals gemeistert. Aber auch hier sind sie bisher kläglich gescheitert, werden aber irgendwann zu einer Bedrohung für alle Spezies in der Galaxis, unseren Berechnungen nach."
„Einspruch", rief Richard. „Vextar stellt Behauptungen auf, ohne sie zu belegen."
„Ich kann sie belegen", sagte Vextar. „Unsere Seher sind in der Lage, die Zukunft zu sehen und zu visualisieren. Wir sind in der Lage, Magie und Technik zu kombinieren."
Der Bildschirm wechselte und man sah von oben auf einen Kreis von verhüllten, valerianischen Frauen mit Händen in Gebetshaltung. Dann erschien ein weiterer flimmernder Bildschirm in der Mitte der Gruppe. Richard sah darin die Menschheit wie in einer Zeitmaschine. Vextar kommentierte alles.
„Nachdem wir die Erde verlassen und die Menschen verschont haben, wurde eine große Instanz in Kraft gesetzt, um die Erde in Zukunft besser zu schützen. Investitionen in KIs und Raumfahrt. Innerhalb eines Jahrhunderts schaffen es die Menschen, die ersten Planeten zu besiedeln, durch die Errungenschaften der KI. Ihre Gier nach Ressourcen und ihre Verschmelzung mit der Technik werden immer größer. Sie werden Opfer ihrer eigenen Technik werden und eine Bedrohung für die gesamte Galaxis."
Vextar setzte sich wieder hin. „Lucan, du hast das Wort", sagte die Vorsitzende.
Richard stand langsam auf. Seine Gedanken blockierten sich gegenseitig. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er keinen Plan, was er sagen sollte.
„Sind wir brutal? Das kann ich nicht bestreiten. Gehen wir fahrlässig mit dem Planeten Erde um? Ja, auch das kann ich nicht bestreiten. Auch wenn diese Bilder sehr erschreckend sind, möchte ich darauf hinweisen, dass solche Voraussagen auch immer abweichen können in der Zukunft. Mir kommt dieses Manöver, die Zukunft der Menschen als unausweichlich heraufzubeschwören, als sehr subjektiv und politisch motiviert vor. Und außerdem, wenn die Menschen wirklich zu einer solchen Bedrohung werden sollten, wäre das nicht ein Grund, ihnen zu helfen, anstatt sie auszulöschen? Ich fordere daher, Verantwortung zu übernehmen, die Menschen am Leben zu lassen, sie über alles zu informieren und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich weiterzuentwickeln."
Richard machte eine Pause und atmete tief durch.
„Da ist etwas, was Vextar übersehen hat. Etwas, was es wert ist, die Menschen im jetzigen Zustand weiterleben zu lassen. Es ist das Prinzip der Hoffnung. Ich bin selbst das beste Beispiel. Ich habe eben erst erfahren, dass ich eigentlich jemand anderes bin, als ich mein Leben lang geglaubt habe. Und nun sollen die Menschen, die ich liebe, umgebracht werden. Ich trete nun voller Hoffnung vor dieses Tribunal und das ermöglicht mir zumindest, alles zu tun, was ich kann, um dies abzuwenden. Das ist eine Errungenschaft der Menschen, die ich von ihnen mitbekommen habe. Diese Chance muss der Menschheit gegeben werden."
Vextar schnaubte verächtlich. Richard setzte sich wieder hin. Er war sich nicht sicher, ob er einen Nerv getroffen hatte. Die Mitglieder des Tribunals verzogen keine Miene. Vextar stand auf.
„Es tut mir leid, dass wir die Zeit des Tribunals verschwendet haben. Es zeichnet sich sehr schnell ab, dass dieses Unterfangen uns nicht weiterbringen wird. Ganz im Gegenteil, das Wissen dieser Kultur ist so weit degeneriert, dass wir nun auf ein kindisches Prinzip anspringen und aus einer überaus emotionalen Bewegung Gnade walten lassen sollen. Wir verschwenden hier gerade nur unsere Zeit."
Der militärisch gekleidete Valerier zur Rechten der Vorsitzenden beugte sich vor.
„Lucan, eine Frage. Wir verstehen das Prinzip der Hoffnung und ihren Wert. Doch wie erklärst du dann die Unfähigkeit der Menschen, grundlegende Probleme wie Krieg, Armut und Umweltzerstörung zu lösen? Es scheint in der Zukunft keine positive Entwicklung zu geben."
Richard stand wieder auf.
„Ich stelle eine Gegenfrage. Wie alt ist die Zivilisation der Valerier?"
„Etwa fünfzigtausend Jahre", antwortete die Frau in der wissenschaftlichen Robe.
„Und wie war Ihre Zivilisation nach nur zehntausend Jahren ihrer Entwicklung? Auch vielleicht auf einem niedrigen Niveau oder einem destruktiven Kurs?"
Richard pokerte. Er hatte keine Ahnung, wie die Geschichte der Valerier verlaufen war. Ob es dunkle Zeiten gegeben hatte, aber er schien einen Nerv getroffen zu haben, weil niemand direkt antwortete. Richard nutzte sein Momentum.
„Ich vermute, nicht sehr verschieden von der unseren. Vextar spricht von Degenerierung, aber woher weiß er, dass dies nicht ein natürlicher Teil der Entwicklung ist? Ich kann die Berechnungen der Seher nicht beurteilen. Diese Informationen von Vextar sollte man trotzdem nicht für die Beurteilung einer solch wichtigen Entscheidung heranziehen. Dafür ist der Sachverhalt zu wichtig. Wir sollten den Menschen mehr Zeit geben."
„Lucan, du argumentierst für Zeit. Aber Zeit ist eine begrenzte Ressource. Wie viel Zeit würdest du der Menschheit geben? Hundert Jahre? Tausend?", fragte die Vorsitzende.
„Die richtige Frage ist nicht, wie viel Zeit, sondern ob die Valerier das Recht haben, diese Zeit überhaupt zu begrenzen und über den Tod zu bestimmen. Ist es überhaupt effizient, eine gesamte Spezies auszulöschen, weil sie nicht schnell genug bestimmte Standards erreicht?"
Vextar sprang auf.
„Das ist philosophisches Geschwätz! Wir haben dieses Recht durch unsere Überlegenheit erworben. Das ist das Gesetz des Universums, der Stärkere überlebt! Die Menschen wenden es selbst an, gegen ihre eigene Natur, gegen schwächere Spezies, gegeneinander."
„Genau!", rief Richard. „Und plötzlich ist die Menschheit nun was? Opfer oder Täter? Ich höre hier nur, dass es so hingebogen wird, wie man es gerade braucht, um das Töten zu rechtfertigen. Es ist kein Wunder, dass die Valerier Kuckuckskinder holen, um von ihnen zu lernen. Kulturell gesehen können die Valerier von den Menschen lernen! Ja, wir sind schwächer. Ja, wir sind weniger entwickelt. Aber heißt das, dass wir keine Chance verdienen?"
„Das ist eine Unverschämtheit", rief Vextar und schlug mit der Faust auf den Tisch.
Die Vorsitzende hob die Hand. „Das Tribunal wird sich zur Beratung zurückziehen."
Die drei Personen erhoben sich und verließen den Raum. Vextar verbeugte sich und verließ den Raum durch eine andere Tür. Richard sank in seinen Stuhl. Die Stille im Raum war erdrückend. Am Ende war er selbst sehr emotional geworden und er hatte die Fassung verloren. Aber er hatte zumindest versucht, alles zu geben. Pascal kam zu ihm hinüber.
„Du hast gut gesprochen. Besser als die meisten Kuckuckskinder vor dir. Egal wie es ausgeht, du hast bereits jetzt einen starken Eindruck hinterlassen."
„Aber nicht stark genug, oder?" Richard blickte zu den leeren Sitzen. „Sie haben noch nie eine Zivilisation verschont."
Pascal schwieg. Die Vorsitzende erschien nun in der Kugel über dem Tisch.
„Das Tribunal hat entschieden."
Richard spürte, wie sein Herz zu rasen begann. Irgendwo, weit unten auf der Erde, saß sein Vater vermutlich immer noch vor dem Fernseher.
„Nach Abwägung beider Argumentationen..." Sie machte eine lange Pause. „...wird die Zivilisation der Menschheit..."
Richard hörte die Worte und fühlte sich benommen, als würde dies alles ganz weit weg passieren. Als hätte er überhaupt nichts damit zu tun und alles war nur ein Traum oder Witz.
„...ausgelöscht werden."
Richard trafen die Worte wie ein vollstreckendes Schafott.
„Die nötigen Vorkehrungen werden umgehend getroffen. Das Tribunal erkennt keinen ausreichenden Mehrwert darin, die Menschheit noch weiter in die Richtung von Verfall und Degenerierung gehen zu lassen. Lucan hat jedoch nichts zu befürchten und genießt somit Sonderrechte. Er wird bei uns bleiben und ein Leben als Botschafter beginnen. Das Tribunal ist somit beendet."
Eine leichte Entscheidung
Richard saß wie betäubt da. Pascal kam zu ihm.
„Mach dir keine Vorwürfe. Du wirst ein großer Anführer werden. Du hast beeindruckend gesprochen. Ich will von dir lernen. Was ist am wichtigsten, um ein verantwortungsvoller Anführer zu werden und die richtigen Entscheidungen zu treffen?"
Richard dachte kurz nach. Wenn er schon nicht die Menschheit retten konnte, dann sollte seine Antwort wenigstens ehrlich sein.
„Ich weiß nicht, ob ich eine passende Antwort habe für dich. Es ist vielleicht sogar die falsche und eine einfältige Antwort. Die falscheste Entscheidung ist es, keine Entscheidung zu treffen."
Pascal nickte.
„Ist der Prozess der Auslöschung schon eingeleitet?", fragte Richard.
„Ja, die Vorbereitungen laufen bereits. Mach dir keine Sorgen, wir benutzen eine Strahlung, welche zum direkten und schmerzfreien Tod führt. Es wird ganz hell und dann ist es geschehen."
Richard nickte.
„Okay, ich würde gerne direkt mit der Arbeit beginnen und mich mit der Technologie im Hangar vertraut machen. Habe ich Zugriffsrechte auf alle Abteilungen?"
„Aber natürlich, du bist jetzt einer von uns. Du hast Zugriff zu allen Sicherheitsbereichen. Falls ich dir bei etwas helfen kann."
„Nein, schon gut. Lass mich erstmal selbst zurechtfinden. Ich brauche etwas Zeit für mich, um wieder auf andere Gedanken zu kommen."
Richard ging durch die Gänge zurück zum Hangar. Er stieg in einen Gleiter, als gerade niemand in seine Richtung schaute. Innerhalb von wenigen Sekunden landete er vor seinem Haus. Er ging hinein in das Haus und fand seinen Vater in der Küche.
„Was machst du da, Papa?"
„Junge, die Mikrowelle ist kaputt. Sie ist kaputt! Das Essen ist kalt."
Er führte seinen Vater an den Schultern zum Sessel und setzte ihn hin.
„Ich bringe es dir sofort."
„Mach schnell, wir wollten doch ein Spiel zusammen gucken. Wo warst du denn die ganze Zeit?"
„Ach, bei einem Jobangebot, aber ich habe abgelehnt."
Draußen wurde es langsam heller, aber Richard schätzte, dass sie noch ein paar Momente hatten. Er brachte seinem Vater das Essen und machte beiden ein Bier auf. Richard setzte sich auf den Sessel neben ihm.
„Ach, Junge, jeder hat mal einen schlechten Tag. Ich bin mir sicher, du hast wie immer alles gegeben. Schön, dass du hier bist."
Sie stießen an mit dem Bier und Richard nahm einen tiefen Schluck. Das Bier war eiskalt. Draußen wurde das Licht immer heller. Er überlegte sich, etwas sehr Bedeutendes zu sagen, ließ es dann aber. Er hatte sich entschieden und blickte nicht mehr zurück.
„Hey Papa, ich bin froh, hier zu sein", sagte er.
„Du hast die richtige Entscheidung getroffen, Junge", sagte sein Vater und lächelte ihn an. Der zweite Schluck Bier war noch besser. Alles wurde hell.
Wow!!!! Wie toll ist das denn. Eine SF-Geschichte, wo ich weinen muss? Das hatte ich noch nie. Niemals nie.
AntwortenLöschenEinen Minuspunkt von der Jury wird es allerdings geben, weil der Protagonist KÖLSCH ablehnt. Hihi. Ansonsten bin ich schwer geflasht.
Die Geschichte gefällt mir. Thema gut getroffen.
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