DACSF2025_09

DACSF2025_09

Hinter der Maske

Seine Freunde holten ihn ab. Er hatte nur noch wenige. Keine in dieser Stadt. Sie wollten in den Irish Pub in der Altstadt. Eine interessante Wahl. Hatte er doch viele Jahre im Stockwerk darüber gewohnt. Mit ihr. Lara. Lange schwarze Haare. Leuchtend blaue Augen. Stupsnase. Grübchen um den Mund. Drei kleine Sommersprossen auf der Nase. Zwei dunkle. Schwarz schon fast. Die kleinste Sprosse, hellbraun. Wespentaille. Ellenlange Beine. Barbie-Puppe-Busen. Lieblingsfarbe schwarz. Schwarz, die überlangen Fingernägel. Schwarz, der Lippenstift. Weiß, die geschminkten Wangen.

Das Atmen fällt ihm schwer, sein Herz schlägt dumpf und schnell. Die Augen wandern zu den Fenstern im ersten Stock, hinter denen sie einst gelebt hatten. Sein Blick streift über die Namen auf den Klingeltasten. Der seine steht immer noch da. Ganz unten. Auf einem kleinen Stück verblasstem Papier. Er starrt auf die Buchstaben. So lange, bis sie vor seinen Augen verschwimmen. Er kann sich noch genau daran erinnern, wie er sie geschrieben hatte. Damals. Mit königsblauer Tinte. Sie hatten gestritten, damals. Lara wollte die Schrift in schwarz. Ihr Name ist durchgestrichen. Mit einem roten Stift. Rot wie Blut. Vom L bis zum A. Ein gerader Strich. Wie mit dem Lineal gezogen. Lara hatte ihren Namen in Großbuchstaben geschrieben. Keinen Nachnamen dazugefügt.

„Leck mich am Arsch!

„Es ist vorbei!

„Vorbei!

„Vorbei. Vorbei!“

Die Freunde rufen nach ihm. Winken heftig. Stehen schon auf der letzten Stufe zum Eingang des Pubs. Die Tür ist schmutzig, fällt ihm auf. Ebenso die Fensterscheiben. Früher hätte er das nicht bemerkt. Laura hatte nie die Fenster geputzt. Schon gar nicht die Haustür. Hatte Angst um ihre Fingernägel. Die Tür zum Pub ist frisch gestrichen. Er kann die Malerfarbe riechen. „Eine schwarze Tür.“  

„Komm schon“, ruft einer der Freunde. Er weiß nicht wer gerufen hat, folgt den Freunden, die schon lange keine Freunde mehr sind, hinterher.

Der fettige Geruch von Fish & Chips, vermischt mit Zigarettenrauch, umhüllt ihn. Drei junge Frauen stehen an der Bar. Alle drei tragen sie Miniröcke. In schwarz. High-Heels, in schwarz. Knallenge Oberteile. In weißer Farbe. Sie haben die gleiche Haarfarbe. Rabenschwarz. Mit einem Blaustich. Sie haben aufgespritzte Lippen wie Entenschnäbel. Künstliche Wimpern. Viel zu viel Schminke im Gesicht. Zu viel Schmuck. Sie lachen überlaut. Und viel zu viel. Früher hatten ihn Lesben nicht gestört. Warum auch? Er drückt sich an den knutschenden Mädchen vorbei. Sie riechen nach Amber.

„Pott-Walfisch“, murmelt er vor sich hin.

„Den Lesben grauts vor nichts.“

Er bestellt sich ein Bier.

Dann noch eines.

Und noch eins.

Das Bier zeigt keine Wirkung. Er bestellt sich einen Schnaps. Dann noch einen.

Und noch einen.

Die Gespräche seiner Freunde rauschen an ihm vorbei. Wellenartig. Er hat Schwierigkeiten mit dem Hören. Kann nicht einordnen woher ein Geräusch kommt. Hatte nach der Trennung von Lara einen Hörsturz erlitten.

Dann noch einen.

Und noch einen.

Insgesamt sieben.

Er leidet seither unter heftigem Tinnitus. Beidseitig. Schlafstörungen. Ist in psychischer Behandlung. Was aber niemand weiß. Er schämt sich dafür. Zeigt sein Leben in einer Blase. Gibt sich fröhlich bei der Arbeit. Hasst aber die Kolleginnen. Insbesondere die mit den schwarzen langen Haaren. Den langen Fingernägeln. Den geschminkten Gesichtern. Dem überflüssigen Schmuck. Es sind zwei. Susanne, eine gelangweilte Hausfrau. Arbeitet nur drei Stunden täglich, ist aber ständig krankgeschrieben. Und er muss ihre Arbeit mitmachen. Und Petra. Alleinerziehend. Muss pünktlich Feierabend machen. Weil klein Manuel von der Kita abgeholt werden muss.

„Was kriegt die Schlampe auch ein Kind! Ich habe Karnickel. Mache ich da früher Feierabend, um mit den Häschen zu spielen?“

Seine Freunde brechen auf. Er bleibt noch. Bestellt sich noch ein Bier.

Noch einen Korn.

Noch einen Korn.

Danach eine Tasse Kaffee.

Und noch eine Tasse Kaffee.

Er zwängt sich durch die Menschen. Muss aufs Klo. Da sieht er sie.

Schattenhaft.

Sie steht an der Bar, hält ein Glas in der linken, in der rechten Hand eine Zigarette. Sie streicht sich die Haare aus dem Gesicht. Mit der linken Hand über die rechte Wange, über die Stirn, über den Hinterkopf. Ihr heiseres Lachen streift seine Ohren. Was macht Lara bei den Lesben?

Er reibt sich mit dem Handrücken über die Augen. Und er sieht sie nicht mehr. Die Stelle an der Bar, an dem Lara eben noch gestanden hatte, ist leer. In diesem Moment beschließt er, diese Stadt zu verlassen.

Er räumt sein Büro. Will nicht mehr arbeiten. Nicht hier, nicht in dieser Stadt. Viele persönliche Dinge sind es nicht, die er mitnimmt. Nur das Bild auf dem Schreibtisch. Lara. Wie sie lacht und die Haarsträhne aus ihrem Gesicht streift. Mit der rechten Hand. In der linken hält sie Puschel, ihr Lieblings-Häschen. Er hatte ihr Puschel geschenkt. Damals. In dem magischen Sommer. Als sie zusammengezogen waren. In die Wohnung über dem Pub. Mit Blick auf die Heidelberger Brücke. Wo jeden Tag Ströme von Touristen vorbeigelaufen sind. Es hatte ihm gefallen, Menschen zu beobachten.

Vorbei!

Vorbei!!

Vorbei!!!

Er kehrt nach Mainz-Bretzenheim zurück. In die Stadt, in der er geboren wurde, in die Stadt, wo es singt und lacht. Zur Faschingszeit jedenfalls. Den Kontakt zu seinen Freunden hat er endgültig abgebrochen. Das Handy bleibt ausgeschaltet. Ein Festnetz gibt es nicht. Zum letzten Mal setzt er sich auf die Bank an der Neckarwiese in unmittelbarer Nähe zur Römerbrücke. Dort hat er oft gesessen. Mit Lara.

Vorbei!

Vorbei!!

Vorbei!!!

Er betrachtet die Ritzung im Baumholz der Buche. Als sie ihre Namen eingeritzt hatten, waren die Buchstaben in seiner Bauchhöhe. Sie sind größer geworden, dicker, sind jetzt in Brusthöhe. Um die Namen herum ein Herz. Er kann sich noch genau daran erinnern, wie sie auf dem Boden gekniet und die Namen eingeritzt hatten. Damals. Sie hatten viel gelacht dabei. Viel geküsst. Sich auf dem Boden gewälzt. Beinahe noch mehr gemacht.

Das Drachenboot des Wassersportclubs Heidelberg-Neuenheim gleitet an ihm vorbei. Die Trommlerin am Bug winkt ihm lachend zu. Er schaut dem Drachenboot mit den fröhlichen Frauen hinterher, schlägt mit der flachen Hand auf den Baum ein. Immer wieder.

„Scheißweiber!

Gottverdammte Scheißweiber!

Lesben!

Huren!“

Die Amsel im Wipfel des Birkenbaums flattert erschreckt davon.

Er wird bei seiner Mutter wohnen. In dem alten Haus, das er nie gemocht hat. Geerbt von Oma Margarethe. Die ihm nie eine Oma war. Nie mit ihm gespielt hatte. Nie Socken für ihn gestrickt hatte. Oder Mützen. Oder Schals. Oder Handschuhe. Oder Pullover. So wie die anderen Omas. Omas müssen doch Socken und Handschuhe und Schals und Pullis und Mützen für die Enkelkinder stricken und Kuchen backen oder? Er mag den dörflichen Charakter von Bretzenheim nicht, hasst es, wenn er an den Fenstern mit den zitternden Gardinenscheiben vorbeilaufen muss, fühlt die unsichtbaren Blicke wie Feuer in seinem Nacken brennen, fühlt, wie sie ihm hinterher starren. Er mag sie nicht, diese spießbürgerlichen Menschen, es gibt modernere Gegenden wie diese. Er hat noch nie hierher gepasst. Kam sich immer fremd vor. Wie in einer anderen Welt. Er wollte schon immer in der Anonymität einer Großstadt leben. In New York oder in Rom vielleicht. In San Francisco oder in Madrid. Auch Paris hätte ihm gefallen. Oder Barcelona. Hätte er ein anderes Elternhaus gehabt, Eltern mit Bildung. Eltern mit Macht. Eltern mit Geld, so wäre er schon lange weggewesen, nicht nur bis Heidelberg gekommen. Von den Kleingeistern in dieser Stadt, wo sie Spundekäs, Worscht un Weck essen, Woi trinke, hatte er schon lange die Nase voll.

„Diese Hinterwäldler!“

Er ist wütend, fühlt sich vom Leben betrogen. Seine Psychologin spricht von einem frühkindlichen Trauma mit lebenslanger Wirkung. Die Mutter hatte sich vom Vater getrennt. Obwohl sie ewige Treue geschworen hatte. In guten wie in schlechten Zeiten. Er traut der Mutter nicht mehr. Hat den Verdacht, dass sein Vater gar nicht sein leiblicher Vater ist. Er, ein Kuckuckskind?

Er schreibt Bewerbungen, es kommt auch zu einem Vorstellungstermin. Aber da saß Sie hinter dem Schreibtisch im Vorzimmer. Lara. Die rabenschwarzen Haare, jetzt mit einem Blaustich, zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Länger die Haare. Fast bis zum Po. Sie hält den Telefonhörer in der Hand, lacht heiser, erkennt ihn nicht, ihn, dem sie einst ewige Liebe geschworen hatte. Auf ihrem Schreibtisch stehen Fotos. Viele. Von Kindern. Von Häusern und von Schlössern. Sie wollte einmal Architektin werden. Er betrachtet die Fotos. Seine Blicke wandern über ihren gewölbten Bauch und er ergreift die Flucht, noch ehe sie ein Wort miteinander gewechselt haben. Er igelt sich ein, verbringt die Tage im Bett. Bei Einbruch der Dunkelheit fährt er mit dem Bus nach Mainz an den Hauptbahnhof. Er stellt sich auf einen der Bahnsteige, beobachtet das Kommen und Gehen der Reisenden. Aber das Beobachten von Menschen gefällt ihm nicht mehr.

So viele allein reisende Frauen.

So viele Kinder.

So viel Gepäck.

Die Bahnhofsmission ist in Einsatz. Ehrenamtliche Helfer hieven Kinderwägen in und aus den Zügen. Sie verteilen Getränke. Keinen Alkohol. Nur Wasser und Tee. Alles kostenlos.

So laut.

So schmutzig.

So viele Frauen.

So viele Kinder.

Es ist nicht seine Welt. Aber der Tag ist lang. Und jedem langen Tag folgt eine lange Nacht. Quälende Stunden. Mit zu viel Kopfkino. Morgen fängt der Fasching an.

Die Hinterwälder saufen, als würde es kein Morgen mehr geben.

Wohl in der Hoffnung, ihren Verstand zu wecken. Er ist froh, wenn dieses närrische Treiben ein Ende hat, er mag keine fröhlichen Menschen. Er hat sich als Rabe verkleidet, läuft am Ende des Umzugs mit, verteilt Bretzeln an die Kinder, stößt den Müttern wie unabsichtlich mit dem Rabenschnabel in die Brüste, ergötzt sich an den schmerzhaften Aufschreien. Er hält wie zur Entschuldigung den Kopf schief, hebt die schwarzen Plüscharme hoch und lässt sie in kleinen schnellen Bewegungen auf seine Rippen fallen, krächzt: „Rab, rab.“

Funkenmariechen schwingen ihre Beine so hoch in die Luft, dass er ihre Höschen sehen kann. Er wirft den ‚Nutten’ Honig-Bonbons zwischen die Beine: „klong, klong.“

Rosenmontag. Allgemeine Zeitung. Rhein Main Presse.

Eine unangenehme Überraschung erlebte Sarah S., als sie ihre Haustür in der Hinkelstein-Straße aufschloss. Sie sah auf offene Schubladen und Schranktüren. Ihre Unterwäsche war in Streifen geschnitten und in der gesamten Wohnung verteilt. Eine Nachbarin will einen davonlaufenden Mann in einem Rabenkostüm gesehen haben. Die Polizei sucht Zeugen.

Faschingsdienstag. Allgemeine Zeitung. Rhein Main Presse.

Im Holunderweg hat sich ein Unbekannter über die Terrassentür Zugang zu der Wohnung der Stadträtin Julia K. verschafft. Der schwarz bekleidete Mann gab nach Aussagen eines Passanten eigenartige Geräusche von sich. Es soll Kuckuck. Kuckuck. Kuckuck gekrächzt haben.

4 Kommentare

  1. Gute Geschichte, aber irgendwie fehlt der Schluss, eine Auflösung, eine Schlusspointe. Auch die Aufgabe des Wettbewerbs wurde nicht umgesetzt. Mir persönlich gefällt der Schreibstil mit kurzen, unvollständigen Sätz Nicht so, aber das ist meine Meinung. ☺️

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Der Schreibstil war für mich okay, aber der Schluss ist echt unbefriedigend.

      Löschen
  2. Ich sehe da irgendwie nicht den Zusammenhang zur Ausschreibung

    AntwortenLöschen
  3. Ich war am Anfang schockverliebt in die Story, sie zog mich richtig rein, ist auch fehlerlos. Aber dann kam es zu vielen Ungreimtheiten. Sei es der 7-fache Hörsturz, die Schwerhörigkeit, die niemand mitbekommt, nicht mal seine Freunde, obwohl ER sich fröhlich gibt.
    Der Schluss ist eine völlige Kehrtwendung, verstörend und sogar eklig. Wer nun das Kukuckskind ist, wurde mir auch nicht klar. Könnte auch Lara sein. Schade, am Anfang dachte ich, das wird mein Favorit.
    Schön allerdings, daß mit der strickenden Oma. Meine strickte mir auch Wollsocken fürs Bett. Sie starb, als ich fünf Jahre alt war. Schlafsocken trage ich noch immer. Die soeben aufgekeimte Erinnerung war schön.

    AntwortenLöschen

نموذج الاتصال