Lauerjäger
Prolog
Man konnte den Eindruck bekommen, dass die kleine Spinne, die in der Ecke des staubigen Kellerfensters hing, längst tot sei. Schon seit mehreren Tagen – wenn nicht gar Wochen – hing sie dort einfach nur regungslos und zusammengekrümmt da. Ein leichter Windstoß hätte wohl genügt, um sie samt ihrer Behausung für immer zu vertreiben.
Diesem Trugschluss unterlag auch die neugierige Mücke, die sich unvorsichtigerweise dem Netz näherte – womöglich da sie in der Ecke etwas essbares vermutete – und sich schließlich darin verhedderte. Ruckartig erwachte die kleine Spinne zum Leben und schlug blitzschnell zu. Ihre Beute hatte nicht den Hauch einer Chance.
Montag
Angewidert betrachtete August den Auswuchs, in den er eben getreten war. Grünlicher Schleim klebte an seinen Schuhen, der bis hoch zu seinen Knien gespritzt war. Er wollte eben eine Heckenschere für seinen Vater aus dem kleinen Gartenschuppen holen. Nun stand er jedoch vor der Tür und blickte ungläubig in das obskure, krustige Gebilde, von der Größe einer Wassermelone, welches sich vor ihm auf dem Rasen befand.
Im ersten Moment dachte er, dass es sich hierbei womöglich um einen zu groß geratenen Pilz handeln könnte – wie beispielsweise um einen aufgedunsenen Kartoffelbovisten –, aber bei näherer Betrachtung erinnerte es ihn eher an einen riesigen Insektenkokon.
Ob diese Erscheinung womöglich auch mit den seltsamen Ereignissen der letzten Tage zusammenhing? August dachte an den sonderbaren, grünen Regenschauer, der gestern Nachmittag über ihrer Stadt niedergegangen war. Ob dieser für eine Art Riesenwuchs gesorgt haben könnte?
Mit einer Mischung aus Ekel und Faszination beugte sich August herab und fing an mit einem kleinen Zweig vorsichtig in dem kokonartigen Gespinst herumzustochern. Ob im Inneren wohl Larven oder andere Weichtiere wimmelten oder sonst irgendeine Abartigkeit? Dergleichen konnte er nicht entdecken, doch stattdessen begann der Auswuchs einfach zu zerfließen. Große Mengen eines grünen Sekrets quollen aus dem skurrilen Etwas hervor und benetzten Augusts Hände.
Es war ein fast hypnotisch anmutendes Schauspiel und August kniete mit geöffnetem Mund wie gebannt davor.
Ein komplett absurder Gedanke schoss plötzlich in seinen Kopf. Das sieht irgendwie lecker aus. Im gleichen Moment war August erschrocken, ob dieses verrückten Einfalls. Es begann ihn zu würgen und gleichzeitig gab es einen Teil in ihm, der plötzlich unglaublichen Heißhunger auf diese Unaussprechlichkeit hatte. Unbewusst begann er an seinen Fingern zu lecken. Und ehe er sich es versah, hing sein Kopf tief im Rasen und er fraß und schlürfte, wie vom Fieberwahn gepackt, den grünen Dotter gierig auf.
Erst als er alles restlos aufgeleckt hatte, rappelte sich August schließlich auf. Was tat er hier? Was zur Hölle war da eben in ihn gefahren? Gedankenfetzen schossen in seinen Kopf. Er hatte das nicht zum ersten Mal getan. Bereits früher hatte er von dem grünen Gelee gegessen. Viele Male sogar.
In seinem Inneren geriet etwas ins Wanken und Grundfesten, an die er bis jetzt immer geglaubt hatte, begannen bedrohlich zu wackeln. Doch bevor die Panik in seinem Kopf die Oberhand gewann, setzte nun auch wieder schleichend – wie bei sämtlichen Malen zuvor – das Vergessen ein.
Kurz darauf saß August im Gras und überlegte sich, was er hier eigentlich machte. Ach ja richtig, er wollte die Heckenschere für seinen Vater holen. Er betrat den Schuppen und entnahm das gewünschte Objekt. Für einen Moment wunderte er sich, warum seine Hände ein bisschen klebrig waren, verschwendete aber keinen weiteren Gedanken an diesen Umstand, und wischte seine Handflächen einfach an der Hose ab.
Dienstag
Die Fernsehnachrichten liefen im Hintergrund während August und seine ältere Schwester Anna auf dem Sofa saßen. Die seltsamen Anomalien, die vor rund einer Woche an verschiedensten Orten auf der Welt erstmalig auftraten, waren selbstverständlich immer noch das Thema Nummer eins. Im Moment sah man, wie ein Journalist einen Physiker interviewte, der müde und ratlos wirkte.
„Wie kann das nur sein, dass sich von einem Tag auf den anderen alles ändert?“, murmelte August vor sich hin. „Das, was gerade passiert; die völlig absurden Wetterphänomene, die seltsamen, glibberigen Gebilde, die überall auftauchen, und die komplett gestörten Gezeiten, das alles passt doch überhaupt nicht zu dem, was wir jahrelang in der Schule gelernt haben.“ Nach einer Pause fügte er hinzu: „So etwas dürfte es doch gar nicht geben.“
Seine Schwester, die bemerkte wie ihr Bruder vor sich hin grübelte, drehte sich zu ihm um.
„Kennst du das Truthahn-Paradox?“
August schüttelte den Kopf und konnte nicht direkt verstehen, worauf sie hinauswollte (stattdessen empfand er Hunger bei der Erwähnung des Wortes „Truthahn“). Anna begann zu erklären.
„Man kann aus der Vergangenheit nicht zwingend die Zukunft ableiten. Stell dir einen Truthahn in Amerika vor. Dieser wird jeden Tag vom Bauer gefüttert. Er schließt daraus: Der Bauer ist mein Freund, denn er gibt mit ja jeden Tag zu essen. Eines Tages kommt jedoch Thanksgiving und der Truthahn landet auf dem Teller. Die Einschätzung des Truthahns hat sich also als grundfalsch erwiesen, obwohl die Beobachtungen der Vergangenheit eigentlich perfekt zu seiner ursprünglichen Hypothese gepasst haben.“
Das gab August zu denken.
Wäre er eine Figur in einem Computerspiel, so wäre er gewissen Regeln in der Spielewelt unterworfen. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Programmierer beschließen würde, diese Regeln spontan zu ändern. Und dies könnte jederzeit geschehen. Wäre es also tatsächlich möglich, dass sich, von einem Tag auf dem anderen, alle Regeln im Universum plötzlich änderten? Könnte, wo er Ordnung vermutete, letztendlich nur Chaos sein?
Ein Schauder lief über seinen Rücken.
Mittwoch
Der Tisch auf der kleinen Terrasse war reichlich gedeckt. Während Augusts Vater am Grill stand, saß der Sohn selbst in einem Gartenstuhl und blätterte in einer Zeitschrift. Nach all den verstörenden Nachrichten der letzten Tage, sehnte sich die Familie nach etwas Ruhe und Konstanz, weshalb sie beschlossen hatten ein kleines Barbecue zu veranstalten.
August empfand großen Hunger. Tatsächlich hatte er dieses Gefühl schon seit einigen Tagen und Wochen, aber heute war es besonders ausgeprägt. Womöglich stand er kurz vor einer weiteren Wachstumsphase, überlegte sich der 17-jährige Junge, der für sein Alter – obwohl ziemlich dünn – schon sehr groß war.
Leider dauerte es noch eine Weile, bis das Grillgut endlich fertig war und August schielte bereits gierig hinüber zu den Salaten auf dem Tisch, aber er wagte es nicht sich vorher schon daran zu vergreifen.
Maikäfer schwirrten in der Abendsonne über die Terrasse. Vor kurzem hatte August die faszinierende Tatsache erfahren, dass die Engerlinge der Käfer teilweise mehrere Jahre im Boden verbrachten, bevor sie ihre Metamorphose vollständig durchlaufen hatten. Die geflügelten Maikäfer selbst leben jedoch nur etwa einen Monat. Eine Zeit die sie für die Paarung nutzen mussten.
Es ist erstaunlich, dachte sich August. Eigentlich sind diese geflügelten Käfer lediglich ein Vehikel, das die Insekten für ihre Vermehrung benötigen, und ihre – womöglich – wahre Form, nämlich die der Larve, lebt die ganze Zeit versteckt und unerkannt im Waldboden.
Schließlich wurde endlich aufgetischt. Trotz des schwülen Wetters und der Hitze aß August unglaublich viel. Er schaufelte Unmengen von Kartoffelsalat, Würstchen und Grillfleisch in sich hinein und empfand auch nach seinem dritten Teller dennoch keine Sättigung. Seine Schwester Anna warf ihm vor wie ein Schwein zu essen. Seine beiden Eltern waren zurückhaltender in ihrer Wortwahl doch auch sie wunderten sich, ob seines unbändigen Appetits.
Nachdem August schließlich einen vollbeladenen vierten Teller verputzt hatte, überfiel ihn auf einmal eine bleierne Müdigkeit und er fühlte den starken Drang sich in sein Bett zu legen.
Unruhige Träume plagten den Jungen in der Nacht.
Am nächsten Morgen war er von einem riesigen Gespinst umhüllt.
Donnerstag
Augusts Mutter war die erste, die ihren Sohn so verpuppt in seinem Bett vorfand. Panisch versuchte sie den Jungen aus dem Kokon zu befreien, aber es gelang ihr nicht zu ihm durchzudringen. Unter Tränen zog und zerrte sie wieder und immer wieder an den dicken, weißen Fäden, aber ihre Bemühungen waren vergeblich – zu robust war das klebrige Konstrukt, in welches August eingewickelt war.
Leider bemerkte sie zu spät, dass das Gespinst durchzogen war von giftigen Nesseln. Nesseln, deren tödliches Gift erst zeitversetzt wirkte. Ohne diese Eigenschaft wären Anna und ihr Vater womöglich – zumindest in der kurzen Frist – verschont geblieben. Denn dann hätten sie direkt bemerkt, wie Augusts Mutter nach der Berührung zunächst in einem Zustand der Lähmung und anschließend in ein starres Koma verfallen war und hätten aufgrund dieser Beobachtung selbst Abstand von dem weißen Kokon genommen. Da dieser Effekt jedoch erst zwei Stunden später auftrat, als die beiden schon längst versucht hatten den Jungen ebenfalls aus dem Gespinst zu befreien, waren sie verdammt dazu das gleiche Schicksal zu erleiden wie die Mutter des Jungen.
Wie im Internet und allen sonstigen Medien zu lesen war, trat dieses Phänomen auf der ganzen Welt tausendfach auf.
Freitag
Der Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung ging schneller vonstatten als es die meisten Menschen für möglich gehalten hätten. Die alte Redensart, dass zwischen Ordnung und Chaos nur drei Mahlzeiten liegen, bewahrheitete sich in erschreckendem Ausmaß.
In allen Teilen der Welt geschah es, dass junge Männer und Frauen – meist zwischen 16 und 19 Jahren – sich buchstäblich über Nacht in Gespinste verpuppten.
Als man bemerkte, dass die Berührung dieser Kokons nach kurzer Zeit tödlich verlief, versuchte man den weißen Geschwülsten mit Feuer zu Leibe zu rücken. Auch das sorgte bereits für gewaltige Unruhe und wilde Proteste, da viele Eltern, Geschwister und sonstige Angehörige, nicht zulassen wollten, dass ihren Liebsten im Kokon etwas geschah. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Nicht nur, dass das Feuer die Hüllen nicht beschädigen konnte, obendrein wurde dadurch der Ausstoß todbringender Sporen angeregt. Diese tückischen Sporen riefen innerhalb von kürzester Zeit Mutationen bei den Menschen hervor. Zunächst fielen den Infizierten sämtliche Zähne aus, dann verengten sich die Münder der Betroffenen und schließlich verschlossen sie sich ganz, sodass es so aussah, als hätten sie dort niemals eine Öffnung im Gesicht gehabt. Ohne externe Hilfe war es den Menschen also nicht mehr möglich Wasser und Nahrung aufzunehmen. Verzweifelte, selbstverletzende Experimente waren die Folge, die allerdings meist keinen großen Nutzen hatten. Und da sich die Sporen in Windeseile über die Luft verbreiteten, waren bald zu viele Menschen gleichzeitig davon betroffen, um die soziale Ordnung auch nur ansatzweise aufrechtzuerhalten.
Andere Lebewesen waren von den schrecklichen Auswirkungen dieser Sporen kurioserweise überhaupt nicht betroffen – abgesehen von einigen Säugetieren, die dem Homo Sapiens genetisch besonders ähnlich waren, wie beispielsweise Primaten. Diese zeigten geringfügige Symptome, aber bei weitem nicht in dem riesigen Ausmaß, in dem die Menschen davon betroffen waren.
Während sich allerorten Tiere in der der Nähe menschlicher Behausungen ob des plötzlichen Aufruhrs wunderten, zerbrach die Gesellschaft der Menschen Stunde um Stunde und versank in heilloser Anarchie. Es zeigte sich wie fragil dieses hochmoderne – scheinbar robuste – System in Wirklichkeit war.
Die Zivilisation hatte versagt.
Samstag
Es ist kurz vor Mitternacht. Die Schale des Mondes bebt und zittert und zerbricht schließlich wie ein gigantisches Ei. Aus dem Inneren des einstigen Erdtrabanten strömt ein gewaltiger Schwarm geflügelter Wesen hervor, die entfernt an riesige Heuschrecken erinnern. Schon seit unzähligen Jahren, länger als es der menschliche Verstand begreifen kann, haben die geflügelten Eroberer dort in ihrer sicheren Warte gelauert, die die Menschen seit jeher als „Mond“ bezeichnet haben. Mit atemberaubender Geschwindigkeit bewegen sie sich in Richtung Erde und stürzen dort schließlich vom Himmel herab. Ihr Ziel ist klar. Sie wollen ihre frisch geschlüpfte Brut mitnehmen.
Schon vor etwa 12000 Jahren hatten sie ihre winzigen Larven auf der Erde ausgesetzt. Ein Stadium, in dem diese fast diese gesamte Zeit verblieben waren und unbemerkt im Boden lauerten. Erst in den letzten 15 – 20 Jahren begannen sie als Parasiten menschliche Frauen zu befallen, um von selbigen schließlich als scheinbarer Mensch geboren zu werden. In dieser Phase war es ihre Aufgabe möglichst viel Nahrung aufnehmen, um zu wachsen.
Während die geflügelten Wesen in ihrem Erwachsenenstadium kaum Nahrung benötigten, brauchten ihre Larven – insbesondere kurz vor der Verpuppung – ein vergleichsweise gigantisches Ausmaß an Futter. Trotz ihrer weit fortgeschrittenen Technologie gab es in der Welt der geflügelten Eroberer kein eigenes Nahrungsangebot, das groß genug gewesen wäre ihre nimmersatten Larven zu ernähren. Und so waren sie gezwungen rastlos durchs Universum zu wandern, immer auf der Suche nach einer geeigneten Spezies, der sie ihren Nachwuchs unterschieben konnten. War schließlich eine passende Lebensform gefunden, begannen sie diese zu domestizieren, um sie gezielt, während der – aus menschlicher Sicht – langen Phase der Entwicklung ihrer Brut, nach ihren Bedürfnissen zu formen. Für die Wirtsspezies war dies mittelfristig sogar mit Vorteilen verbunden, aber letztlich war sie von Anfang an verdammt – so wie es bei allen Tieren in Gefangenschaft der Fall ist.
Die finale Phase der Verpuppung schließlich musste genau koordiniert werden und perfekt synchron verlaufen. Dies konnte von den geflügelten Wesen erreicht werden, indem sie in den Wochen zuvor zielgerichtet eine unsichtbare Strahlung Richtung Erde schickten, die neben dem eigentlichen Ziel – nämlich die Verpuppung anzuregen und spezielles Wachstumsfutter bereitzustellen – eine ganze Reihe anderer Auswirkungen hatte. Dennoch war dieses Zeitfenster der Anomalien zu kurz für die Menschen, um wirksam darauf reagieren zu können. Und das war natürlich so geplant.
Und so schwirren die Eroberer nun über die Erde und schnappen sich ihren Nachwuchs. Gegenwehr haben die geflügelten Wesen nicht zu befürchten. Die Menschen sind viel zu sehr damit beschäftigt irgendwie zu überleben. Ein Vorhaben, das zum Scheitern verurteilt ist.
Das Kuckucksnest, einst Erde genannt, geht nun wieder in den Besitz der wilden Tiere über.
Die Geschichte hat mir richtig gut gefallen. Diese Lovecraft-eske Atmosphäre von einer kosmischen Übermacht, vor der man nur hilflos erstarrt, trägt die Geschichte bis zum Schluss und ist in ihrem gnadenlos objektiven Chronistenstil umso wuchtiger.
AntwortenLöschenDie einzelnen Sterne, die ich abgegeben habe, sind nicht auf 10. Aber die Idee für die Geschichte ist verdammt gut.
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