DACSF2025_06

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Fremd im eigenen Zuhause

Ich war schon immer anders als meine Geschwister. Und es ist nicht einmal das typische Mittelkind-Problem, ich bin die Jüngste von uns dreien. Aber das bringt mir in meiner Familie auch nicht wirklich einen Vorteil.

Meine Eltern, wie übrigens auch alle Lehrer an unserer Schule, bevorzugen meine beiden großen Schwestern. Die sind immer brav, immer anständig und vor allem so viel disziplinierter und eifriger, was ihre schulischen Leistungen angeht.

Es ist nicht so, dass ich in dieser Hinsicht eine Versagerin bin, aber mein Notendurchschnitt liegt im Mittelfeld. Das ist generell mein Milieu, das Mittelfeld. Immer nicht ganz gut, aber auch nicht schlecht, in so ziemlich allem, was ich tue.

Ich bin allerdings ganz zufrieden in der Mitte.

Also mir geht es gut, aber für meine Schwestern ist alles, was nicht mindestens einer Auszeichnung würdig ist, verschwendete Zeit und definitiv ein Grund für einen kleinen Nervenzusammenbruch. Aber mal ganz ehrlich, wozu dieser Stress? Was hat man denn davon?

Ich persönlich finde es ja auch nicht gut, dass diese Form von Überarbeitung und unendlicher Anstrengung belohnt wird. Das macht es doch für all die Normalos wie mich viel schwieriger. Und für einen selbst kann das auch nicht gesund sein. Stichwort Burnout. Aber gut, das ist nur meine Meinung und damit scheine ich ziemlich allein dazustehen.

Manchmal hab ich das Gefühl, dass ich bei der Geburt vertauscht wurde.

Wie kann es sein, dass ein Chirurg und eine Mathematik-Professorin zwei Kinder haben, die ihren Eltern akademisch nacheifern und auch sonst perfekt zu ihnen passen und dann noch mich, die auch nach Jahren noch nicht kapiert, wie man unser Smart-Home bedient und ohne jegliche Absicht, noch mehr kostbare Lebenszeit mit einem Studium zu vergeuden.

Ernsthaft, ich passe nicht rein.

Meine Familie liebt die Berge, ich das Meer. Sie mögen gehobene Küche, mir reicht Fastfood. Meine Schwestern sind charmant und meine Eltern eloquent und ich bin ziemlich mies in Sachen Smalltalk. Ich verstehe den Sinn dahinter ehrlich gesagt nicht so ganz. Wenn man was zu sagen hat, dann sagt man es, wenn nicht, dann nicht. Aber ja, so geht es ewig mit den Unterschieden weiter.

Einmal haben meinen Schwestern gesagt, dass ich bestimmt adoptiert bin. Oder im Krankenhaus verwechselt wurde. Ich war erst beleidigt, aber dann dachte ich: „Das kann schon sein.“

Aber unsere Eltern haben das abgestritten und einen Aufstand gemacht. Wie ich denn so etwas denken kann und ich darf das nicht glauben und sie wissen ja, dass man es als Teenager nicht leicht hat und man sich außen vor fühlt mit den ganzen Veränderungen im eigenen Körper … Ich bin an der Stelle in mein Zimmer und habe beschlossen, nicht mehr mit ihnen über irgendetwas zu sprechen. Das endet nur in einer Peinlichkeit. Also mir ist es jedenfalls peinlich.

Nicht ganz so peinlich, wie wenn sie versuchen, bei ihren Freunden ihre einzig durchschnittliche Tochter zu erklären, aber so viel schenkt sich Beides nicht.

Die Tochter der besten Freundin meiner Mutter geht in die Klasse meiner ältesten Schwester Betty und ist ihre beste Freundin. Beide wollen Ärztinnen werden und bilden sich ziemlich was darauf ein, dass sie zu den ausgewählten Jahrgangsbesten gehören, die einen Vorstudienkurs am Uni-Klinikum absolvieren dürfen.

Sie tun immer so, als wäre das in Wahrheit ein Geheimclub für Reiche und Schöne auf irgendeiner tropischen Insel, wo geheime Partys und Geschäfte stattfinden. Wir reden hier immer noch von einem Vorstudium.

Aber gut, ich gebe es ja zu, diese Geheimniskrämerei hat mich neugierig gemacht. Und an einem schönen, sonnigen Dienstagnachmittag, als meine Eltern dachten, dass ich ausnahmsweise mal in die Bibliothek fahre, um zu lernen, da bin ich stattdessen mit meinem Fahrrad zur Uni-Klinik gefahren.

Und es war viel einfacher als gedacht, mich dort einzuschleichen.

Genauer gesagt bin ich einfach nur durch die Pforte ins Gebäude rein, hab den Pförtner freundlich gegrüßt und bin dann mithilfe eines Gebäude- und Vorlesungsplans auf meinem Handy durch die Gänge gewandert, bis ich Saal 051 gefunden habe.

Dabei natürlich immer darauf achtend, dass man mir nicht sofort ansieht, dass ich zum ersten Mal hier bin.

Das ist mir anscheinend ganz gut gelungen.

Ohne mich jetzt selbst großartig loben zu wollen.

Ich wollte allerdings auch nicht durch die Vordertüre reinmarschieren, schließlich war ich auf einer geheimen Mission: rauszufinden, was an dieser Vorlesung so toll ist, dass ein Geheimnis daraus gemacht wird.

Im Ernst, was lernt man da, was man nicht auf Google abfragen kann?

Meine Schwester hat auf meine Nachfrage immer gesagt: „Das verstehst du nicht. Du bist nicht dabei“

Korrekt. Deshalb bin ich dann ja doch gekommen, wenn auch heimlich.

Glücklicherweise hat sich mein Tür-Problem damit gelöst, dass es noch einen weiteren Zugang gibt. Ich öffne also ganz leise besagte Hintertür und bete für einen dunklen Saal, in dem ich nicht auffalle. Die Realität übertrifft meine Hoffnung sogar, denn vor mir steht eine mannshohe Tribüne, auf der Tische und Stuhlreihen für mindestens 200 Zuhörer bereitstehen.

Davon sind vielleicht gerade einmal 15 Plätze belegt, alle unten und nahe der riesigen Tafel, auf der alle möglichen Formeln zu lesen sind.

Ich sehe Betty in der ersten Reihe, direkt neben ihrer besten Freundin.

Alle sind hochkonzentriert, die Spannung im Raum ist förmlich greifbar.

Näher ranzugehen traue ich mich nicht, dafür bin ich hier hinten zu gut geschützt. Ich kann den ganzen Saal überblicken, bin dafür aber selbst quasi unsichtbar. Eine Fliege an der Wand.

Die Lehrstunde ist in vollem Gange und wird allem Anschein nach von zwei Personen in weißen Kitteln abgehalten.

Soweit ich das beurteilen kann, sehen die Beiden sehr wichtig und auch sehr ernst aus, als ginge es hier um Leben und Tod.

Anscheinend tut es das sogar wirklich, ich meine nämlich zu hören, dass die Wörter Totgeburt und Sternenkind mehrfach vorkommen.

Ich würde ja zu gerne rufen, dass der Herr Professor ein bisschen lauter reden soll, aber das kann ich ja schlecht machen. Also fordere ich stattdessen mein Glück heraus, schleiche in Zeitlupe unter der Tribüne entlang nach vorne und friere bei jedem leisesten Geräusch ein.

Der kurze Weg dauert also verhältnismäßig lange, aber die Akustik verbessert sich radikal. Und was ich dann höre, lässt mir die Kinnlade runterklappen.

Der ältere der beiden Ärzte sagt nämlich: „… Und das, meine Damen und Herren, ist die Geschichte Ihrer Entstehung. Sie wurden mit allergrößter Vorsicht aus dem vorhandenen Genmaterial geklont, aber natürlich auch mit dem Besten, was unsere Spezies zu bieten hat, versehen. Deshalb sitzen Sie heute hier vor mir, weil Sie ganz außergewöhnliche Wesen sind.“

Die ganze Klasse lacht wie Eingeweihte über einen Witz, den ich noch nicht ganz kapiere.

Oder kapieren will.

Der Professor fährt fort: „Es freut mich außerordentlich, die Zukunft unserer Spezies in Ihnen weiterwachsen zu sehen und bedanke mich bei Ihren Lehrern, die uns in unserem Vorhaben derart unterstützt und Sie durch Ihr bisheriges Leben hier auf der Erde geleitet haben. Aber auch Sie können stolz darauf sein, wie angepasst und unentdeckt Sie hier leben. Das schafft nicht jeder. Ich bin stolz auf Sie!“

Lauter Applaus ertönt und ich habe kurz Zeit, meine Gedanken zu sortieren.

Was?!

Einfach nur: Was?

Was war das denn gerade?

Ein schlechter Scherz? Oder doch wahr?

Meine Schwester, meine eigene Schwester, soll eine Außerirdische sein?

Gut, das würde vielleicht einiges erklären. Wobei … Nein, eigentlich nicht.

Sind meine Eltern dann auch Aliens? Und meine andere Schwester? Pass ich deshalb nicht rein und bin anders? Oder sind die einfach so Genies ganz ohne genetischen Cheat-Code? Und warum hab ich den dann nicht?

Egal, die Hauptsache ist, dass das doch gar nicht möglich ist. Oder doch?

Und was macht der Professor denn jetzt?

Er holt ein Laptop-ähnliches Gerät mit Antenne unter dem Pult hervor und drückt auf ein paar Knöpfen herum, bis die Antenne wie von selbst zu schwingen beginnt und abgehakte hohe Töne zu hören sind.

„Das“, erklärt der Professor, „sind Statusmeldungen von Ihnen allen. Bei Ihrem Austausch haben wir uns die Freiheit herausgenommen, eine Art Peilsender einzubauen, um ihre Entwicklung jederzeit zu überwachen und Sie, falls notwendig, in Sicherheit bringen zu können …“

„Ist es auf der Erde überhaupt sicher für uns?“, fällt ihm einer der Schüler ins Wort und ausgerechnet meine Schwester antwortet altklug: „War es bisher doch auch. Wenn wir genau so weitermachen, dann besteht keine Gefahr.“

Der Professor stimmt ihr nickend zu: „Ganz recht. Und sobald Sie Ihr Studium abgeschlossen haben, werden Sie für die Erhaltung unserer Spezies arbeiten.“

„Ich möchte aber schon früher etwas tun.“, ruft einer lautstark und Einige schließen sich ihm an.

„Da wird sich eine Möglichkeit finden.“, schmunzelt der Professor über so viel Eifer und sein Kollege sagt: „Wir hatten ja schon über unser Forschungslabor im Erd-Orbit gesprochen. Wir nehmen immer gerne Praktikanten.“

„Und wie sollen wir das unseren Pflegeeltern erklären?“, will meine Schwester wissen und ihre beste Freundin ergänzt: „Die Wahrheit muss ja schließlich für immer und ewig geheim bleiben. Das haben Sie gesagt.“

Er nickt: „Das habe ich. Und ich habe auch eine Lösung dafür parat, die schon seit vielen Jahren im Einsatz ist. Haben Sie sich noch nie darüber gewundert, dass sogenannte einfache Schüler Praktika von Topfirmen im Ausland bekommen? Wir reiten diese Welle schon seit vielen Jahren mit. Davor waren es Volontariate in Entwicklungshilfsorganisationen.“

„Ist im gewissen Sinne ja sogar richtiger.“, höre ich noch als lachenden Kommentar, bevor ich den Saal eilig, aber leise, wieder verlasse.

Draußen im Gang muss ich mich erst mal sammeln. So richtig glauben kann ich es ja immer noch nicht, aber die waren alle so ernst, dass das kein Scherz sein kann. Oder doch? Ach, ich weiß doch auch nicht.

Aber wenn es wirklich wahr ist, dann muss ich es sofort meinen Eltern erzählen.

Das Kind, das in ihren Augen so perfekt ist, ist nicht von ihnen, sondern aus irgendeinem Weltraumlabor.

Schnell wie der Wind rase ich durch die Gänge zum Ausgang zurück, springe zu meinem Fahrrad und sause mit einer solchen Geschwindigkeit nach Hause, dass ich jedem Tour-de-France-Teilnehmer gewachsen wäre.

Atemlos komme ich zuhause an und finde meine Eltern im Wohnzimmer.

Noch bevor ich etwas sagen kann, fragen sie, wie das Lernen läuft und wie mein Besuch in der Bücherei war.

Ich sage: „Informativ.“

Mehr sag ich nicht.

Denn auf einmal meldet sich die kleine Stimme im Hinterkopf, die manchmal einfach besser im logischen Denken ist und mahnt mich, zuerst mit Betty zu sprechen. Vielleicht sind meine Eltern ja sogar in die Sache verwickelt, mein Vater arbeitet immerhin in der Uniklinik. Und wenn er damit zu tun hat, dann müsste meine Schwester das ja auch wissen, sie scheint ja durch ihre Professoren so ziemlich alles über ihre eigene Geschichte erfahren zu haben.

Und weil das für mich logischer klingt, stimme ich mir zu und halte den Mund.

Ich setze mich aufs Sofa und schalte den Fernseher ein, ignoriere die missbilligenden Blicke meiner Bücher-lesenden Eltern und warte darauf, dass Betty, beziehungsweise die Außerirdische, die ich für meine Schwester hielt, nach Hause kommt.

Irgendwann ist es dann auch endlich so weit, die Haustür öffnet sich, Schritte im Flur.

Ich frage mich noch, ob ich sie abfangen sollte, da steht sie bereits breit grinsend im Wohnzimmer und verkündet: „Ratet mal: Ich habe einen Praktikumsplatz bekommen. Ich werde für zwei Wochen in den USA bei einer Hilfsorganisation arbeiten! Ist das nicht toll?“

4 Kommentare

  1. Ich mochte die Geschichte gleich. Meine beste Freundin ist ihr ganzes Leben schon seit Kindheit davon überzeugt, dass sie vertauscht wurde. Fand sich nie in ihrer Familie zurecht. Deshalb bin ich so entzückt. Neutral betrachtet ist die Geschichte für andere wahrscheinlich nicht so faszinierend wie andere hier. Aber ich liebe diese ruhige und bedachte Art der Erzählung.

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  2. Gefällt mir super! Dass man erst vermutet, die Ich-Erzählerin sei das Kuckuckskind, und dann der Umschwenk kommt, ist klasse und originell.
    Und durch den Schluss klären sich auch die aufgetauchten Fragen ob die Eltern ebenfalls Aliens sind.
    Für mich eine perfekte Kurzgeschichte, 10 Punkte!

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  3. Eine sympathische und nachvollziehbare Protagonistin. Ich hatte ab der Hälfte der Geschichte einen dramatischeren Schluss erwartet, der dann für meinen Geschmack zwar etwas zu abrupt kam, jedoch eine elegante Auflösung darbot.

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  4. Anfangs wird der Eindruck vermittelt, als sei die Ich-Erzählerin sei das Kuckuckskind, welches nicht in die Familie passt. Man denkt schon: Wenn sie eine Außerirdische ist, warum ist sie dann nicht die Intelligenteste in der Familie? Die Auflösung kommt überraschend, womit hier kein Logikfehler vorliegt. Einzig der Umstand, dass sie den Hörsaal voller Aliens einfach so unbemerkt betreten und wieder verlassen kann, ohne, dass jemand stutzig wird, ist etwas unglücklich gewählt. Ansonsten eine gute Geschichte und die Anspielung auf die Area 51 ist ein nettes Easter Egg.

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