Die Geister, die wir riefen
von Achim Stößer
Platz 4 beim ZACSF2024
Equality-Sonderpreis 2024
Das Messer verborgen in seiner Jackentasche, stand Bernhard am Rand der belebten Straße in der Kölner Innenstadt, die Finger um den Griff gelegt, als wäre es ein Rettungsanker im Meer der Ungläubigen. Die Mittagshitze lag wie eine bleierne Decke auf der Stadt, doch in seinem Inneren brannte etwas anderes – eine Flamme, genährt durch jahrelangen Zorn und Enttäuschung, angeheizt von den Worten jener, die ihm die Augen geöffnet hatten. Diese Welt war krank, schmutzig. Sie musste gereinigt werden durch die edelste Form der Da’Wa, der Einladung, den Islam anzunehmen.
»Allahu akbar«, murmelte er durch seinen zausigen Rübezahlbart, die Lippen kaum spürbar bebend. Seine Hände zitterten leicht, doch es war nicht die Angst, die sie zittern ließ. Es war Vorfreude. Er dachte an die Videos, die er gesehen hatte, die Predigten, die ihm erklärt hatten, dass dies der Weg sei – der Weg, den Gott für ihn vorgesehen hatte, der Weg, der ihn, evangelisch getauft und konfirmiert, noch während des Besuchs der römisch-katholischen Bekenntnisschule in Dormagen zum Salafismus hatte finden lassen: zum einzig wahren Glauben, zum Islam. Wenn er heute fiel, würde er als Märtyrer ins Paradies eintreten. Das Blut der Ungläubigen würde ihn reinigen, ihm den Platz im ewigen Frieden sichern.
Sein Herzschlag beschleunigte sich, als er die Masse beobachtete, die ahnungslos an ihm vorüberfloss, so wie ein Verhaltensforscher ein Rudel Wölfe beobachtet. Oder schamlose Frauen wie Jane Goodall, Dian Fossey und Biruté Galdikas, die unter Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans gelebt hatten. Affen, die sich, wie die Atheisten in ihrem Wahn glaubten, spontan in Menschen verwandeln konnten, Menschen, die, so sagten einige, gar selbst Affen seien oder noch lächerlicher die Nachkommen gotteslästerlich an Land spazierter Fische, nicht göttliche Geschöpfe, die banū Ādam, allesamt Abkömmlinge von Adam und Hawa. So betrachtete Bernhard sie nun, diese gottlosen angeblichen ehemaligen Affen. Sie lachten, trugen Einkaufstaschen, gingen zur Arbeit, tranken Sojalatte in den Straßencafés oder Alkohol in den Bars. Ihre Leben waren wertlos, ihre Seelen verloren in den Verlockungen dieser Welt. Sie sahen nicht, was er sah. Sie verstanden nicht die Macht, die sie lenkte. Sie würden es bald verstehen.
Er zog das Messer, das Metall blitzte in der Sonne. Und dann schrie er es heraus, lauter, kraftvoller: »Allahu akbar!« Gott ist unvergleichlich groß! Etwas, das die deutsche Grammatik, in der es keinen Elativ gab, nur unzulänglich auszudrücken vermochte. Ein paar Menschen drehten sich um, erschrocken, als wäre der Ruf selbst eine Waffe.
Dann stürzte er sich in die Menge.
Der erste Stoß ging tief. Ein Mann, Ende dreißig, keuchte, als die Klinge in seine Seite drang. Blut spritzte auf den Gehweg, der Mann sackte zusammen, seine Augen weiteten sich in schockierter Erkenntnis, den Blick zu Bernhard erhoben wie ein Katholik zum Himmel. Die Passanten erstarrten für einen Moment, als würden sie die Realität dessen, was geschah, nicht begreifen. Doch dann brach das Chaos aus.
Schreie. Entsetzen. Menschen flohen in alle Richtungen, stießen einander, traten sich auf die Füße, als sie versuchten, zu entkommen. Doch er war schneller. Ein zweiter Schnitt, diesmal eine Frau. Sie fiel nach vorne, ihre Hand presste sich verzweifelt auf ihre Brust, wo das Blut durch ihr Croptop sickerte. Noch einer. Ein älterer Mann, das Messer durchtrennte die Haut seines Armes und drang in seinen Bauch.
Blut. Überall Blut. Bernhard glaubte, dessen metallischen Geruch wahrzunehmen und sein eigenes Blut in den Adern rauschen zu hören. Blutrausch, dachte er. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie Passanten, die etwas weiter entfernt waren, die Fäuste reckten, den Handrücken ihm zugewandt, um mit ihren Smartwatches zu filmen. Gut! Die Welt sollte sehen, was wahrer Glaube bewirken konnte.
»Allahu akbar!« Der Schrei begleitete jeden seiner Angriffe wie eine Beschwörung. Jede Wunde ein Opfer. Jeder Schrei ein Beweis, dass er auf dem richtigen Weg war.
Aber dann, mitten in dem Durcheinander, stand plötzlich jemand still. Ein Mann, etwa Mitte zwanzig, dünn, mit schmalem Gesicht und Brille. Er starrte ihn an, nicht mit Angst, sondern mit Neugier, den Kopf leicht zur Seite geneigt wie ein schmutziger Straßenhund, der um Abfälle bettelt. Als wäre Bernhard ein seltsames Phänomen, das beobachtet werden musste.
Der Attentäter hielt inne, verwirrt. Warum rannte dieser Mann nicht weg? Warum schrie er nicht wie die anderen?
Mit einem Wutschrei sprang er auf den Fremden zu, das Messer erhoben, bereit, auch diesen Ungläubigen zu richten. Die Klinge sauste herab und –
Sie glitt hindurch.
Als wäre er aus Luft, glitt das Messer durch den Körper des Mannes, ohne Widerstand, ohne Blut. Nichts.
Bernhard verlor fast das Gleichgewicht. »Was…?« Er blickte auf seine Hand, auf das Messer, dann wieder auf den Mann, der immer noch ruhig dastand, ihn ansah – und diesmal lächelte.
»Schaitan!«, schrie Bernhard, seine Stimme voller Panik. Dämon. Er sprang zurück, die Klinge erneut schwingend, diesmal noch heftiger, doch wieder glitt sie durch den Körper des Fremden wie durch Rauch.
Der Attentäter spürte, wie die Welt um ihn zu schwanken begann. Das konnte nicht sein. Das war unmöglich. Ein Trick des Teufels, eine Prüfung! Er wich zurück, fort von dem Dämon, stolperte, das Messer noch immer fest umklammert.
In diesem Augenblick hörte er das Kreischen von Reifen und einen schnellen rhythmischen Klang, dumpfes Trommeln von Einsatzstiefeln. Eine Stimme schrie Befehle, doch er verstand die Worte nicht mehr. Alles war ein Tohuwabohu von Geräuschen und Farben, übertönt von dem Dröhnen seines eigenen Herzschlags. Sein Atem ging stoßweise, unkontrolliert, als er sich umdrehte, um mit erhobenem Messer auf den nächstbesten Polizisten loszustürmen.
»Schaitan!«, rief er erneut, während die Welt um ihn verschwamm. Die Kugeln kamen schnell, sie durchbohrten seinen Körper, bevor er auch nur den nächsten Schritt machen konnte. Der Schmerz war intensiv, doch nur für einen Augenblick.
Er fiel auf die Knie wie sein erstes Opfer, das Messer glitt aus seiner Hand, klapperte auf den Boden. Sein Blick trübte sich, doch in den letzten Sekunden seines Lebens hörte er sich noch einmal, ganz leise: »Allahu akbar«. Ein letzter Gedanke durchfuhr ihn – war dies der Weg ins Paradies? War dies der Lohn?
Dann kam die Dunkelheit.
*
Mitch beurteilte seit weit über einem Jahrzehnt auf seinem Kanal die Echtheit von Videos, die durchs Netz geisterten. Manches Mal handelte es sich tatsächlich um Aufnahmen von realen Tieren, die, anders als Farmtiere oder die großen afrikanischen in Kinderbüchern stiefmütterlich behandelt wurden und deren außergewöhnliche Erscheinung sie auf den unbedarften Betrachter oft wie Aliens wirken ließ: Der Dreibeinfisch, der in der Tiefsee lebt und die drei verlängerten Strahlen der Bauch- und Schwanzflossen einsetzt, um auf dem Meeresboden zu stehen. Melibe viridis, eine Tiefseeschnecke mit acht Pseudopodien und einem großen gelatinösen Kopf, der über die Beute gestülpt wird. Die Grünäugige Raubfliege, die aussieht wie ein fingerlanger und -dicker Moskito. Freischwimmende Epitoken paarungsbereiter vielborstiger Ringelwürmer, die bei der geringsten Berührung aufplatzen und so die Gameten beider Geschlechter ins Meerwasser entlassen, wodurch sie sich in eine treibende Wolke aufzulösen scheinen. Kletterfische, die das Wasser verlassen können und andere Gewässer aufsuchen, indem sie wellenförmig den Körper bewegen und die bedornten Kiemendeckel benutzen, um etwa eine Straße zu überqueren wie sonst eine Ente mit Küken. Die Chilenische Seescheide, ein sessiles Manteltier, das an in Stein eingeschlossene Seeigel erinnert und zum Verzehr entsprechend aufgesägt wird. Schwanzwedelschnecken, deren dünnes Fußende hin und her wackelt wie bei einem aufgeregten Hündchen. Der Goldene Schildkrötenkäfer, dessen namensgebende Farbe sich bei Bedrohung in ein Braun verwandelt. Ein sich häutender Hundertfüßer, während er sein zu klein gewordenes Exoskelett abstreift. Der Bart-Feuerborstenwurm, der gelegentlich parasitierend an gefangenen Fischen gefunden wird. Pandaameisen, ein Fleischfressender Schwamm, eine Blaue Ozeanschnecke, Salpen, eine Pfauenspinne, Seegurken, eine Kragenechse, Pazifische Messermuscheln, ein Neunauge. Die pelzige, kuschlig aussehende, aber hochgiftige Raupe der Flanellmotte, die ein Verwandter der Tribbles hätte sein können.
Häufig handelte es sich auch nur um verblüffende Wetterphänomene, physikalische Effekte oder optische Täuschungen. Nach jeder Aufklärung sagte er seinen ikonischen Slogan »Hope that helps«, häufig nach dem Hinweis »And yes, people eat them«, wenn es um echte Tiere ging.
Doch meist handelte es sich um mehr oder weniger leicht zu entlarvende Fakes, Hoaxes, Pranks, CGI, oft KI-generiert, von Jugendlichen in der elterlichen Garage zusammengebastelt oder aus alten Werbespots geschnitten. Hier harrten seine Fans seit Jahren auf seinen missbilligenden Blick und sein verächtliches: »Don’t be a sucker!«
Doch diesmal fand er partout keinen Ansatz, die Fälschungen aufzudecken. Begonnen hatte es mit einer Reihe von Videos aus Köln mit übersprudelnden Kommentarspalten. Chancellor Weidel echauffierte sich über »Messermänner«, Feministen über Männer grundsätzlich – eine Frau war bei dem Terroranschlag unter den drei Toten, sie sprachen von Femizid –, Linke forderten Rechte hämisch auf, doch auch diesmal nach dem Vornamen des Täters zu fragen, weil sie diesen sehr wohl kannten. Die Presse berichtete, Bernhard H. sei polizeibekannt gewesen und vom Verfassungsschutz beobachtet worden, das Motiv für die Tat sei unklar. Muslime stellten fest, das habe nichts mit dem Islam zu tun.
Doch den größten Impakt hatten die Videos, auf denen zu sehen war, wie das Messer des Terroristen mehrmals widerstandslos durch einen jungen Mann gefahren war. Manche spekulierten, er sei ein Engel, andere hielten ihn für einen unverwundbaren Superhelden wie aus einer dieser alten Streamingserien, einen Dschinn oder einen besonderen Menschen, den Gott in seiner Gnade errettet hatte (wobei sie die nicht erretteten wohlweislich ignorierten).
Mitchs Deutsch war nicht sonderlich gut, aber die automatische KI-Übersetzung kam auch mit den gröbstentstellten Wörtern ebenso wie mit vertauschtem das/dass, seid/seit, den/denn, die für Deutschsprachige ähnlich fatal zu sein schienen wie in seiner Sprache your/you’re, their/there/they’re und ’ve/of, oder »Menners« für Männer und sogar zahllosen Neopronomen zurecht. Die S.A.T.I.R.E., eine jener vielen Kleinstpartein, verbreitete Plakate mit der Aufschrift »Moslems und Nazis töten.« Ein unübersetzbares Wortspiel, wie die KI erläuterte, da es eigentlich nur treffend feststellte, Moslems und Nazis würden töten, doch es klang im Deutschen wie die Aufforderung, Moslems und Nazis zu ermorden, der Unterschied lag lediglich in der Interpunktion.
Er nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. So sehr Mitch Star Trek, Star Wars und Star Vault liebte – oft trug er in seinen Clips entsprechende Themen-T-Shirts oder -Mützen –, Hologramme wie dort gab es im wirklichen Leben nicht. Schon gar keine, die Schaffen warfen. Er schob die Brille wieder ins Gesicht.
Bei dem Kölner Video blieb es nicht. Andere zeigten, wie in Nairobi ein menschgelenktes Auto und in der Großisraelischen Republik ein Panzer mitten durch eben diesen jungen Mann hindurchfuhr, der darauf mit einem Lächeln reagierte. Im Zoo von Atlanta sprang ein angreifender Sumaratiger ihn an, prallte jedoch gegen die Glasscheibe, die beide, Tiger und Geist, von den Besuchern trennte. In Italien erschien er in einer Küche, die Frau, die gerade die Spaghetti für ihr Nacktkochvlog hatte abgießen wollen, ließ erschrocken den Topf fallen. Aufgrund des Aufpralls auf den Boden spritzten Nudeln und kochendes Wasser auf ihre bloße Haut, aber durch den Eindringling hindurch.
Inzwischen gab es Dutzende solcher Videos von überall auf der Welt.
Mitch hieb mit den Fäusten auf die Schreibtischplatte, so hart, dass durch die Erschütterung das Gebläse in seinem Laptop anfing zu schnarren, bis er genervt gegen das Gehäuse klopfte, um es so zum Schweigen zu bringen.
Es musste doch eine plausible wissenschaftliche Erklärung für diese Geistererscheinungen geben.
*
Der Hörsaal war brechend voll, selbst auf den Stufen saßen Zuhörer, andere drängten sich an den Eingangstüren, um wenigstens zu hören, was gesagt wurde und gelegentlich einen Blick zu erhaschen. »Seit über einem Jahrhundert verkündet die Menschheit ihre Anwesenheit im Universum durch Radiowellen, ohne es wirklich zu bemerken«, verkündete Professor Pierre Weißbecker vom Rednerpult, während die Slides hinter ihm seine Worte illustrierten und den halbdunklen Saal ein wenig erhellten. »Die ersten Radiosendungen – Musik, Nachrichten, die knisternden Stimmen von Ansagern – strömten in die Atmosphäre und entkamen in den unendlichen Raum, getragen von elektromagnetischen Wellen, die sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiteten. Mit jeder neuen Technologie wuchs dieser unsichtbare Strom an Signalen. Dann kamen verrauschte Schwarz-Weiß-Bilder, gefolgt von klaren Farben und immer komplexeren Übertragungen, die über die Welt hinaus bis zu den Sternen gelangten. Winzige Fragmente der menschlichen Kultur, ihrer Geschichten, ihrer Konflikte strömten wir ins All hinaus, unwissend, wer – oder was – dort draußen vielleicht lauschte. Und schließlich richteten wir Wissenschaftler unsere Antennen bewusst in den Kosmos, auf der Suche nach einem Echo, einer Reaktion auf gezielte Radiosignale, die wir in den Weltraum sandten, einfache mathematische Sequenzen und universelle Botschaften. Jedes Signal war ein einsames Flüstern in der Leere, getragen von dem Glauben, dass die Menschheit nicht alleine sei. Aber über Generationen kehrte nur Stille zurück, eine Stille, die sich über Lichtjahre erstreckte und doch immer wieder von neuem durchdrungen wurde – von Hoffnung. Der Hoffnung auf Antwort aus der Dunkelheit.«
Jasmina gähnte. Dann verzog sie missmutig die Lippen und schüttelte leicht den Kopf. Für dieses banale Geschwätz war ihr ihre Zeit nun wirklich zu schade. »›Wissenschaftler‹«, zischte sie verächtlich, während sie sich von ihrem Klappsitz in der ersten Reihe erhob, worauf sogleich einer der auf der Treppe Sitzenden sich unangenehm dich an ihr vorbei drängte, um den freien Platz zu ergattern – so dicht, dass sie seinen Schweiß und sein beißendes Parfüm riechen konnte – und den Platz in Beschlag nahm. Weißbecker war weniger Wissenschaftler als vielmehr Bürokrat, der sein Leben der Akquise von Fördergeldern gewidmet hatte, aber mit seinen Auftritten in den sozialen Medien war er aus für sie unerfindlichen Gründen zu einem kleinen Star avanciert. Andererseits galt das aus ihrer Sicht auch für all die anderen Influencer, die mit nichtssagenden Filmchen die Massen begeisterten.
»Manche unbedarften Geister mögen Angst vor Invasoren haben«, hörte sie im Gehen Pierre hinter sich. »Doch das ist absurd. Materie kann nicht auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden. Jeder Reisende, gleich ob grünhäutiger Ethologe, antennenohriger Entdecker, chitinbewehrter Rohstoffhändler, quallenartiger Eroberer, schuppiger Konquistador, der in einem Umkreis von im kosmischen Maßstab winzigen nun gut einhundert Lichtjahren sitzt, wird von der Lichtmauer zurückgehalten. Überlichtantriebe gehören ins Reich der Märchen und Science-Fiction. Allenfalls Generationsschiffe könnten uns erreichen, doch diese wären, der Name lässt es erahnen, viele Generationen unterwegs. Wohl nichts, was einen säurespeienden Tentakel-Dschihadisten reizen würde.« Einige lachten über seinen Scherz, zu wenige für seinen Geschmack. »Nein, allenfalls können außerirdische Zivilisationen uns unsere Botschaften mit gleicher Münze zurückzahlen: Signale senden. Signale, die, da masselos, auch wenn es uns selbst noch nicht gelungen ist, über derartige Entfernungen überlichtschnell, ja instantan etwa durch Quantenverschränkung zu kommunizieren, theoretisch nicht von einer Lichtschranke eingeengt werden.« Offenbar hatte niemand sein Wortspiel bemerkt oder verstanden, es kam keine angemessene Reaktion vom Publikum.
Mühsam kämpfte Jasmina sich die Treppe hoch, während sie vorsichtig einen Fuß nach dem anderen zwischen die sich widerwillig zur Seite beugenden Zuhörer setzte. Kurz ehe sie die oberste Stufe erreichte, verhedderte sie sich im Schultergurt einer Tasche auf der Treppe, stolperte, stürzte auf einen Mann zu, der lässig an der Wand lehnte. Ihre im Versuch, sich abzufangen, erhobene Hand aber berührte ihn nicht, sie durchdrang ihn, bis die Wand hinter ihm sie aufhielt, so dass ein Schmerz ihr Handgelenk durchzuckte. Der Mann schien in ihrem Alter zu sein, vielleicht Mitte zwanzig, ungewöhnlich dünn, mit einem schmalen Gesicht, Dreitagebart und einer altmodischen Brille. Nun fuchtelte sie mit der anderen Hand, doch auch diese fuhr durch ihn hindurch. Sie spürte nichts als ein Kribbeln auf der Haut. Er lächelte.
Für einen Sekundenbruchteil wurde der Mann transparent, flüchtig wie ein Geist, dann war er verschwunden. Einige der daneben Sitzenden hatten die Erscheinung, vielmehr ihr unvermitteltes Verschwinden, bemerkt. Ein scharfer, leicht metallischer Ozongeruch hing in der Luft. Tumult brach aus.
Im selben Augenblick tauchte der Geist in einem Schlachthof in Chicago auf.
Die Story wartet mit einem fein gearbeiteten Anfang auf, bei dem die Motivation des Protagonisten spürbar ist, auch wenn mich die Tat an sich leicht verstört hat. Leider hält die Story diese Qualität nicht bis zum Ende durch. Unter dem Aspekt Erstkontakt: Ja, kann man so sehen. Es könnte aber auch eine Geisterstory sein.
AntwortenLöschenDie Affenforschung in der Terroristenszene und der SETI-Vortrag machen es doch eindeutig, dass das Aliens sind, die uns beobachten, keine Geister, finde ich. Das, was sie sehen, zeigt dabei nicht unsere beste Seite.
LöschenStilistisch gut, die Story hat etwas, und das Ende im Schlachthof ist eine „blutige“ Verbindung zum etwas erschreckenden Anfang. Es könnte hier aber außer einem Alien genauso gut ein Zeitreisender sein, oder vlt. jemand aus einem Paralleluniversum.
AntwortenLöschenSETI im Vortrag des Professors? Siehe oben.
LöschenEine feingewobene Story, die einen vermeintlich auf den falschen Pfad führen will. Stilistisch einwandfrei und gut geschrieben. Für mich bisher das Highlight
AntwortenLöschenErstmal: Gut geschrieben. Was mir weiter gefällt: Die Gegeüberstellung der biologischen Vielfalt auf der Erde zur 'Wahrheit' des islamistischen Kämpfers (bonbon zwischendrin, aber erwähnenswert als Antithese: die Leute, die alles sofort mit Handys filmen müssen).
AntwortenLöschenAm Ende verliert mich der Text ein wenig. Die Story 'zerfasert', verliert den Fokus. Was Sache ist, habe ich schon lange verstanden, mit den zusätzlichen Szenen erhalte ich allerdings keinen zusätzlichen Input ...
Gruß von Flac
Ich bin ein großer Freund von Texten, die ein Phänomen nicht sogleich erklären, sondern einfach nur beschreiben. Dass das Phänomen hier aus drei Blickwinkeln beschrieben wird, macht den Text jedoch statisch. Das, was wie ein junger Mann aussieht, ist da - und an eben der Stelle bleibt der Text stehen. Und auch die Beschreibungen des Salafisten, des Fake-Finders und des Professors bringen für mich keine Bewegung in den Text. Dennoch reicht es in die Top 5 der bislang von mir gelesenen Texte.
AntwortenLöschenIch verstehe, warum es die Lieblingsgeschichte von Axel Aldenhoven ist.
AntwortenLöschenIch hätte mir gewünscht, dass sie vor dem zweiten Bild endet mit "Dann kam die Dunkelheit". Was wäre ein "Wumm" gewesen.
Der Einstieg ist eine Steilvorlage für jeden Rechtspopulisten. Ja klar, Islamisten sind furchtbare Menschen, genauso wie Nazis. Doch hier wird der Leser in die Perspektive des Attentäters gezwungen, was ein wenig zu krass ist. Und dann noch eine Kanzlerin Weidel? Ist das ein Statement und wenn ja, in welche Richtung geht es?
AntwortenLöschenJedenfalls hatte ich gleich das Gefühl, dass eines der Opfer des Attentats sich als Alien herausstellen wird. Nur hätte ich erwartet, dass plötzlich grünes Blut an der Klinge klebt. Stattdessen handelt es sich bei dem Erstkontakt um einen Geist und bis zum Ende bleibt offen, um was es sich bei dem Phantom handelt. Ein per Quantenverschränkung übertragenes Hologramm? Ein Programmierer der Matrix, der als Avatar im virtuellen Universum auftaucht? Es gäbe so viele Erklärungen, doch der Autor weigert sich, eine abzuliefern. Schade.
Dafür wechselt dreimal der Standort sowie die Perspektive, wobei der Mittelteil mit dem Influencer der anstrengendste ist. Die endlos lange Aufzählung von kuriosen Tieren zeigt zwar, dass der Autor gut recherchiert hat, aber der Absatz ist einfach viel zu lang. Drei Beispiele hätten genügt. Ansonsten ist die Geschichte handwerklich okay.
Fazit: Da das Thema bekannt ist, bietet der Auftakt keine wirkliche Überraschung. Die nicht uninteressante Idee, die eine Vielzahl möglicher Konsequenzen bereithält, löst sich sprichwörtlich in Luft auf. Man erfährt weder etwas über den mysteriösen Besucher, noch über seine Motive. Ist er überhaupt ein Alien? Vielleicht ist er ja auch nur die Astralprojektion eines Erdenmenschen, der im Koma liegt. Dann wäre das Thema verfehlt. Schade, Potential wäre vorhanden.
Feedback ist wichtig für die Überarbeitung für die Anthologie, also danke für deinen Beitrag. Dazu habe ich aber eine Rückfrage: Inwiefern siehst du da »eine Steilvorlage für jeden Rechtspopulisten«? Immerhin ist der Terrorist ja in mehrfacher Hinsicht einer der ihren, er ist rechts (du wirst kaum behaupten wollen, Anhänger einer faschistoiden Ideologie seien links?), »Biodeutscher« (er heißt Bernhard und seine Biografie ist nicht zufällig an der diverser deutscher Salafisten wie Vogel orientiert) usw.
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