Gegenübertragung
von Alexander Klymchuk
Platz 7 beim ZACSF2024
„Die Zeit verwandelt uns nicht,
sie entfaltet uns nur.“
Max Frisch (1911 - 1991)
„Hier ist ein Herr Mikkael Martinsson, der Herr Engström sprechen möchte.“
Die junge Frau mit den sorgfältig frisierten blonden Locken, den penibel manikürten Fingernägeln, dem modernen, androgyn geschnittenen Hosenanzug und dem aufdringlich blumigen Parfum berührte den silbernen Remote-Access-Point ihres BioCom-Implantats über ihrer rechten Schläfe. Sie blinzelte, lauschte der Antwort ihres Gesprächspartners und nickte.
„Er fragt nach dem Projekt GAIA und einer Zeitkapsel.“
Ihr verkniffener Blick spiegelte eine nahezu kindlich wirkende Verwirrung wider.
„Ja, eine Zeitkapsel. Ja. Herr Martinsson. Mikkael Martinsson. Ja. Nein, er hat keinen Termin.“
„Sagen Sie Herr Engströms Assistentin, dass ich von den Hekatoncheiren weiß und von der Invasion der Muttermasse.“
Die junge Frau nickte, ohne den Blick von dem randlosen Bildschirm abzuwenden, der über ihrem Schreibtisch schwebte. Sie streckte Martinsson den erhobenen Zeigefinger entgegen, um ihm nonverbal zu vermitteln, dass ihre Aufmerksamkeit anderweitig gebunden war, lauschte, gab die Informationen weiter und wartete einen Moment mit nachdenklichem Blick.
Sie hielt inne, blinzelte ein paar Mal hintereinander und beendete das Gespräch durch Antippen ihrer rechten Augenbraue.
„Herr Engström empfängt Sie, Herr Martinsson. Man wird Sie zum ihm geleiten.“
Noch bevor sie zu Ende gesprochen hatte, wurde Mikkael Martinsson von zwei schwarz gekleideten Hünen flankiert, die ihn auf dem Weg zum Fahrstuhl und in die 52. Etage begleiteten.
Sie gingen einen langen grünen Korridor entlang, an einem interaktiven, pseudobiologischen Serviceterminal vorbei und bis zu Lasse Engströms Büro.
Dabei gaben die stiernackigen Security-Guards nicht ein einziges Wort von sich, das man nicht mit einem Knurren hätte verwechseln können.
Einer von ihnen öffnete die blendend hell furnierte Schwingtür in der Mitte. Er wartete geduldig, bis Martinsson den Raum betreten hatte. Dann verschloss er die Tür wieder mit einer flüssigen, routinierten und eleganten Bewegung.
Der Raum war riesig und erinnerte Martinsson an eine Lagerhalle. Im Vergleich zum Rest des Gebäudes wirkte das Büro des stellvertretenden Superinstructors der ‚National Aeronautics and Space Administration‘ fast minimalistisch.
Das Interieur war praktisch nicht vorhanden und klar den architektonischen Dimensionen untergeordnet.
Es gab keine Sitzgelegenheiten für Gäste. Offensichtlich wurde der Raum, in welchem sich nur eine freischwebende Glasplatte, ein ergonomischer Chefsessel und ein binärer Hochsicherheitsrollcontainer befanden, eher selten von Besuch frequentiert.
Lasse Engström saß hinter der Tischplatte. Er kritzelte etwas auf ein Blatt Papier, schlug einen Aktenordner zu, öffnete mithilfe der elektrotelepathischen Verbindung seines BioComs eine Schublade des Rollcontainers, verstaute den Aktenordner darin und verschloss sie wieder.
Dann legte er einen Papierstapel zur Seite, hob den Kopf und blickte seinen unerwarteten Besucher reserviert mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Darf ich Ihnen etwas anbieten?“
Er machte bereits Anstalten, sein BioCom zu aktivieren und eine audiovisuelle Kommunikationsverbindung zu seiner Assistentin herzustellen, doch Martinsson winkte ab.
„Danke. Bin wunschlos glücklich.“
Engström nickte, als hätte er mit dieser Antwort gerechnet. Er schaute sich auf der Tischplatte um, als suche er etwas, schnalzte mit der Zunge, nickte kurz und hob wieder den Kopf.
„Kein Freund vieler Worte, was?“
„Sagen wir einfach, die Zeit drängt, Herr Engström.“
„Nun gut. Sie wissen also von den Hekatoncheiren. Darf ich Sie fragen, woher?“
„Das ist kompliziert, Herr Engström, aber dies zu erklären ist weder Zweck noch Sinn meines Besuches.“
„Also schön. Verraten Sie mir doch erst einmal, was Sie damit meinten, als Sie von der ‚Invasion der Muttermasse‘ sprachen. Das ist ein rein hypothetischer Begriff, der nur dem engsten Kreis des Führungsstabes der GAIA-Mission bekannt ist und sich auf ein nicht eingetretenes Ereignis einer theoretischen, alternativen Raumzeiteventualität bezieht.“
„Woher ich meine Informationen habe, spielt keine Rolle. Ich brauche die Zeitkapsel, die Sie aufgrund der im Jahr 2008 gewonnenen Daten bauen konnten.“
„Wozu?“
„Um eine Botschaft zu übermitteln.“
„Welche Botschaft? Und an wen ist sie gerichtet?“
„An meine Vorfahren väterlicherseits und … letztendlich … an mich selbst. Diese Nachricht wird der Grund dafür gewesen sein, Sie aufzusuchen und um die Zeitkapsel zu bitten.“
„Ich fürchte, ich …“
„… kann Ihnen nicht folgen. Ja, das höre ich öfter, als mir lieb ist. Glauben Sie mir, ich finde es ebenfalls bisweilen etwas … herausfordernd. Aber das gibt sich. Mit der Zeit.“
„Ich habe keinen blassen Schimmer, wovon Sie da reden, Herr Martinsson.“
„Och, keine Sorge. Sie werden verstehen. Früher oder später.“
Er reichte dem pensionierten Astronauten, der in seiner Branche als Veteran galt, verschlossenen Umschlag und ein eng beschriebenes Blatt Papier.
Lasse Engström legte den Brief auf die Tischplatte und studierte die Nachricht gewissenhaft, doch sein Blick zeugte von seiner Ratlosigkeit.
60° 53′ 9″ N, 101° 53′ 40″ O. 16.02.1874. M. 71. 11,15 x 60 R.
Ungeduldig trommelte er mit den Fingern auf der Tischplatte und kaute auf seiner Oberlippe, während er sein Gegenüber mit unverhohlener Skepsis anstarrte.
„Was soll das sein?“
„Das sind Längengrade, Breitengrade, eine Zeitangabe, ein Gewehrmodell und die Kaliberangabe einer mit der Waffe kompatiblen Munition.“
Engström rieb die Handflächen aneinander und blickte sich im Raum um. Anscheinend half ihm der visuelle Input seiner Umgebung, sich kognitiv zu fokussieren.
„Herr Martinsson. Wie soll ich mich ausdrücken? Ist Ihnen klar, dass sich die Kapsel rückwärts durch die Zeit bewegt und gemäß den Anweisungen der Sondendaten erst aktiviert und ausgehändigt werden darf, wenn dies durch ein Codewort verifiziert wurde?“
„Das ist mir klar, Herr Engström. Ich weiß aber auch, dass die Übermittlung meiner Nachricht höchste Priorität haben sollte, weil sich ihre rein hypothetischen Begriffe andernfalls als höchst praktisch und real herausstellen könnten und in ihrer Konsequenz als Katalysator einer Eventualität fungiert haben werden, die Sie zufolge meiner Informationen in Ihren Statuten als ‚Taktische Präventivintervention Außerweltlicher Invasoren‘ bezeichnen.“
Engström stutzte, als hätte Martinsson ihn geohrfeigt, doch er fing sich sofort wieder. Er atmete tief durch und richtete sich auf dem Bürostuhl auf, sodass es auf Martinsson den Eindruck machte, als würde er erst ab diesem Zeitpunkt als Gesprächspartner ernst genommen werden.
„In Ordnung, Herr Martinsson. Ich nehme an, Sie beziehen sich auf die theoretischen Grundlagen der militärischen Reaktionen auf einen feindlich gesinnten außerirdischen Erstkontakt.“
„Exakt.“
„Also gut“, fuhr Engström mit herausfordernder Stimme fort. „Wie lautet das Codewort?“
Mikkael Martinsson blinzelte, atmete ein und blickte dem grauhaarigen Wissenschaftler fest in die Augen. Seine Antwort war knapp, sachlich und emotionslos.
„Tunguska.“
Tag 4496
Camille Saint-Saëns’ ‚Danse Macabre‘ strebt mit der Eskalation der immer schriller und aufgeregter klingenden Piccoloflöten und dem Fundament der die Grundtöne untermalenden Oboen seinem ekstatischen Höhepunkt entgegen, als GAIA mit halb zerfetztem Sonnenschild in die Umlaufbahn von Tartaros eintritt.
Der gigantische, extrasolare, terrestrische Planet, der erst Jahrzehnte später von einem niederländischen Astronomen entdeckt und nach dem griechischen Wort für ‚Unterwelt‘ benannt werden würde, verfügt neben der erdähnlichen Ionosphäre über eine magnetische, halbtransparente Stratosphäre aus temporären Hochfrequenzwellen, die in der multidimensionalen Komponente Ausdruck findet.
Erebos, der Ozean des Planeten, der über siebzig Prozent der Oberfläche bedeckt, verleiht dem Himmelskörper seine dunkelgrüne Färbung.
Die hellrote Landmasse, die ‚Elysium‘ heißen wird, ist deutlich zu erkennen, ihre Küstenränder sind scharf umrissen. Nimbostrati und Stratokumuli in unterschiedlichen Olivschattierungen beherrschen wuchernd den Himmel.
Die wellenförmigen Wolkenschichten wirken wie eine spiegelverkehrte Projektion der Wassermasse unter ihnen.
Teile der Außenhülle, des Siliziumkarbitrings und der Großteil der Nutzlast der Weltraumsonde verglühen beim Eintritt in die negativ geladene Atmosphäre und erzeugen einen gleißenden gelblich glühenden Schweif, der einen dunkelblauen Schleier hinter sich herzieht, als GAIA der Rundung der Planetenkrümmung folgt und eine Narbe aus Licht in den Himmel schneidet.
Die gewaltige Gravitation von Tartaros zieht die Sonde in Richtung Zentrum, sodass sie zu sinken beginnt und aus dem Schleier aus Rauch eine abwärts gerichtete Kurve wird.
Während der blaue Riese am Horizont untergeht und die Wolkenformationen in gleißende Farben taucht, geht der rote Zwerg auf und färbt den Himmel violett.
Fagotte, Hörner und Posaunen treten in den Vordergrund der Komposition und werden von der großen Trommel übertönt, die die Eskalation des Musikstücks einläutet, während der Lauf der Solovioline, der ursprünglich eine Gesangsmelodie war, eine Geschichte erzählt, die wortlos vom Vergehen des Lebens und dem Sein in der Nachwelt kündet.
Im Sturz versuchen die Überreste der chemischen Triebwerke der Sonde die Flugbahn zu korrigieren, doch die leckgeschlagenen Treibstofftanks liefern keinen Antrieb mehr.
Die vielarmigen, einäugigen Hekatoncheiren, die die dominante karnivore Lebensform auf Tartaros bilden, erheben ihre Tentakel, wenden ihre in mehrere Segmente unterteilten Köpfe dem Himmel zu und blicken dem herabfallenden, flammenden Objekt nach, das durch die Atmosphäre rast und mit einem Knall die Schallmauer durchbricht.
Ohne Distickstofftetroxid und Methylhydrazin ist es GAIA unmöglich, den drohenden Absturz zu verhindern. Einem Sterbenden gleich, dessen Leben an seinem inneren Auge an ihm vorbeizieht, fassen die investigativen Instrumente der Sonde den sichtbaren Bereich von Tartaros zusammen zu spektroskopisch, teleskopisch, astrometrisch und photometrisch erhobenen telemetrischen Datenpaketen, die sie mithilfe der Hochgewinn-Phased-Array-Antenne an die Erde zu übermitteln versucht.
Unter ihr schlägt der den Planeten umfassende Ozean Wellen, als die Sonde immer tiefer sinkt, eine breite Schneise durch das dunkelgrüne Wasser zieht und mit der Kraft von 21 Megatonnen auf der Landmasse des Superkontinentes einschlägt, der die subjektive Nordseite des Exoplaneten bedeckt.
Der Totentanz kulminiert mit Pauken und Trompeten in einer infernalen Progression, deren Finale von den scheppernden Klängen eines Beckens begleitet und abrupt von der großen Trommel beendet wird.
Einen Tag, bevor Maximilien de Robespierre auf der Guillotine hingerichtet wurde und die letzten Stunden der Herrschaft der Jakobiner eingeläutet wurden, lag Aaron Martinsson unter den Zweigen einer Fichte und beobachtete das Terrain durch sein Fernglas. Neben ihm lag in einer Senke sein Enkel Geiraldur.
Der Junge drückte den Schaft des M.71-Jagdge-wehrs fest an seine linke Schulter, während seine rechte Hand den hölzernen Lauf umfasste und sein im Erdreich aufgestützter Ellenbogen die Mündung ausbalancierte.
Sein Blick erfasste kaum mehr als den Nebel, der aus dem Unterholz kroch, doch seine Sinne waren hellwach.
Er schwitzte. Die Tarnung aus Erde und Dreck, die sie sich in die Gesichter geschmiert hatten, um ihre helle Hautfarbe zu verdecken, juckte erbärmlich.
„Wie lange noch, Afi?“
Seine Stimme war kaum lauter als das Echo des Windes, der durch die Baumkronen flüsterte, doch sein Großvater konnte seine Worte in der Geräuschkulisse des Waldes und seiner Bewohner problemlos verstehen.
„Bis es Zeit ist, Junge. Und jetzt sei still. Sie können dich hören.“
„Wen meinst du?“
„Alle.“
Es raschelte im Unterholz. Irgendwo rief ein Käuzchen. Das kehlige Grollen eines Knurrens ertönte in der Nähe und jagte Geiraldur eine Gänsehaut über den Körper. Ein unvorsichtiges, vorlautes Jungtier bellte eine herausfordernde Antwort und verstummte.
Mit majestätischen Schritten erschien vor ihren Augen ein gewaltiger Hirsch auf der Lichtung. Ein stattlicher Zwölfender, der aufgrund seiner Größe mindestens 300 Kilogramm wiegen musste.
„Ganz ruhig“, flüsterte Aaron seinem Enkel zu. „Denk an deine Atmung.“
Geiraldur umfasste das Gewehr fester und blinzelte sich vor Erregung zitternd einen Schweißtropfen aus dem Auge.
Er brachte das Tier auf eine Flucht mit Korn und Kimme, atmete tief ein und drückte ab.
Der Schuss war ohrenbetäubend.
Der aufgescheuchte, unverletzte Hirsch galoppierte durch den Wald davon und war schon bald darauf nicht mehr zu sehen.
„Ich habe geatmet, Afi! Genau, wie du gesagt hast!“
Aaron lächelte, aber sein Blick war mitleidig, sein Gesichtsausdruck ernst.
„Geiraldur, du musst dich konzentrieren. Ich habe dir gesagt, du musst einatmen und schießen, während du ausatmest, sonst verlierst du deinen Fokus. Weißt du noch, wodurch?“
„Ja, Afi. Durch meinen Herzschlag.“
„Richtig. Dein Puls bringt dich aus dem Takt der Jagd.“
„Es tut mir leid, Afi. Ich mache es besser, das nächste Mal.“
„Schon gut, mein Junge. Wir haben noch viel Zeit, um uns bereit zu machen. Und wenn wir deine Atmung im Griff haben, trainieren wir den perfekten Blattschuss.“
Primärbehörde:
National Aeronautics and Space Administration
Sekundärbehörde:
European Space Agency
Reflexion / Auswertung der empfangenen Datenpakete
Moderation: Dr. Charles Xavier Manning
Techniker: Officer Philipp Henderson
Manning: Am 25. Juni 2008 erreichte die ESA um 11:13 Uhr das Datenpaket einer unbekannten Sonde.
Die Kennzeichnung und algorithmische Verschlüsselung, sowie die übermittelten Dateiformate, lassen nur den Schluss zu, dass es sich dabei um eine Weltraumsonde der NASA handelt.
Die bordeigene Atomuhr schien stehen geblieben zu sein, bei einer Anzeige vom 18. Juli 2014. Entweder ist also von einem Defekt der Bordinstrumente auszugehen, oder von der hypothetischen, aber unwahrscheinlichen Prämisse von Daten aus der Zukunft. Officer Henderson, bitte schildern Sie Ihren Eindruck der Geschehnisse von der Nacht vom 25. auf den 26. Juni.
Henderson: Zu besagter Zeit waren neben mir noch zwei Techniker im Dienst, die administrativen Tätigkeiten nachgingen. Gegen 17:05 Uhr erhielten wir dann ohne Anmeldung einige Datenpakete via Fatline. Zuerst wirkte es wie eine Auswertung von Tonaufnahmen und Bildmaterial, die von jeder ordinären Sonde hätte stammen können, aber da war etwas merkwürdig an der Sache.
Manning: Inwiefern merkwürdig? Präziser, bitte.
Henderson: Na, zum einen war da, wie Sie ja eingangs erwähnten, die Atomuhr. Den Daten zufolge war sie ja stehengeblieben, im Jahr 2014, also quasi in sechs Jahren. Aber da war noch etwas anderes. Es hatte zu tun mit dem Verschlüsselungscode der Datenpakete. Der Code wies große Ähnlichkeit mit den gängigen Programmierungssequenzen der NASA, doch er schien eine Art evolutionär weiterentwickelter Codestrang zu sein.
Manning: Aus der Zukunft also. Ist es das, was Sie damit sagen wollen? Der Code ist von der NASA, aber er wird erst noch geschrieben werden?
Henderson: Äh ... ja. So was in der Art. Aber ... da sind natürlich noch die Daten an sich. Die Bilder. Mein Gott! Die Bilder.
Manning: Sprechen Sie von den Aufnahmen des unbekannten Exoplaneten, die übermittelt wurden, zusammen mit den telemetrischen Daten und einer Sammlung klassischer Musikstücke?
Henderson: So ist es.
Manning: Was war mit den Bildern?
Henderson: Erst einmal waren die Aufnahmen verstörend fremdartig. Ein grünes Meer. Ein roter Kontinent. Am Horizont ein blauer Riese und ganz klar ein aufgehender roter Zwerg.
Der Schnappschuss eines bisher unentdeckten Doppelsternsystems. Die letzte Aufnahme zeigte allerdings mehr als das. Sie wurde nahe der Oberfläche aufgenommen.
Wenn eine Sonde also abgestürzt sein sollte, muss sie die Aufnahmen gemacht, zu einem Datenpaket komprimiert und abgesendet haben, während sie abstürzte und kurz bevor sie auf der Oberfläche aufschlug. Das hätte man mit heutiger Technik nie geschafft.
Manning: Was war auf der letzten Aufnahme zu sehen?
Henderson: Roter Sand. Dunkle grüne Wassermassen, die an die Küste anbranden. Auf dem Festland sind Gestalten zu erkennen, auf deren Stirn ein einzelnes Auge zu sehen ist, wie bei einem Zyklopen. Arme, die wie Tentakel aussehen und sich der Kamera entgegenstrecken. Fremdartige, blasse, nackte Lebewesen. Millionen von ihnen.
Manning: Aber das war nicht alles, was die Auswertung der dekomprimierten Datenpakete ergab, oder?
Henderson: Nein. Außerdem erhielten wir die Anleitungen zum Bau einer Art Konstruktion oder Maschine. Sie enthielten auch dezidierte Anweisungen, wie mit der Gerätschaft umzugehen war und wie sie aufbewahrt sollte.
Manning: Was für eine Maschine war das?
Henderson: Sie sah aus wie ein metallener Schuhkarton, der zur Aufbewahrung von Gegenständen dienen sollte. Ich denke, aufgrund ihrer Bestandteile könnte man die Maschine als einen sich temporär entgegengesetzt entwickelnden, synthetischen, pseudobiologischen Organismus bezeichnen.
Manning: Sie meinen also, so etwas wie eine Zeitmaschine?
Henderson: Nein, ich meine nicht nur so etwas, sondern genau das. Eine lebendige Maschine, die rückwärts durch die Zeit reist. Michael J. Fox wäre stolz auf uns gewesen, von Christopher Lloyd ganz zu schweigen.
Manning: Ich verstehe nicht.
Henderson: Ein Insider. Vergessen Sie‘s.
Manning: Und was war nun mit der Maschine?
Henderson: Na ja, wir bauten sie, sperrten sie weg und bewahrten sie auf.
Manning: Für wen bewahrten Sie sie auf?
Henderson: Ganz ehrlich? Das will ich gar nicht wissen. Ab einem gewissen Punkt habe ich einfach den Überblick verloren und mich einfach auf meinen Teil des Ganzen konzentriert, in der Hoffnung, dass sich irgendwann alles von selbst zusammenfügen und irgendwie einen Sinn ergeben würde.
Manning: Was meinen Sie damit?
Henderson: Na ja, anscheinend werden wir die Antwort einer Frage erhalten haben, die wir irgendwann einmal gestellt haben werden. Oder wir sind in der Position, auf eine Antwort zu reagieren, deren Frage wir durch unser bloßes Vorhandensein provoziert haben werden.
Wer da keinen Knoten im Hirn bekommt, gehört eingeliefert, wenn Sie mich fragen.
Manning: Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, dass Sie gar nicht wissen wollen, für wen Sie die Kapsel aufbewahren?
Henderson: Vielleicht darf ich es nicht wissen, sonst wüsste ich es ja, oder? Ich meine, es könnte ja mein Sohn sein oder dessen Sohn, für den diese Information bestimmt ist. Und wenn ich Kenntnis davon hätte, würde alleine dieser Umstand vielleicht dafür sorgen, dass das, was eintreten muss, niemals geschieht. Also ... ich bleibe dabei. Manche Dinge will ich gar nicht wissen.
Tag 875
Planmäßig erreicht die Sonde den Orbit des Sonne-Erde-Lagrange-Punktes und nimmt Fahrt auf, als die chemischen Triebwerke eine Kurskorrektur vornehmen und die hocheffizienten Solarpaneele aus Dreischicht-Galliumarsenid-Zellen in Optimalausrichtung zur Sonne bringen.
Mit den ausklingenden Tönen der beiden Fagotte endet das Solistenquartett ‚Recordare‘ und das Requiem von Wolfgang Amadeus Mozart geht über in den choralen Teil ‚Confutatis‘, der die Verbundenheit des Komponisten zur klassischen Kirchenmusik widerspiegelt, die in seinen letzten Lebensmonaten sein künstlerisches Schaffen prägte.
Neben den Solostimmen, die hauptsächlich für Arien eingesetzt werden und aufgrund der Haupttonart d-Moll die gewünschten Assoziationen der dunklen Romantik melancholischer Klassik vermitteln, wird die Komposition beherrscht von den beiden Bassetthörnern, die den Fagotten, Trompeten, Posaunen und Pauken gerade genug Raum geben, um ihre Stimmen einer größeren Harmonie unterzuordnen, während die Orgel deutlich die düstere Stimmung unterstreicht.
Die konvexen Sekundärspiegel der Drei-Spiegel-Korsch-Teleskope erfassen den Meteoritenschauer nur wenige Augenblicke, bevor die transneptunischen Gesteinsbrocken die Sonde treffen und den Rumpf durchschlagen. Das Sonnensegel reißt.
Trümmerfragmente der Solarpaneele, des aus zwei Laserstrahlen bestehenden Interferometers, der CCD-Detektoren und des größten Teils des Kühlradiators werden ins All geschleudert.
Die Kalibrierungsphase, während der die ekliptischen Pole vermessen werden sollten, wird jäh unterbrochen und das Programm des ‚Ecliptic Poles Scan Law‘-Modus stürzt ab, bevor der Computer in den ‚Nominal Scan Law‘-Modus wechseln kann.
Die kritische Phasenraumdichte wird überschritten. Die Atome der Sonde wechseln abrupt in den Bose-Einstein-Kondensat-Zustand, der die objektiven Quanteneigenschaften umkehrt.
Raumzeitverzerrungen schlagen vierdimensionale Wellen im Kosmos, die temporär in beide Richtungen fließen, sodass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft für einen flüchtigen Augenblick eins sind und dann auseinanderdriften wie sich einander abstoßende Magnete gegensätzlicher Polarität.
Die bordeigene hochstabile 10-MHz-Rubidium-Atomuhr bleibt stehen bei dem Versuch, sowohl vorwärts als auch rückwärts zu laufen.
Das ‚Mission Operations Center‘ des Europäischen Raumflugkontrollzentrums in Darmstadt versucht mithilfe des ‚Gary-Whitehead-Manövers‘ die Sonde wieder auf Kurs zu bringen, doch die entgegen der Ursprungsrichtung fließenden Raumzeitpartikel der Sonde reagieren chronometrisch versetzt auf die Befehle des ESTRACK-Netzwerks, sodass sich die Prinzipien von Ursache und Wirkung umkehren.
Ohne den Kurs zu korrigieren, taumelt GAIA hinaus in die unergründlichen Tiefen des Weltraums, wo sie den kosmischen Kräften und der Gravitation der darin beheimateten Welten schutzlos ausgeliefert ist, während ‚Agnus Dei‘ endet und übergeht in das Sopransolo des ‚Lux aeterna‘.
Einer ungewissen Zukunft entgegentaumelnd, driftet GAIA vom Kurs ab und schlittert in eine ungeplante Flugbahn einlenkend schwerelos durch das All.
Am Tag nach Johann Wolfgang von Goethes Tod streifte Geiraldur mit seinem gerade volljährig gewordenen Sohn Petter durch den Vaglaskógur. Das weitläufige Naturschutzgebiet, in dem vorwiegend Birken wuchsen und das mit seinen 300 Hektar das zweitgrößte Waldgebiet Islands war, schien in der Morgendämmerung zu atmen.
Sie liefen schweigend nebeneinander her. Der ernste Blick seines Vaters, der von seiner Konzentration und Enttäuschung zeugte, erlaubte dem Jungen nicht, ihn anzusprechen, ohne zuvor angesprochen worden zu sein.
„Das war ein guter Schuss“, sagte Geiraldur mit versteinerter Miene zu seinem Sohn.
„Ich habe nicht getroffen, Faðir.“
„Das macht nichts, du wirst bereit sein, wenn du es musst. Daran habe ich keinen Zweifel. Weißt du, was dein Fehler war, Junge?“
„Die Atmung?“
„Richtig. Du musst erst einatmen und während des Ausatmens schießen, damit deine Hand ruhig bleibt und nicht durch den Rhythmus deines Herzschlags gestört wird.“
„Ja, Faðir.“
„Weißt du, warum das so ist?“
„Nein, Faðir.“
„Weil du im Takt deines Herzens atmest, wenn du nicht darüber nachdenkst. Wenn dein Körper rein instinktiv handelt, ist das ganze System mit sich im Einklang. Und nichts und niemand kann dich dann davon abhalten, zu tun, was getan werden muss.“
Petter stieg mit vorsichtigen Schritten über ein Stück Totholz, das auf dem Pfad lag. Dabei verlagerte der Junge das Gewicht des Gewehrs in seinen Armen.
Die Sonne versank mit einem glühenden Leuchten am Horizont. Wispernd regten sich die nachtaktiven Tiere des Waldes in ihren Höhlen und Nestern, als spürten sie die herannahende Finsternis.
„Und weißt du, wie man seine Beute mit einem einzigen Schuss erlegt?“
Petter dachte nach, bevor er antwortete, obwohl er die Antwort wusste.
„Mit einem Blattschuss, Faðir.“
„Richtig. Was unterscheidet einen Blattschuss von einem gewöhnlichen Schuss? Und warum ist er bei der Erlegung der Beute jedem anderen vorzuziehen?“
„Ein Blattschuss“, wiederholte Petter die Worte seines Vaters, die sich in sein Gedächtnis gebrannt hatten, „ist ein finaler Schuss. Bei einem indirekten Treffer in die Extremitäten kann sich das Beutetier möglicherweise noch wegschleppen und muss unnötig leiden. Ein Blattschuss dagegen wird direkt zwischen die Augen platziert, um das Tier sofort zu töten, was nicht nur effektiv ist, sondern ... sondern ... ich habe das Wort vergessen, Faðir.“
„Human, mein Junge. Es ist human. Man lässt seine Beute nicht leiden, das tun nur Monster. Hast du das verstanden, Junge?“
„Ja, Faðir.“
„Also, was ist dein Ziel, wenn du auf die Jagd gehst?“
„Ein Blattschuss, Faðir.“
„Warum?“
„Weil es human ist.“
„Warum noch?“
„Es ist effektiv.“
„Warum?“
„Weil ein effektiver Blattschuss eine Schlacht beenden kann, bevor sie beginnt.“
„Und warum ist das erstrebenswert, Junge?“
„Weil eine Schlacht, die nicht stattfindet, besser ist als ein Krieg, den man erst noch gewinnen muss.“
Tag 0
Exakt um 09:12 Uhr zünden die Triebwerke der vierstufigen Sojus-ST-Rakete vom ‚Centre Spatial Guyanais‘ in Französisch-Guyana und bringen die 2035 Kilogramm schwere Sonde in eine orbitale Umlaufbahn in einer Höhe von 175 Kilometern.
GAIA wird erfolgreich auf eine Transferbahn gebracht, bevor die reibungslose Abtrennung der Fregat-Stufe erfolgt und genau 34 Minuten später das Sonnenschild ausgefahren wird.
Inmitten des Lärms der Zündraketen geht das ‚Prélude‘ der ‚Suite bergamasque‘ von Claude Debussy unter und auch der als ‚Menuet‘ betitelte zweite Satz verhallt ungehört, doch ‚Clair de Lune‘, der dritte Satz des Musikstückes, der passender-weise den Glanz des Mondscheins vertont, ist glasklar zu hören.
Die Fernsehstationen, die exklusiv dem Start der Sonde beiwohnen, die seit Jahren das priorisierte Projekt der ESA ist, übertragen die beinahe verstörend schöne, hypnotische und ästhetisch fremdartig wirkende Kombination der Ton- und Bildaufnahmen der die Erdatmosphäre verlassenden Weltraumsonde. Ihr Aufbruch wird von der berühmten in Des-Dur gehaltenen Komposition begleitet, die Debussy ursprünglich ‚Promenade sentimentale‘ genannt hat. Das ‚Globale Astrometrische Interferometer für die Astrophysik‘, dessen offizielle im Vorfeld formulierte Missionsziele unter anderem beinhalten mehr als eine Milliarde Objekte zu vermessen, deren Magnitude und Farbe zu ermitteln und die Temperatur chemische Zusammensetzung, Radialgeschwindigkeit und Oberflächengravitation von bis zu zweihundert Millionen Sternen zu bestimmen, rast mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 82.500 Metern in der Sekunde durch das All. Zu den weiteren Missionszielen der Sonde gehört die Erfassung und Sammlung umfassender Daten über Asteroiden, Kometen, Exoplaneten, braunen und weißen Zwergen, Supernovae, aktiver Galaxien und Quasaren innerhalb und außerhalb des irdischen Sonnensystems. Darüber hinaus hat GAIA jedoch noch einen anderen Daseinszweck, der dem simplen Wunsch nach Verständigung entspringt: Die Sonde sendet eine Botschaft. Eine wortlose Frage wird mittels der universellen Sprache der Mathematik gestellt, die durch eigens für die Mission zusammengestellte, klassische Musikstücke in sämtlichen Wellenlängen und Funkebenen übertragen wird und an alle gerichtet ist, die dazu fähig sind, zuzuhören.
Wahrnehmungsbericht - 11.07.1908
Ausführender: Major Andrey Petrov
Auskunftgebender: Kursant Jurij Tabakov
Major Petrov: Ziel dieser Anhörung ist es, die Ereignisse vom 30. 06. 1908 auszuwerten, welche sich in der russischen Taiga zugetragen haben. Die Tunguska-Region wurde nahezu vollständig zerstört. Ursache der Katastrophe war ein extraterrestrischer Himmelskörper, welcher gegen 07:19 Uhr in die Erdatmosphäre eindrang und in einer Höhe von geschätzt 42 Kilometern implodierte.
Es wurde berichtet, dass das Phänomen eine Zeit lang andauerte, obwohl andere Quelle davon sprachen, dass es so schnell vorüber war, dass man mit Ausnahme der entstandenen Schäden nicht mit Sicherheit hätte sagen können, dass es überhaupt stattgefunden hatte.
Bis in eine ungefähre Entfernung von 35 Kilometern, ausgehend vom Epizentrum, wurden sämtliche Bäume entwurzelt. Experten schätzen, dass auf einem Gebiet von über 2000 Quadratkilometern ungefähr sechzig Millionen Bäume umgeknickt wurden. Noch in über 500 Kilometern Entfernung berichteten Passagiere der transsibirischen Eisenbahn von einem hellen Feuerschein und der Druckwelle der Detonation.
In allen meteorologischen Stationen Europas und Nordamerikas wurde die Erschütterung der Erdrinde registriert, jedoch konnte kein Krater als definitiver Einschlagspunkt eines kosmischen Fremdkörpers identifiziert werden.
Der Befragte, Kursant Jurij Tabakov, war diensthabender Wachmann in Außenposten 42, der an die Tunguska-Region angrenzt.
Kursant Tabakov, Ihre Aussage erfolgt unter Eid und bei nachgewiesenem Meineid droht Ihnen eine mehrjährige Haftstrafe. Haben Sie das verstanden?
Kursant Tabakov: Jawohl, Herr Major.
Major Petrov: Schildern Sie Ihre Beobachtungen der Ereignisse.
Kursant Tabakov: Es war Tag, wie jeder andere. Am Morgen hielten wir Ausschau nach möglichen Feindbewegungen oder Grenzüberschreitungen. Wilderer schossen paar Bären. Ein Wolfsrudel durchquerte die Taiga. Regenschauer zog über das Land. Nichts Ungewöhnliches. Doch dann erschienen diese Lichter am Himmel.
Major Petrov: Welche Lichter?
Kursant Tabakov: Das ist schwer zu sagen, Herr Major. Sie waren riesig und irgendwie violett, aber auch orange und rot und blau. Sie waren über den Wolken und wurden heller und begannen zu flackern, wie Stroboskop. Sehr hell und groß.
Major Petrov: Die Aufnahmen der Kameras waren nicht zu verwerten?
Kursant Tabakov: Leider nicht, Herr Major. Sie wurden anscheinend gelöscht, als das Objekt in die Luft … als es explodierte. Elektromagnetischer Puls, möglicherweise.
Major Petrov: Was ist dann geschehen?
Kursant Tabakov: Dann ging eigentlich alles ganz schnell. Es brannte überall, schon bevor der Flammenregen auf Taiga hernieder ging. Es war irgendwie so, als ob man sich Film rückwärts anschaut. Ich meine, Feuer war schon da, bevor Flammen die Erde berührten. Könnte an Hitze gelegen haben, aber ich hatte Gefühl, etwas an den zeitlichen Abläufen war irgendwie ... falsch. Verdreht. Und dann, kurz bevor Meteor hochging und diese ... komischen Viecher aus den Trümmern stiegen und ...
Major Petrov: Welche Viecher?
Kursant Tabakov: Schwer zu sagen, Herr Major. Sie waren grob geschätzt sieben Meter groß und hatten Arme, die aussahen wie von Oktopus. Es waren unendlich viele. Sie gruben sich in Erde wie Maden oder Würmer es tun. Mit flatternden Bewegungen. Fremdartig, in jeder Hinsicht. Ungeheuer.
Major Petrov: Wie viel Zeit verging ungefähr, bis das Militär eintraf?
Kursant Tabakov: Das ist ebenfalls schwer zu sagen, Herr Major.
Mein Zeitgefühl sagt mir, dass es nur wenige Minuten gewesen waren, aber später erfuhr ich, dass das vierte Bataillon erst zwei Stunden nach Einschlag von Meteor an Ort und Stelle war.
Major Petrov: Haben Sie dafür eine Erklärung?
Kursant Tabakov: Nein, Herr Major, habe ich nicht. Aber der Zeitcode der Aufnahmen von Hochfrequenzmikrofon, die erhalten sind, bestätigten die offizielle Version. Um 13:17 Uhr erreichten die Truppen havariertes Waldgebiet und die Situation konnte unter Kontrolle gebracht werden.
Das heißt, es gab nichts mehr, das man unter Kontrolle hätte bringen müssen, denn es gab keine klassische Feindberührung. Was auch immer für Kreaturen das waren, die da vom Himmel gefallen sind, sie haben sich in Luft aufgelöst, als hätte Erdboden sie verschluckt.
Interessant waren allerdings die Tonaufnahmen, die übermittelt wurden, als Meteor sich noch befand in Stratosphäre der Erde.
Es handelte sich um Lieblingslied meiner Frau, deshalb habe ich es sofort erkannt. Es war ‚Nocturne Opus 9 Nummer 2‘ von Frederic Chopin.
Als die HMS Challenger als erstes Dampfschiff der Welt den südlichen Polarkreis überquerte, lag Petter Martinsson in der schlammigen Erde der russischen Taiga und beobachtete die Umgebung.
Es war bitterkalt. Der Frost der vergangenen Nacht bedeckte den Waldboden und hatte die spärlichen Sträucher mit Raureif überzogen, doch der junge Mann spürte die Kälte nicht.
In ihm loderte das Feuer des Eifers, angefacht von den Geschichten seines Großvaters und genährt durch die Ausbildung, die sein Vater ihm hatte angedeihen lassen.
Der Brief mit den Koordinaten und Zeitangaben, der ihn hierhergeführt hatte, in die Region Krasnojarsk, die ‚Steinige Tunguska‘, wie die Bauern sie nannten, war mittlerweile abgegriffen und fast unleserlich, doch er konnte den Wortlaut mühelos aus dem Gedächtnis rezitieren.
Das Beaumont-Gewehr M. 71, das sich seit Generationen im Besitz seiner Familie befand und stets an den ältesten Sohn weitergegeben wurde, fühlte sich nach den unzähligen Stunden, in denen er gelernt hatte, zu schießen, die Waffe zu zerlegen, zu reinigen und wieder zusammenzusetzen, mittlerweile für ihn an wie die Verlängerung seines Körpers.
Sie setzte um, was er sah, hörte und empfand, als ob zwischen dem, was er dachte und dem, was seine Hände taten, kein Unterschied bestünde. Jeder Punkt in seinem Sichtfeld war ein potentielles Ziel.
Nichts und niemand war vor ihm sicher.
Die finstere, dicht bewaldete Ebene lag im Schatten. Er konnte sie ohne Anstrengung von dem Felsvorsprung aus überblicken, auf dem er Stellung bezogen hatte.
Nebel kam auf und waberte durch das Unterholz.
Es hatte aufgehört zu regnen. Die plötzlich eintretende Stille hatte etwas Atemloses an sich.
Ein tiefes Raunen ging durch die Wälder. Vögel flogen aufgeschreckt in Scharen davon und verdunkelten den Himmel.
Die Erde bebte.
Die Baumkronen erzitterten, als sich etwas unter ihnen zu regen begann.
Der Waldboden brach auf.
Die fleischigen, fremdartigen Körper der Hekatoncheiren aus Homers Sagen, deren leichenblasse, nackte Erscheinung Petter vage an aufrecht gehende Tintenfische erinnerte, wühlten sich mit flatternden Bewegungen aus dem Erdreich.
Eilig strebten sie einem Zentrum entgegen.
Sie flossen ineinander, schienen eins zu werden und verschmolzen zu einem gigantischen Lebewesen.
Auf der gewaltigen Stirn der aus vielen Leibern bestehenden Muttermasse erschien ein Facettenauge, das aus unzähligen Pupillen bestand.
Das enorme, geradezu obszön überproportioniert große Sehorgan, das den Großteil des Schädels des riesigen Ungeheuers einnahm, gaffte suchend umher.
Mit einem lauten Stöhnen setzte sich das Monstrum mit den gemächlichen, schleppenden Bewegungen eines Titanen in Bewegung.
Sein Körper pulsierte, während es sich mit stetig wachsenden und sich unablässig vervielfältigenden Gliedmaßen immer weiter über das Waldgebiet erhob und seinen Blick gen Westen richtete, Krasnojarsk entgegen. Begierig schnaubte es auf, als würde es die Beute wittern, die es dort schlagen konnte. Seine Schritte ließen die Erde erbeben. Panisch flohen die Tiere des Waldes durch das Unterholz.
Petter wartete geduldig, bis das gigantische Ungetüm an seinem Felsvorsprung vorbeistapfte. Wie in Zeitlupe öffnete sich das dreilappige Lid der Bestie und die enorme Kugel des Augapfels drehte sich in Petters Richtung.
Das Monster blickte ihn an. Aushärtende Schuppen einer den Koloss umhüllenden Panzerung wuchsen an seinem Körper empor, wurden starr und undurchdringlich, und Petter begriff intuitiv, dass er sich in einem Zeitfenster befand, das sich unaufhaltsam und mit zunehmendem Tempo schloss. Mit ruhiger Hand legte er das Gewehr an.
Er vertraute seinen Instinkten, nahm sein Ziel ins Visier, atmete ein und drückte exakt in dem Augenblick ab, in dem er ausatmete.
Bei Texten wie diesem denke ich stets, dass ich mir meine Einsendung hätte schenken können. Wunderbar vielschichtig & komplex, so dass ich über das Techbabbel gerne hinweg sehe. Danke für diesen Text!
AntwortenLöschenGerade darin sehe ich immer Chancen. Wir Autoren sind doch in einem ständigen Entwicklungsprozess. Wenn ich mir alte Texte von mir ansehe, kann ich auch oft nur mit dem Kopf schütteln. (Hast Du meine gestrige Antwortmail erhalten, Tobias?)
LöschenIch erkenne an: Das ist gut durchdacht, komplex und hat eine interessante Handlung. Mein Ding ist es nicht, obwohl ich Stross und Wilson zu lesen geschafft habe. Figuren und Plot ersaufen meiner Meinung nach in einer Flut von 'Fachjargon' (Lagemann nannte es 'Techbabbel'). Meinem Geschmack nach wäre hier _deutlich_ weniger … mehr gewesen. Das ist natürlich Geschmackssache. Allein, irgendwann begann ich diese Parts nur queröesend zu überfliegen. Ich meine, vorgetragen auf der Bühne, und 70% der Zuhörer sind nach der Hälfte ausgestiegen.
AntwortenLöschenDen Plot im Kern, die 'Gegenübertragungs-Idee', im Grunde ein Begriff aus der Psychoanalyse, finde ich gut. Aber viel zu lang, insgesamt, und wo ich tatsächlich kürzen würde, ist vermutlich klar geworden ... Gruß Flac
Die Aussage zum Techbabbel finde ich interessant. Es gibt da, glaube ich, zwei Lager: manche lieben und suchen Techbabbel. Für mich ist es gelungen, wenn man es gut nachvollziehen kann. Und genau da liegt der Punkt. Hier hat jemand viel Fachwissen und setzte es ein. Mir haben die Verhöre gut gefallen.
LöschenMich stören die unnötig vielen Adjektive, die der Geschichte Kraft entziehen. Die Aneinanderreihungen von Fachbegriffen in Sätzen, die kein Ende nehmen wollen, lassen mich darauf schließen, dass sich der oder die Autorin fachlich wohl auskennt, aber dem nachzugehen, ist mir jetzt zu mühsam. Trotzdem erfüllt es, was mich angeht, seinen Zweck: Das sind eben Fachleute. Mir gefällt die Erwähnung von Musikstücken gut und diese werde ich rauskramen und anhören. Eine interessante Idee, die mich trotz gelegentlicher Fachschwafelei in ihren Bann zog.
AntwortenLöschenJa, die Musik hat mich auch erfreut. Mit Olga als Musikerin habe ich auch so ziemlich alle Parts nachvollziehen können. Beim Techtalk gibt es eine andere Ansicht.
LöschenIch bewundere die Autorin oder den Autor. Aber es ist sehr anstrengend zu lesen.
AntwortenLöschenMir gefallen Geschichten, die den Versuch unternehmen, eine nicht-lineare Zeit oder Zeitsprünge zu erzählen, und ich mag Geschichten über Tunguska. Das war schon bei Hohlbein spannend. Aber hier fehlt mir tatsächlich der rote Faden und obwohl ich seit Jahrzehnten SciFi lese war mir das "Techgebabel", wie es genannt wurde, auch zuviel, zumal es wenig zur Handlung beigetragen hat.
AntwortenLöschenEine Spezies von Tentakelwesen, die rückwärts durch die Zeit kommuniziert? Das erinnert mich stark an „Arrival“. Nur hat bei diesem Film am Ende alles einen Sinn ergeben. Hier geht alles kreuz und quer durcheinander. Die Handlung konzentriert sich nicht auf eine Handvoll Charaktere in einer aufeinander aufbauenden Handlung, sondern führt ständig neue Charaktere ein, die am Ende aber kaum eine Rolle spielen. Das Ganze noch auf verschiedenen Zeitebenen für maximale Verwirrung.
AntwortenLöschenEines der wenigen verbindenden Elemente ist eine Familie, die sich der Jagd verschrieben hat und deren jüngstes Mitglied dann die Muttermasse der Aliens abknallt. Waren die überhaupt feindlich? Das wird hier nirgendwo ersichtlich. Und warum geben sie der Menschheit eine Zeitreisetechnologie? Das macht hier überhaupt keinen Sinn.
Zu der konfusen Erzählweise und den ganzen Logikfehlern gesellen sich dann noch wissenschaftliche Fehler. Blaue Riesensterne sind recht junge Sonnen mit kurzer Lebensdauer. Zu kurz, als dass da intelligentes Leben eine Chance hätte. Zudem müssten erdähnliche Planeten sehr weit entfernt sein, da solche Sterne sehr strahlungsintensiv sind.
Fazit: Ich werde nicht so richtig schlau aus der Geschichte. Die Motivation der Aliens bleibt unklar und irgendwie hat ihre Ankunft was mit dem Tunguska-Zwischenfall zu tun, den ein Zeitreisender Jäger auflöst, indem er die Wesen tötet. Hä? Ist das vielleicht eine KI-Geschichte wie beim letzten Wettbewerb?