Habitatbereinigung
Nachrichtenfeed
Der Präsident der Vereinigten Staaten geht langsam nach vorne. Die Augen leuchten voller Triumph, das Kinn ist vorgeschoben in seiner üblichen Maske männlicher Entschlossenheit, die Rechte hält er geballt über den Kopf. Er lässt seinen Blick über die Menge schweifen, deren Größe die Kamera nicht zeigt. Wie immer spricht er ohne Konzept – die Zeiten, als seine Crew vor seinen unberechenbaren Ausbrüchen zitterte, sind vorbei. Er hat schon alles gesagt, was niemals hätte gesagt werden sollen und ist immer noch hier. Nachdem er ein paar Satzfragmente hervorgestoßen hat, schaut er zufrieden in die Kameras.
Diese Pausen sind gefürchtet, sie werden immer länger in den letzten Monaten, seine beginnende Demenz ist unübersehbar. Im Fernsehen blenden sie auf die Fahnen über, die vor einem gnadenlos blauen Himmel wehen. Darum sieht niemand, wie sein Blick bricht. Als ihm die Beine wegknicken und er in die Knie sinkt, sind seine Secret-Service-Leute bei ihm. Doch sie können nichts anderes tun, als ihn sanft zu Boden gleiten lassen – religiösen Betrachtern könnte die Assoziation einer Kreuzabnahme in den Sinn kommen. Dieses Mal gibt es noch nicht einmal einen winzigen Streifen Blut. Nichts weist darauf hin, warum er zusammengebrochen ist. Sein Gesicht ist entspannt und leer, kein Schmerz steht darin, noch nicht einmal Verwunderung. Er ist einfach von einem Moment auf den anderen vom Lebenden zum Toten geworden. Wie ausgeknipst.
Brutkontrolle TR-2536
Kontrolle 2: »Hast du auch keinen vergessen?«
Kontrolle 1: »Ganz sicher habe ich an alle gedacht.«
Kontrolle 2: »Gut. Auch wenn es schon eine Schande ist.«
Kontrolle 1: »Was?«
Kontrolle 2: »Die Vergeudung. Immerhin ist es eine ganze Generation.«
Kontrolle 1: »Ja. Aber sie ist aus dem Ruder gelaufen.«
Kontrolle 2: »Es muss eine spontane Mutation gewesen sein.«
Kontrolle 1: »Wieso denkst du das?«
Kontrolle 2: »Weil es das erste Mal ist, dass sie so außer Kontrolle geraten sind.«
Kontrolle 1: »Ich denke, dass es unsere Schuld ist.«
Nachrichtenfeed
Nach dem Tod des amerikanischen Präsidenten sind die Schlagzeilen voll davon. Was in den letzten Monaten wie eine ungewöhnliche Pechsträhne sehr, sehr reicher Menschen gewirkt hatte, schwillt nun zu einem gewaltigen Strom schlechter Nachrichten für Milliardäre an. Selbst die, von deren gehortetem Reichtum niemand wusste, erwischt es. Eben noch zählen sie heiter die Gewinne des Tages und im nächsten Moment klappen sie zusammen wie Marionetten, deren Fäden durchtrennt worden sind.
Wilde Mutmaßungen schwirren durch die Newsfeeds, Talkshows, Büros von Geheimdiensten, medizinischen Einrichtungen. Jede gesellschaftliche Fraktion mit Betroffenen beschuldigt ihre Gegner und es mangelt nicht an Bekennerschreiben. Doch ist der einzige einende Faktor ausufernder Besitz, der über die Maße menschlichen Anstands hinaus gewuchert ist.
Gemeinnützige Stiftungen können sich der großzügigen Gaben kaum erwehren, Geld wird in Mengen verschenkt, die die Unvorstellbarkeit des Reichtums Einzelner erst wirklich sichtbar macht. Doch das Sterben geht weiter.
Brutkontrolle TR-2536
Kontrolle 2: »Wieso denkst du, dass es unsere Schuld sein könnte?«
Kontrolle 1: »Die Habitaterwärmung wäre nicht nötig gewesen.«
Kontrolle 2: »Es sind nun mal bessere Bedingungen für unsere Brut.«
Kontrolle 1: »Ich erinnere mich an die Diskussion. Ich war dagegen.«
Kontrolle 2: »Das stimmt.«
Kontrolle 1: »Die anderen haben sich nur auf die Wirte bezogen und meinten, dass denen die paar Grad mehr nichts ausmachen würden.«
Kontrolle 2: »Haben sie ja auch nicht.«
Kontrolle 1: »In manchen Gegenden schon. Erinnerst du dich noch an dieses Unglück an dem schwarzen Steinheiligtum?«
Kontrolle 2: »Ach, es hat so viele gegeben. Unglücke meine ich. Ich habe schon lange nicht mehr aufgepasst. Wer konnte denn ahnen, dass ein paar Grad mehr alles aus dem Gleichgewicht bringen würde?«
Kontrolle 1: »Die Wirte haben es gewusst.«
Kontrolle 2: »Wie meinst du das?«
Kontrolle 1: »Wenn ich mich auf die Betreuung eines neuen Habitats vorbereite, lerne ich immer die Sprache der Wirte.«
Kontrolle 2: »Und?«
Kontrolle 1: »Sie wissen seit hundert Jahren, was ein gesteigerter Kohlendioxidgehalt mit ihrer Welt anstellen wird.«
Kontrolle 2: »Die Brut war jung und gedieh besonders gut.«
Kontrolle 1: »Und dann wurde sie übermütig.«
Kontrolle 2: »Vielleicht.«
Kontrolle 1: »Ganz sicher. Wir hätten sie stoppen müssen.«
Kontrolle 2: »Du hast recht.«
Kontrolle 1: »Wenn wir sie gestoppt hätten, müssten wir nicht von vorne anfangen.«
Forschungsstation eines Geheimdienstes
Eine korrekt gekleidete Frau (dunkelblauer Hosenanzug, hellblaues Hemd) mit straff zu einem Pferdeschwanz zurückgekämmten Haaren steigt aus dem Aufzug. Sie wird von einer fast genauso gekleideten Frau mit Afrokurzhaarfrisur empfangen.
»Hi! Mein Name ist Mary«, sagt sie und schüttelt der Neuankommenden die Hand.
»Hi, ich bin Nicole«, antwortet diese. Sie sind sich direkt sympathisch, ihr Lächeln ist auf jeden Fall echter als ihre Namen. »Ich bin sehr gespannt, worum es geht.«
»Danke, dass du kommen konntest. Ich muss meine Beobachtungen dringend jemandem zeigen.«
Sie gehen in einem schmucklosen Gang an unbeschrifteten Türen entlang. Nicole weiß nicht mal, ob der Aufzug sie nach oben oder nach unten gebracht hat. Das Auto, das sie am Flughafen abgeholt hat, hatte geschwärzte Scheiben, sodass sie nicht sehen konnte, wohin sie gefahren wurde. Aber sie ist am Ziel und hofft, mit ihrer Expertise weiterhelfen zu können.
Als Mary ihr Auge in einen Irisscan hält, sagt sie leichthin: »Wusstest du, dass Steve Jobs sich geweigert hat, seinen Krebs durch eine Operation behandeln zu lassen?«
Nicole braucht einen Moment, um einen Zusammenhang zu ihrem Besuch zu finden, darum fragt sie: »Wirklich? Warum?«
»Nun, er sagte, er würde der Schulmedizin nicht trauen.«
»Ja, das hat er so durchblicken lassen, jetzt erinnere ich mich. Du denkst, das war nicht das, was er meinte?«
Mary bietet Nicole einen Schreibtischstuhl an, damit sie beide auf denselben Bildschirm schauen können.
»Setz dich und genieß die Show!«
Sie klickt auf eine Präsentation und öffnet damit eine Diashow mit unappetitlichen Fotos von viel Blut, Schleim und glänzendem Gewebe, in dem hier und da ein weißlicher Knochen hindurchschimmert.
Nicole schluckt und fragt:
»Was sind das für Bilder?«
»Das sind Fotos, die die Pathologin gemacht hat.«
»Die Pathologin von Jobs?«
»Ja.«
Mary klickt so lange, bis der Bildschirm schwarz wird. Nicole schüttelt sich und fragt:
»Was sollte das sein? Ein menschlicher Körper?«
»Ja.«
»Wo sind die Organe?«
Mary zuckt mit den Schultern.
»Keine Ahnung.«
»Das war doch nur … Suppe«, meint Nicole. »Bist du sicher, dass das echt ist?«
Mary nickt.
»Ich kenne die Frau schon lange und vertraue ihr. Das ist echt.«
Nicole zieht die Augenbrauen zusammen.
»So was habe ich ja noch nie gesehen. Der Krebs hat ja gar nichts übrig gelassen von seinen Organen.«
Hauptverwaltung Brutkontrolle TR-2536
Kontrolle 2: »Wann impfen wir das Habitat mit der neuen Brut?«
Kontrolle 1: »Wir müssen warten.«
Kontrolle 2: »Worauf?«
Kontrolle 1: »Niemand weiß, in welchem Zustand der Planet sich stabilisieren wird. Es ist zu riskant, unsere nächste Generation unbekannten Bedingungen auszusetzen.«
Kontrolle 2: »Du hast recht.«
Kontrolle 1: »Außerdem brauchen unsere Kinder ein gewisses Maß an Zivilisation, um gedeihen zu können.«
Kontrolle 2: »Die geht hier ja gerade den Bach runter.«
Kontrolle 1: »Vielleicht können wir noch etwas retten, wenn wir jetzt unsere Brut opfern und die Welt hier wieder sich selbst überlassen.«
Kontrolle 2: »Du meinst, sie kriegen es wieder hin, die Wirte?«
Kontrolle 1: »Als wir hier zum ersten Mal eintrafen, lebten sie meist in Gemeinschaften, die an die sehr unterschiedlichen Umwelten erstaunlich gut angepasst waren. Sie hatten sehr wirkungsvolle Mittel, um nicht kooperative Mitglieder … sagen wir mal: in die Schranken zu weisen. Fast hätten wir unsere gesamte erste Brut verloren.«
Kontrolle 2: kichert »Naja, das hat sich ja nun zum Glück geändert. Einer der Schutzmechanismen unserer Kleinen: die Wirte gegeneinander auszuspielen.«
Kontrolle 1: »Das hat sich nun leider auch gegen uns gewendet.«
Kontrolle 2: »Wer konnte denn ahnen, dass diese Spezies hier die eigenen Interessen so komplett aus den Augen verlieren könnte.«
Kontrolle 1: »Du warst nicht schon vor hundert Jahren hier?«
Kontrolle 2: »Nein, wieso?«
Kontrolle 1: »Da gab es diverse Entwicklungen, Weltkriege, Revolutionen und in einigen Staaten ist es Anführern gelungen, die Empathie und Kooperation ins Umgekehrte zu drehen. Schreckliche Dinge sind geschehen.«
Kontrolle 2: »Und warum habt ihr die Brut nicht gewarnt?«
Kontrolle 1: »Mein Vorgänger hielt es für einen interessanten Ansatz und hat angeregt, dass unsere Brut sich das zum Vorbild nimmt. Je mehr Aufregung um unwichtige Dinge und je wilder die Feindbilder, desto unauffälliger gehen unsere anspruchsvollen Nachkommen in der Masse unter. Dazu noch zu etablieren, dass wenn jeder für sich selbst sorgt, für alle gesorgt ist, hat das Experiment abgerundet. Und die Wirte leisteten kaum Widerstand. Im Gegenteil, es gab erstaunlich viele, die sich selbst einen Vorteil davon versprachen. So lange, bis das ganze System umgestellt war und sich kaum noch jemand daran erinnerte, wie es vorher gewesen war. Darum ließ sich die Brut nicht mehr davon abbringen. Die Sache mit dem Egoismus lief einfach zu gut.«
Forschungsstation eines Geheimdienstes
»Das war nicht der Krebs«, sagt Mary, während sie einen anderen Ordner auf dem Computer anwählt. »Von dem waren auch keine Spuren zu finden.«
»Was ist es dann?«
Mary öffnet die nächste Diashow.
»Schau mal hier. Und hier. Und hier.«
Beide schauen den wechselnden Bildern auf dem Bildschirm zu. Nicole ist froh, dass sie nicht gefrühstückt hat. Schließlich sagt sie:
»Es wird nicht besser, wenn ich es häufiger sehe. Überall die gleiche Suppe. Was zeigst du mir da?«
»Das sind die geöffneten Körper der Toten der letzten Wochen. Die, die einfach so gestorben sind. Also die, von denen wir Bilder aus den Obduktionen bekommen konnten.«
»Die Manager der Fossilkonzerne? Die Vorredner in den neoliberalen Think Tanks? Die korrupten Politiker und Oligarchen?«
»Genau. Noch nie hat es eine Krankheit gegeben, die sich so genau nach der Weltanschauung der Opfer gerichtet hat.«
»Oder ihrem Anteil am Kohlendioxidausstoß.«
Mary nickt.
»Oder daran. Wobei wir erst den Verdacht hatten, dass es vielleicht irgendeinen Zusammenhang mit dem Mangel an Empathie gäbe.«
Nicole schnaubt leise.
»Würde auch passen.«
»Darum haben wir die Obduktionsergebnisse verglichen.«
»Und was sehen wir da?« Nicole schaut Mary fragend an. Die schüttelt den Kopf und zuckt mit den Achseln.
»Sag du es mir. In einem menschlichen Körper habe ich so etwas noch nie gesehen. Dafür sehen aber alle diese Toten innen drin verdammt gleich aus.«
Hauptverwaltung Brutkontrolle TR-2536
Kontrolle 2: »Ich bekomme gerade eine Nachricht von der Zentrale.«
Kontrolle 1: »Und?«
Kontrolle 2: »Wir sollen hier alles abbauen und verschwinden.«
Kontrolle 1: »Siehst du.«
Kontrolle 2: »Trotzdem ein Jammer. Es war so ein schönes Habitat.«
Kontrolle 1: »Das war es. Zum Glück ist nicht das einzige.«
Kontrolle 2: »Das stimmt. Mir tut es fast ein bisschen leid um die Wirte.«
Kontrolle 1: »Lass uns nicht darüber reden.«
Kontrolle 2: »Vielleicht fangen sie sich wieder.«
Kontrolle 1: »Ich denke, in zweihundert Jahren können wir mal wieder vorbeischauen.«
Ich habe die Geschichte jetzt 3 Mal gelesen. Irgendwie muss ich auf dem Schlauch stehen. Sie wirkt kein bisschen wirr auf mich - und trotzdem kapiere ich die Zusammenhänge nicht. Sind die Milliardäre, die es dahinrafft alles Alienkinder, die über die Stränge geschlagen haben?
AntwortenLöschenAh, jetzt dämmert mir etwas: Die Milliardäre sind an der Erderwärmung schuld. Deshalb werden sie ausgerottet. Und in zweihundert Jahren dürfte sich der Kohlendioxidausstoß wieder normalisiert haben. Die Alienkinder vertragen die Erderwärmung derzeit nämlich nicht. Aber in zweihundert Jahren wenn wieder kleine Aliens auf der Erde ausgesetzt werden, schon.
Stimmt das? Wer sieht das genauso?
Rechtschreibung, Grammatik gut, ich habe nur ein Komma vermisst und ein Wort in der 5. Zeile von unten.
Ich habe es so verstanden, dass die Aliens für die Erderwärmung gesorgt haben, weil die Brut (genau, die Milliardäre) dann besser gedeiht, diese dann aber über die Stränge geschlagen haben und das Habitat, also die Erde, komplett zerstören, was dann wiederum schlecht für die nächste Brut ist. Und die Aliens sich im Vorfeld nicht genug mit ihrer Wirtsregion beschäftigt haben. Den Ansatz finde ich auf alle Fälle sehr originell :D
AntwortenLöschenAh ja, so könnte es sein. Danke.
LöschenDie Grundidee finde ich cool und der Einstieg hat mich atmosphärisch abgeholt - die Szene hatte ich direkt bildlich vor Augen.
AntwortenLöschenLeider wirkt die Geschichte auf mich stellenweise unvollständig: Mir persönlich fehlen z. B. Hintergrundinformationen dazu, wie und wann „die Brut“ den Wirten "eingeimpft" wird, mit welchem Ziel das geschieht (reine Forschung oder etwas anderes) und warum die Nachkommen offenbar nicht zu einem definierten Zeitpunkt zurückgeholt werden - und warum nur Menschen mit "ausuferndern Besitz, der über die Maße menschlichen Anstands hinaus gewuchert ist" (geniale Formulierung btw) zur Brut gehören.
Die Szenen in der Forschungsstation des Geheimdienstes sind unterhaltsame Einsprengsel, liefern meiner Meinung nach aber wenig Neues und könnten stattdessen genutzt werden, um genau diese offenen Fragen schrittweise zu beantworten oder überraschende Konsequenzen zu zeigen.
Insgesamt finde ich Ton, Idee und Bilder sehr stark — mit gezielten Ergänzungen könnte die Erzählung aber noch an Nachdruck gewinnen.
Der Text hat mir gut gefallen. Eine ganze Menge unerklärliche Phänomene der neueren Geschichte sind damit erklärt!
AntwortenLöschenDie Gesellschaftskritik an sich finde ich gut, allerdings wird alles, was auf dieser Welt schiefläuft, auf Aliens projiziert. Das ist fast schon eine Beleidigung für alle Außerirdischen. Als wären Gier, Empathielosigkeit und Dummheit keine menschlichen Attribute. Und warum erschaffen die Außerirdischen überhaupt solche Monster, die sie dann komplett keulen müssen?
AntwortenLöschenDie Charaktere bleiben leider sehr oberflächlich, haben nicht einmal Namen und reden nur über die Arbeit. Da kann ich mich nicht wirklich hineinversetzen. Obwohl die Dialoge an sich einen gewissen Unterhaltungswert besitzen.
Der Stil ist etwas Trocken. Kaum ein „sagte XY“ mit etwas Charakterisierung. Stattdessen geht die Unterhaltung: „Kontrolle 1: (…) Kontrolle 2:“. Die Rechtschreibfehler halten sich derweil in Grenzen. „das einzige“ wird großgeschrieben, wenn es sich nicht auf ein nachfolgendes Substantiv bezieht.