DACSF2025_64

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Koscher & Halal

Die Menge vor der Bühne jubelte, als die ersten Gitarrenklänge ertönten. Ich versuchte, mein Lampenfieber zu unterdrücken, was mir nicht leicht fiel. Immerhin war dies unser erster Auftritt auf einem Festival. Obendrein fühlten wir uns alle ein wenig deplatziert auf dem Supernova. Zum einen, weil wir eine Mischung aus Synth-Pop und Goth-Rock spielten, zum anderen, weil unsere Band zu gleichen Teilen aus Israelis und Palästinensern bestand. Unser Schlagzeuger Ahmed und der Keyboarder Samuel waren obendrein ein schwules Liebespaar. Zumindest Ahmed wäre dafür in den meisten Nachbarländern gesteinigt worden.

Zum Glück spielten wir vor einem jungen, aufgeschlossenen Publikum. Natürlich gab es noch konservative Elemente in beiden Gesellschaften, die schlichtweg alles an uns hassten. Doch seit die rechtsextreme Regierung von Benjamin Netanjahu mit ihren Angriffen auf fast alle Nachbarstaaten den 3. Weltkrieg ausgelöst hatte, was beinahe zur Auslöschung Israels führte, hatte die junge Generation einfach keinen Bock mehr auf den rechtskonservativen Scheiß.

Unsere Generation war von Krieg und Elend geprägt, was sich in den melancholischen Texten der Band wiederspiegelte. Meinen Freund und Lebenspartner Jassir hatte es besonders hart getroffen. Er war erst vier Jahre alt, als die Hamas seinen Vater ermordete. Der hatte sich gewagt, nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023 die Terrororganisation für das Leid verantwortlich zu machen, welches anschließend über Gaza kam.

Meine Mutter, eine Kibbuz-Kommunistin in dritter Generation, protestierte ihrerseits gegen die israelische Regierung, die vom militärischen Geheimdienst vor dem Angriff der Hamas gewarnt worden war und diesen einfach geschehen ließ. Praktischerweise starben dabei hauptsächlich Regierungskritiker, die zuvor gegen Netanjahus korrupte Justizreform auf die Straße gegangen waren. Außerdem war es ein prima Vorwand, um Gaza den Erdboden gleichzumachen, alle Palästinenser von dort zu vertreiben und das Gebiet zu annektieren.

Zumindest musste meine Mutter für ihre Kritik an dem damaligen Regime jedoch nicht sterben. Israel hatte im Gegensatz zum Gaza-Streifen trotz alledem Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Allerdings nur für seine eigenen Bürger. Die Palästinenser hatten keinerlei Rechte, sondern wurden gnadenlos bombardiert. So verlor Jassir zwei Jahre nach dem Tod seines Vaters auch noch die Mutter. Er wäre selbst fast in dem Krankenhaus gestorben, das als ziviles Ziel gar nicht hätte bombardiert werden dürfen. Auf seinem rechten Arm, der den Gitarrensaiten gerade eine traurige Melodie entlockte, waren immer noch die Narben zu sehen.

Wir lernten uns als junge Erwachsene in einem Flüchtlingscamp kennen, in dem ich als freiwillige Helferin arbeitete. Dank unserer Liebe zur Musik kamen wir uns schnell näher und gründeten schließlich mit unseren Freunden die Band Koscher & Halal.

In unserem aktuellen Song, für den ich die weiblichen Vocals lieferte, ging es um die Sinnlosigkeit des Krieges und die Notwendigkeit zur Versöhnung. „Israel and Palestine, what could we be, if we combine?“, sang ich und erhielt dafür Applaus. Irgendwo in der Masse machte ich auch meine Mutter aus, die ohne Frage stolz auf mich war.

Sie meinte einmal, dass ich mich schon früh für Frieden und Völkerfreundschaft interessierte, was zweifellos an ihrer guten Erziehung lag. Doch irgendwie hatte ich auch schon immer einen intuitiven Drang danach, die Welt zu verbessern. Als hätte ich eine Aufgabe, die mir schon vor meiner Geburt zugeteilt worden war. Interessanterweise bezeichnete mich meine Mutter früher als „Geschenk des Himmel“, da sie nicht wusste, wer mein Vater war. Natürlich sah ich darin nur eine nette Umschreibung für die freie Liebe, die damals in ihrem Kibbuz herrschte. Um Liebe ging es auch in unserem nächsten Song.

Nach dem Gig wurden meine Band und ich erst einmal von der Presse belagert. Als Sängerin stand ich natürlich im Zentrum der Aufmerksamkeit, was mir gar so nicht recht war. Ich hoffte, dass ich nicht zu verschwitzt aussah und mein Kajal nicht verschmiert war.

„Rachel Rosenbaum“, wandte sich eine junge israelische Reporterin an mich. „Wie sind Sie und Ihre Bandkollegen eigentlich auf den Namen Koscher & Halal gekommen?“

„Nun, wir fanden, dass nichts besser ausdrückt, wie ähnlich sich unsere Religionen doch sind. Wir haben zwar unterschiedliche Namen für Gott, aber wir mögen alle kein Schweinefleisch.“

„Außerdem verbindet Essen schon seit Jahrtausenden die unterschiedlichsten Völker“, mische sich Jassir dazwischen.

„Sie singen von einer Einstaatlösung statt einer Zweistaatenlösung“, wandte sich nun ein arabischer Journalist an uns. „Glauben Sie, dass die Palästinenser den Israelis je den Genozid in Gaza vergeben können?“

„Warum sollte man ein ganzes Volk um Vergebung für die Verbrechen seiner Regierung bitten?“, stellte Jassir eine Gegenfrage. „Tausende Israelis sind damals gegen die Bombardierung Gazas auf die Straße gegangen. Auf der anderen Seite möchte ich auch nicht um Vergebung für die Verbrechen der Hamas bitten, die meinen Vater ermordet hat. Ich kann denen ja nicht einmal selbst vergeben und möchte nicht mit Terroristen gleichgesetzt werden.“

Auf diese Antwort hin spuckte der Reporter meinem Freund vor die Füße und stapfte wütend davon. Die alte Generation war immer noch in ihren Weltbildern festgefahren, obwohl der verheerende 3. Weltkrieg ihnen eine Lehre hätte sein sollen. Hatten die immer noch nicht genug?

„Sie setzen sich sehr für die Aussöhnung von Israelis und Palästinensern ein“, drängelte sich nun eine europäische Reporterin mit blonden Haaren zu uns vor. „Denken Sie, dass Ihre beiden Religionen die jahrtausendealten Gräben überwinden können? Wie steht es um den Antisemitismus?“

„Der Antisemitismus hat doch im christlichen Europa eine viel längere Tradition“, kam mir diesmal Ahmed zuvor. „Ebenso die Islamfeindlichkeit. Als die Europäer die Kreuzzüge gegen uns führten, lebten Muslime und Juden noch friedlich zusammen. Aber zum Glück ist das mit den Kreuzzügen Schnee von gestern, nicht wahr?“

Die Pressevertreterin war sichtlich von der Antwort überrumpelt. Als sie sich wieder gefangen hatte, fragte sie weiter: „Aber der Hass zwischen Muslimen und Juden ist doch noch aktuell?“

„Ja, die Wunden sind noch nicht verheilt“, antwortete Jassir. “Doch ich bin fest davon überzeugt, dass Hass und Gewalt nicht der Wille Gottes sind. Wie kann es sein, dass Menschen, die nach dem Paradies streben, dabei die Hölle auf Erden erschaffen? Das passt doch nicht zusammen!“

„Ich sehe das genauso“, bestätigte ich. „Ich bin überzeugt, dass wir alle hier auf der Erde sind, um zu lernen.“

„Was zu lernen?“, hakte ein ägyptischer Journalist nach.

„Aufeinander zu zugehen, unsere Probleme friedlich zu lösen und eine bessere Welt für uns alle zu erschaffen.“ Ich hoffte, dass das nicht zu aufgesetzt oder gar kitschig klang, doch das war meine Überzeugung. Wobei ich im Gegensatz zu Jassir nicht gerade gottesfürchtig war.

„Und wie soll Ihrer Meinung nach eine Einstaatlösung aussehen?“, fragte nun wieder die europäische Reporterin.

Da in Sachen Politik Samuel die meiste Erfahrung hatte, ließ ich ihm den Vortritt. „Dazu brauchen wir als Erstes ein paritätisch besetztes Parlament, welches je zur Hälfte aus Vertretern palästinensischer und israelischer Parteien besteht. Wenn niemand die absolute Mehrheit hat, müssen immer Kompromisse ausgehandelt werden, mit denen beide Seiten leben können.“

„Finden Sie das nicht ein wenig idealistisch?“, hakte die Blondine nach.

„Wir sind Idealisten“, antworteten wir vier wie aus einem Mund.

Der Rest des Tages verging wie im Flug. Am Autogrammstand hatten wir alle Hände voll zu tun und es war schön, dass wir inzwischen so viele Fans hatten, die für ein Selfie mit uns Schlange standen. Die vielen freundlichen Kommentare machten uns ebenfalls Mut.

Unter den Gästen stach ein älterer Mann besonders hervor. Er war an die zwei Meter groß und hatte eine sehr blasse Haut, was im Gegensatz zu uns nicht am Make-Up lag. Doch nicht nur sein Aussehen war ungewöhnlich. Ich konnte nicht genau sagen, woran es lag, doch ihn umgab eine rätselhafte Aura.

„Ein sehr bewegender Auftritt“, wandte er sich explizit an mich. „Du erfüllst deine Aufgabe sehr gut.“

„Wie meinen Sie das?“, fragte ich ein wenig unsicher.

„Du verbindest die Menschen, gibst ihnen Hoffnung und Mut. Das ist wichtig, wenn die Menschheit noch eine Zukunft haben soll“, antwortete er, während ich ihm ein Bandfoto signierte. Als ich es ihm überreichte, verabschiedete er sich mit den Worten: „Es hat mich gefreut, dich endlich kennenzulernen.“ Nachdem seine Lippen geschlossen waren, hallte in meinem Kopf noch das Wort: „Tochter“ nach. Obwohl diese Begegnung nicht unbedingt unangenehm war, bekam ich eine leichte Gänsehaut.

Als der Mann weg war, wandte sich Jassir zu mir und flüsterte: „Seltsamer Kerl. Irgendwie creepy.“ Ich konnte nur stumm nicken. Dann wandten wir uns wieder unseren deutlich jüngeren Fans zu.

Nach einer Handvoll Autogramme und Selfies stand meine Mutter vor mir, die mich über den Tisch hinweg umarmte. „Na, meine Kleine. Dass ich mal Schlange stehen muss, um dir Hallo zu sagen.“

„Hi, Mom“, entgegnete ich, bat sie hinter den Tisch und signalisierte dem Security-Mitarbeiter, dass das in Ordnung ging. Als ich etwas Abstand zu den Fans hatte, fragte ich sie leise: „Sag mal, weißt du eigentlich, wer mein Vater ist?“

„Warum fragst du mich das ausgerechnet jetzt?“ Sie schaute mich überrascht an. „Ich habe dir doch schon seit Jahren gesagt, dass ich das nicht weiß. Im Kibbuz herrschte damals…“

„Ja, ja, freie Liebe und so. Aber warum hast du niemals um einen Vaterschaftstest gebeten?“, hakte ich nach.

„Ich wollte nicht, dass man dich mir wegnimmt“, antwortete sie knapp.

„Aber wieso sollte mich jemand dir wegnehmen?“

„Ach, ich weiß ja auch nicht. Das ist alles so kompliziert. Es war eine verrückte Zeit und ich hatte damals seltsame Träume. Belassen wir es dabei.“ Mit diesen Worten wandte sie sich zum Gehen. Dann drehte sie sich noch einmal zu mir um: „Wo gibt es hier etwas Anständiges zu essen?“

„Warte noch einen Moment, bis ich mit den Autogrammen durch bin, dann lade ich dich ein“, entgegnete ich.

„Na schön, ich hoffe, es dauert nicht zu lange. Bis dann gleich!“ Sie lächelte und verschwand in der Menge.

Später beim Essen ging ich nicht noch einmal auf die Frage nach meinem Vater ein und ich erzählte meiner Mutter auch nicht von der seltsamen Begegnung mit dem Mann am Autogrammstand. Für sie war das Thema erledigt, das spürte ich.

Am Abend saß ich mit meinen Bandkollegen auf Klappstühlen vor dem Tourbus. Nicht so ein großer Reisebus, wie ihn die Weltstars hatten. Nur ein kleines Modell, wie man sie aus der Hippie-Ära kannte, allerdings mit einem Elektromotor, dessen Akku tagsüber durch Solarzellen auf dem Dach gespeist wurde. Damit fielen wir auf dem Parkplatz nicht weiter auf, obwohl wir dennoch unseren eigenen VIP-Bereich hatten. Aus Sicherheitsgründen. Verständlich, nach dem, was vor 19 Jahren geschehen war.

Ich mochte gar nicht darüber nachdenken, wie das damals für die Überlebenden gewesen sein musste. Ich selbst hatte nur wage Erinnerungen an diese Zeit, da ich noch ein Kleinkind gewesen war. Etwas deutlicher waren da schon meine Erinnerungen an die darauffolgenden Kriege und die Friedensdemonstrationen, zu denen mich meine Mutter mitgenommen hatte. Hatten sich die Zeiten inzwischen geändert? Ohne Zweifel! Doch hatte sich die Welt wirklich verbessert? Das blieb noch abzuwarten.

Samuel riss mich unvermittelt aus meinen Gedanken, als er laut in die Runde fragte: „Hey Leute! Seht ihr das auch?“ Er zeigte auf einen hellen Lichtpunkt am Nachthimmel, der sich deutlich von den Sternen abhob und bewegte.

Ich hätte fast meinen Cocktail verschüttet als ich das Objekt ausmachte und bemerkte, dass es auf uns zugeflogen kam.

„Ist das ein Flugzeug?“, fragte Ahmed. „Eine Drohne vielleicht?“

„Bitte keine Rakete“, flehte Samuel und drückte Ahmeds Hand.

Das Objekt kam näher und offenbarte nun die Form einer silbrigen Scheibe, von der ein fluoreszierendes Licht ausging. Mir fiel spontan der merkwürdige Typ vom Autogrammstand wieder ein. Und abermals hallte es in meinem Kopf: „Mach’s gut, Tochter.“ In dem Moment beschleunigte das Objekt so rasant, dass ich gar nicht so schnell aufstehen und mich umdrehen konnte, um sehen, wie es am Firmament verschwand.

„Habt ihr das gesehen?“, fragte Samuel. „Das was ein verdammtes UFO! Ahmed, kannst du mich bitte kneifen, damit ich weiß, dass ich nicht träume?“

„Abgefahren“, meinte nun auch Jassir und roch an seinem alkoholfreien Cocktail. „Ihr habt mir doch nicht irgendwas in den Drink geschüttet, oder?“

„Keine Sorge“, beruhigte ich ihn. „Wir haben es auch alle gesehen.“ Ich stand auf und schaute in den nächtlichen Himmel, an dem die Sterne funkelten.

Über meine persönliche Verbindung zu dem Raumschiff schwieg ich jedoch. Ich glaubte nicht, dass meine Freunde schon bereit waren, die Erkenntnis zu teilen, die langsam in mir reifte. War ich selbst überhaupt dazu bereit? Nun, immerhin war ich mir nun sicher, was meine Aufgabe auf dieser Welt war und ich konnte froh sein, dass meine Bandkollegen zumindest dafür schon bereit waren. Für einen offiziellen Erstkontakt, so wurde mir schlagartig bewusst, musste die Menschheit erst einmal Frieden mit sich selbst machen.

4 Kommentare

  1. Mal was anderes. Zwar wird auf das eigentliche Thema kaum eingegangen, doch ergibt das am Ende Sinn.

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  2. Tolle Geschichte! Originell und super gut geschrieben. Guter, nahezu fehlerfreier Text (was man hier in der Ausschreibung leider selten antrifft).
    Hätte am Ende noch etwas länger sein können, die Ich-Erzählerin akzeptiert ein bisschen zu schnell und leicht ihre Herkunft für mein Empfinden. Und der Weg der Geschichte dahin bis zu dem aufklärenden Ende ist lang, ohne dass eine Besonderheit des Alienkindes in Erscheinung tritt.
    Aber insgesamt eine der besten Geschichten hier für mich.

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  3. Super geschrieben! Für mich ist es eher wie eine wundersame Momentaufnahme (der Kontakt ist ja nur ganz kurz), ein längerer/spannungsreicher Plot fehlt hier. Dafür finde ich die Idee des Autors/der Autorin richtig super und geschrieben ist es auch gut. Obwohl die Geschichte kürzer ist als andere hatte ich doch ein deutliches Bild der Protagonistin und ihres Charakters vor Augen - da wird mir wieder einmal klar, wie viel sich "nebenbei", durch gutes Schreiben, eine Figur charakterisieren lässt.

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  4. Sehr gute Geschichte. Greift das aktuelle Israel/Palästina-Thema auf und bleibt dabei ausgewogen. Die Geschicht ist kurz,maber genau richtig. Sie ist frei von unnötigem Füllkram. Die kurze Begegnung mit dem ausserirdischen Vater - die kleine Andeutung, die die Mutter macht (ich hatte damals seltsame Träume), das reicht um als Leser zu verstehen. Die Protagonistin erkennt ihre Bestimmung: Versöhnung, Frieden stiften. Ichvfinde auch den Titel der Geschichte passend. Alles ist hier ohne Geschwafel auf den Punkt gebracht. Rechtschreibung nahezu einwandfrei. Mir ist nur aufgefallen "... hab nur wage Erinnerungen ...". Das müsste "vage" heißen.

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