Der Ruf des Blutes
1. Die Vier von Cedarhollow
Maya Chen starrte auf den dampfenden Teller vor sich und versuchte, nicht zu würgen. Quinoa-Burger mit Cashew-Käse und gerösteten Süßkartoffel-Pommes. Rachel hatte sich wieder selbst übertroffen in ihrer Mission, die Familie gesund zu ernähren.
»Schmeckt's dir nicht, Schätzchen?« fragte Rachel und blickte von ihrem eigenen Teller auf. Ihre Adoptivmutter hatte jene Art, Menschen zu mustern – die geschulten Augen einer Krankenschwester, die täglich nach Cedar Falls pendelte, der nächstgrößeren Stadt etwa zwanzig Minuten entfernt, wo sie im regionalen Krankenhaus arbeitete.
»Doch, ist total interessant, Mum«, log Maya und zwang sich zu einem Bissen. Der fade Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus, und ihr Magen rebellierte gegen die Lüge.
»Maya ekelt sich«, kicherte Lily, ihre dreizehnjährige Schwester, und rollte dabei theatralisch mit den Augen. »Genau wie in der Schule. Da macht sie auch immer Theater, wenn es mal wieder kein ach so tolles Fleisch gibt.« Sie äffte Mayas leicht angewiderten Gesichtsausdruck nach, bevor sie den Quinoa-Burger verschlang, als wäre es das beste Essen der Welt.
»Lily«, tadelte David sanft, aber seine Augen funkelten amüsiert. David war Bibliothekar hier in Cedarhollow – ein ruhiger, bedächtiger Mann, der als Gegenentwurf perfekt zu Rachels energischem Temperament passte. »Lass deine Schwester in Ruhe essen.«
Lily war das biologische Kind von Rachel und David – das perfekte Abbild ihrer Eltern mit Rachels dunklen Augen und Davids sanftem Lächeln. Alles an ihr passte nahtlos in diese Familie. Sie liebte veganes Essen, spielte Basketball wie ihre Mutter früher, und las ständig, genau wie ihr Vater.
Maya hingegen passte auf den ersten Blick nicht wirklich zu ihnen. Sie war vor siebzehn Jahren vor der Cedarhollow Community Church gefunden worden. Ein Säugling, verlassen in einer Decke, ohne jede Spur seiner Herkunft. Rachel und David, die jahrelang vergeblich versucht hatten, Kinder zu bekommen, sahen es damals als Zeichen des Himmels. Es half ihnen eine schwere Krise zu überstehen und sie waren sich sicher, dass es Lily ohne Maya niemals gegeben hätte.
Doch Maya war nicht das einzige Findelkind in Cedarhollow gewesen. Nicht im Jahr 2007, nicht mal an diesem einen so besonderen Septemberabend, an dem ganz Cedarhollow den Atem angehalten hatte. Vier Säuglinge, alle etwa im gleichen Alter, tauchten auf wie aus dem Nichts. Alle in derselben Nacht gefunden. Lucas Martinez vor der Feuerwache. Emma Rodriguez vor der öffentlichen Bibliothek. Jake Sullivan vor Henderson's Diner an der Main Street. Und Maya vor der Kirche.
Cedarhollow war eine dieser typischen amerikanischen Kleinstädte, die man auf dem Weg zu wichtigeren Orten passierte. Mit knapp 3.000 Einwohnern hatte sie doch alles, was eine ordentliche Stadt brauchte: eine Main Street mit einem Diner, einer Bank, einem kleinen Supermarkt, einer Post, einem Drogeriemarkt und einer Tankstelle. Die Cedarhollow Community Church ragte weiß getüncht am Ende der Straße auf, gegenüber der roten Backsteinschule, in der alle Kinder von der ersten bis zur fünften Klasse gemeinsam unterrichtet wurden. Ältere Kinder wurden mit einem Schulbus nach Cedar Falls gefahren, der größten Stadt des School Districts.
Henderson's Diner war das Herzstück der Stadt. Ein klassischer amerikanischer Diner mit rot-weißen Vinylsitzen, einer langen Theke und dem ewigen Geruch nach Kaffee und gebratenem Speck. Dort trafen sich die Rentner zum Morgenkaffee, die Farmer zum Mittagessen, und die Teenager nach der Schule. Dort ›herrschte‹ Mrs. Dolores Henderson wie eine wohlwollende Königin über ihr kleines Reich.
Mrs. Henderson war eine Institution. Eine kleine, rundliche Frau Ende Sechzig mit silbergrauem Haar, das sie stets zu einem perfekten Dutt aufgesteckt trug, und warmen braunen Augen, die hinter einer altmodischen Brille funkelten. Sie kannte jeden beim Namen, wusste, wie jeder seinen Kaffee trank, und erinnerte sich an die Geburtstage von drei Generationen von Cedarhollow-Bewohnern.
»Dolores ist ein Schatz«, sagte Rachel oft. »Ohne sie würde diese Stadt auseinanderfallen.«
Das stimmte wahrscheinlich. Mrs. Henderson organisierte die Wohltätigkeitsbasare, sammelte für bedürftige Familien, und ihre Küche war berühmt in drei Countys. Aber es war nicht nur das Essen, was die Menschen zu ihr zog. Es war ihre Art zu verstehen. Wenn jemand Probleme hatte, landete er früher oder später in einer der roten Vinylnischen von Henderson's Diner, und irgendwie fühlte man sich danach immer besser.
Besonders die vier Findelkinder hatten einen besonderen Platz in ihrem Herzen. »Meine besonderen Babys«, nannte sie Maya, Lucas, Emma und Jake, auch jetzt noch, wo sie alle siebzehn waren.
Jeder in Cedarhollow kannte »Die Vier«. Es war unmöglich, sie nicht zu kennen. Sie waren aufgewachsen wie jedes andere Kind, aber mit einer Besonderheit, über die niemand gerne sprach. Etwas, dass man gerne verdrängte, weil man es nicht verstand.
Es war nichts Dramatisches, sagte man sich. Findelkinder seien nun mal besonders, hieß es. »Die Vier« zeigten bereits im Kleinstkindalter besonderen Widerstand. Als Kleinkinder hatten sie angefangen zu schreien, sobald ihre Familien die Stadtgrenzen erreichten. Wir reden nicht über normales Kindergeschrei. Ein gellender, durchdringender Ton, der Autoscheiben zum Vibrieren brachte und Erwachsene dazu brachte, jegliche Erziehungsratgeber einzupacken und einfach umzukehren.
Die Martinez Familie hatte versucht, mit dem fünfjährigen Lucas nach Disneyland zu fahren. Sie kamen nur bis zur Kreisgrenze, bevor Lucas das Armaturenbrett mit seinen kleinen Fäusten zertrümmerte. Die Sullivans wollten Jake zu seinen Großeltern nach Florida bringen. Jake zerstörte einen Autositz, verletzte sich selbst dabei derart tief, dass Rick Donnelly, Sanitäter, gerufen wurde. Sein Einsatz wurde von Jake mit einer gebrochenen Nase belohnt.
Emma Rodriguez' Familie hatte es ebenfalls nur ein einziges Mal versucht. Danach nie wieder.
Und dann war da noch die Sache mit der Familie Watson.
Die Watsons wollten mit der achtjährigen Emma zurück nach Denver ziehen. Einen Tag vor dem lange geplanten Umzug brannte ihr Haus in Cedarhollow bis auf die Grundmauern nieder. Als die Feuerwehr eintraf, erwartete sie ein verstörendes Bild. Ein Haus bis auf die Grundmauern niedergebrannt. In einer Nacht ohne Gewitter, ohne elektrische Probleme, ohne erkennbare Ursache. Mitten in den Trümmern spielend, fanden sie ein völlig unversehrtes Kind. Es war ein Wunder. Das Wunder von Cedarhollow, wie die Leute es nannten. Kurz darauf gaben die Watsons Emma zur Adoption frei – sie sprachen mit niemandem über die Vorkommnisse und verschwanden eines Nachts. Die Rodriguez Familie nahm Emma liebevoll auf.
»Das war nur Zufall«, sagte man in der Stadt. »Alte Leitungen. Sowas passiert. Was für ein Wunder, dass die kleine Emma überlebt hat.«
Aber ganz tief drinnen wusste jeder, dass diese Vorkommnisse kein Zufall waren. Genau wie jeder wusste, dass man nicht über »Die Vier« sprach. Nicht wirklich. Man kannte sie, man mochte sie, man lud sie zu Geburtstagen ein und half ihnen bei den Hausaufgaben. Aber über diese... Eigenarten sprach man nicht.
Es war eine von diesen Kleinstadt-Merkwürdigkeiten, wie der Brunnen am Ende der Main Street, der auch im heißesten Sommer nie austrocknete, oder die Art, wie sich Herbstlaub um die Kirche herum zu perfekten Kreisen ordnete, ohne dass je jemand dabei gesehen worden wäre.
Maya schob ihren Teller weg. »Ich bin satt.«
»Du hast kaum etwas gegessen«, protestierte Rachel.
»Ich bin nicht so hungrig.« Eine weitere Lüge. Maya war ständig hungrig. In letzter Zeit mehr denn je. Aber nicht nach Quinoa-Burgern.
Sie stand vom Tisch auf: »Ich mache noch Hausaufgaben.«
»Maya«, rief David ihr nach. »Ist alles in Ordnung? Du wirkst... angespannt.«
Maya blieb an der Küchentür stehen. Wie sollte sie erklären, was sie nicht selbst verstand? Die Träume, die jede Nacht intensiver wurden. Das Gefühl, als würde sie beobachtet. Die Art, wie Hunde sich von ihr fernhielten, während Katzen sie unverwandt anstarrten.
»Nur Schulstress«, murmelte sie.
Sie flüchtete sich in ihr Zimmer und ließ sich schwer auf ihr Bett fallen. Ihr Handy vibrierte sofort. Eine Nachricht im Gruppenchat der Vier:
Lucas: Treffen heute Abend. Waldrand. 22 Uhr.
Emma: Was ist passiert?
Lucas: Ich habe wieder geträumt. Von ihnen. Es wird stärker.
Jake: Bei mir auch. Ich kann sie fast riechen.
Maya starrte auf die Nachrichten. Seit Wochen redeten die anderen drei von nichts anderem. Von Träumen über Menschen mit silbernen Augen, die nach ihnen suchten. Von einem Gefühl, als würde sie jemand rufen.
Maya spürte es auch. Ein Ziehen tief in ihrer Brust, ein Sehnen nach etwas, das sie nicht benennen konnte. Aber im Gegensatz zu den anderen kämpfte sie dagegen an.
Sie tippte: Ich weiß nicht, ob ich kann. Hausaufgaben.
Lucas: Maya, es ist wichtig. Wichtiger als Hausaufgaben. Sie kommen. Ich weiß es.
Emma: Du gehörst zu uns. Du weißt das.
Das war das Problem. Maya wusste es. Sie hatte es schon immer gewusst. Aber sie wollte nicht dazugehören. Sie wollte zu Rachel und David und sogar zu der nervigen Lily gehören. Sie wollte eine normale Familie mit normalen Problemen.
Sie wollte nicht für immer eine der Vier sein.
2. Stimmen im Dunkeln
Um zehn vor zehn schlich Maya aus dem Haus. Sie konnte nicht anders. Das Ziehen in ihrer Brust war stärker geworden, schmerzhafter. Es fühlte sich an, als würde jemand an ihren Rippen zerren.
Der Waldrand lag nur zehn Minuten zu Fuß entfernt. Cedarhollow war von Wald umgeben – dichten, alten Bäumen, die aussahen, als hätten sie Geheimnisse gesehen, die älter waren als die Stadt selbst.
Die anderen warteten bereits. Sie standen in einem kleinen Kreis, ihre Gesichter wirkten gespannt im Mondlicht.
Lucas Martinez war in den letzten Monaten noch größer geworden, seine Schultern breiter. Es schien, als habe er die dunklen Augen seiner hispanischen Adoptivfamilie geerbt, aber etwas in seinem Blick war anders geworden. Intensiver. Hungriger. Lucas war schon immer der Anführer ihrer kleinen Gruppe gewesen – charismatisch, selbstbewusst, der Typ, dem andere Teenager folgten. Aber jetzt strahlte er etwas aus, das Maya Unbehagen bereitete.
Emma Rodriguez war das Gegenteil – klein, zierlich, mit rötlichen Locken und Sommersprossen. Sie war schüchtern gewesen, als sie jünger waren, aber in der letzten Zeit hatte sich das geändert. Sie beobachtete die Menschen jetzt mit einer Intensität, die nicht zu ihrer zarten Erscheinung passte. Emma war klug, klüger als die meisten, und Maya hatte das Gefühl, dass sie Dinge verstand, die andere nicht sehen konnten.
Jake Sullivan war der Athlet der Gruppe – breit, blond, mit den blauen Augen eines Farmers und Händen, die aussahen, als hätten sie bereits Motoren auseinandergenommen, bevor er zehn wurde. Er war normalerweise der Ruhigste von ihnen, derjenige, der lachte und Witze machte. Aber sein Lachen war in letzter Zeit seltener geworden, und wenn Maya ihn ansah, sah sie etwas in seinen Augen, dass sie an wilde Tiere erinnerte.
Sie alle sahen älter aus, als sie waren. Und sie alle hatten denselben hungrigen Ausdruck in den Augen.
»Du bist gekommen«, sagte Lucas, als Maya sich näherte.
»Ich bin hier«, Maya blieb am Rand des Kreises stehen. »Was ist so dringend?«
Emma trat vor und zog einen vergilbten Zeitungsausschnitt aus ihrer Tasche. »Wir haben Nachforschungen angestellt. Über uns. Über das, was vor siebzehn Jahren wirklich passiert ist.«
Maya konnte die Schlagzeile im schwachen Mondlicht gerade lesen: VIER SÄUGLINGE IN CEDARHOLLOW GEFUNDEN – BEHÖRDEN RATLOS
»Das kennen wir alle«, sagte Maya.
»Lies weiter«, drängte Jake, seine Stimme rauer als sonst.
Maya überflog den Artikel. Die meisten Details waren ihr vertraut, aber dann stieß sie auf etwas, das sie noch nie gesehen hatte: Ein Interview mit Mrs. Patterson, der damaligen Nachtschwester im Krankenhaus in Cedar Falls.
»Es war seltsam«, las Maya laut vor. »Alle vier Babys wurden in derselben Nacht gefunden, aber sie sahen aus, als wären sie schon seit Wochen hier. Sie waren perfekt sauber, perfekt genährt. Und sie haben alle auf dieselbe Art geredet – ein Geräusch, das ich noch nie von einem Baby gehört hatte. Es war wie... wie Singen.«
Maya blickte auf. »Singen? Die Alte war einfach schwerst dement. Das wisst ihr doch genauso gut wie ich.«
Lucas zog sein Handy hervor und spielte eine verwackelte Audioaufnahme ab. Eine zittrige alte Stimme sprach: »Ich war dabei, als sie die Babys fanden. Alle vier, in derselben Nacht. Aber sie waren nicht normal. Sie... sie rochen anders. Süßer. Und ihre Augen... ihre Augen waren zu wissend für Neugeborene.«
Die Aufnahme endete.
»Wer war das?« fragte Maya mit klopfendem Herzen.
»Mrs. Patterson. Kurz vor ihrem Tod, letztes Jahr«, sagte Emma. »Jake hat es geschafft, mit ihr zu sprechen.«
Maya fühlte sich unwohl: »Ihr habt eine sterbende Frau ausgehorcht?«
»Sie wollte reden«, verteidigte Jake sich. »Sie sagte, sie hätte jahrelang auf jemanden gewartet, der die richtigen Fragen stellt. Doch niemand wollte hören, was sie zu sagen hatte.«
Emma griff in ihre Tasche und zog weitere Dokumente hervor. »Das ist noch nicht alles. Sieh dir das an. Berichte über ähnliche Fälle. Kinder, die in kleinen Städten gefunden wurden. Immer mit merkwürdigen… Eigenschaften.«
Maya überflog die Liste mit zitternden Fingern. Dutzende von kleinen Städten quer durch Amerika. Immer dasselbe Muster.
»Und rate mal, was mit den Kindern passiert ist«, sagte Jake düster.
Maya sah ihn an.
»Im Alter von siebzehn Jahren sind sie alle verschwunden. Spurlos. Immer wieder.«
Ein kalter Schauer lief Maya über den Rücken. »Das... das ist doch Schwachsinn. Was willst du mir sagen? Dass wir uns morgen in Luft auflösen?«, entgegnete Maya verunsichert und genervt gleichermaßen.
»Es beweist…«, sagte Lucas und zeigte auf den Himmel.
»…Es beweist, dass wir nicht die einzigen sind. Und es beweist, dass wir nicht mehr viel Zeit haben.«
Maya folgte seinem Blick und erstarrte.
Dort, zwischen den Sternen, bewegte sich etwas. Es war zu hoch und zu schnell, um ein Flugzeug zu sein. Zu gezielt, um ein Satellit zu sein. Zu hell, um natürlich zu sein.
»Sie sind da«, flüsterte Emma.
Maya spürte, wie ihre Knie nachgaben. Das Ziehen in ihrer Brust wurde zu einem schmerzhaften Reißen. Ihr Mund füllte sich mit einem metallischen Geschmack.
Und dann, ganz plötzlich, hörte sie es.
Eine Stimme in ihrem Kopf. Nicht klar wie eine normale Stimme, sondern wie ein Echo von weit her, wie Musik, die durch Wasser gefiltert wurde. Die Worte waren in einer Sprache, die sie nicht kannte, aber irgendwie verstand sie ihre Bedeutung:
Komm nach Hause, mein Kind. Es ist Zeit.
»Nein«, keuchte Maya und stolperte rückwärts. »Das ist nicht real. Das kann nicht real sein.«
Aber auch während sie es sagte, wusste sie, dass sie sich selbst etwas vormachte.
Die anderen drei starrten sie an. »Maya«, fragte Lucas langsam, »was ist passiert? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
Maya öffnete den Mund, um zu antworten, aber stattdessen kam ein fremder Laut heraus. Ein melodisches Trillern, wie das Zwitschern eines Vogels, aber tiefer, komplexer. Es war kein menschlicher Laut.
Die vier starrten sich entsetzt an.
»What…«, flüsterte Jake. »Was zum Teufel war das denn?«
Das Licht am Himmel wurde heller. Und mit ihm kam ein Gefühl, das Maya gleichzeitig anzog und abstieß. Wie Heimweh nach einem Ort, den sie nie zuvor gesehen hatte.
Die Stimme in ihrem Kopf wurde lauter, dringlicher. Andere Stimmen gesellten sich dazu – ein Chor aus unmöglichen Harmonien.
Du gehörst nicht hierher, kleine Jägerin. Du gehörst zu uns.
Maya presste die Hände gegen ihre Ohren, aber das half nicht. Die Stimmen kamen von innen.
»Ich muss nach Hause«, sagte sie plötzlich.
»Maya…«, begann Lucas.
»NEIN!«
Maya schrie und rannte. Sie rannte durch den Wald, die Äste peitschten ihr ins Gesicht, ihre Lungen brannten. Hinter sich hörte sie ihre Freunde rufen, aber sie konnte nicht stehen bleiben.
Sie rannte, als würde ihr Leben davon abhängen.
Vielleicht tat es das.
3. Die Nacht der Wahrheit
Maya stieß die Haustür auf, so heftig, dass diese gegen die Wand knallte.
»Maya?«
Rachels erschrockene Stimme kam aus dem Wohnzimmer. »Was ist denn los?«
Maya stand keuchend im Flur. Ihr Herz hämmerte so laut, dass sie sicher war, die ganze Familie müsse es hören können. Die Stimmen in ihrem Kopf waren leiser geworden, aber nicht verschwunden. Sie murmelten in der fremden, melodischen Sprache, die gleichzeitig bekannt und unmöglich war.
»Ich... ich…«, stammelte sie.
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Wie konnte sie erklären, dass sie Stimmen in ihrem Kopf hörte? Dass am Himmel Lichter waren, die nicht dorthin gehörten? Sie wusste, wie verrückt das alles klang.
Rachel und David kamen aus dem Wohnzimmer, gefolgt von Lily im Schlafanzug.
»Schätzchen, was ist denn los? Hast du Migräne?«, fragte Rachel und streckte die Hand nach Maya aus, die immer noch ihre Hände vor ihre Ohren hielt.
Maya wich zurück. "Nicht... NICHT anfassen. Bitte."
Die Stimmen in ihrem Kopf wurden schon wieder lauter, wie ein Radio, dessen Empfang sich verbesserte. Sie konnte einzelne Worte verstehen, oder zumindest ihre Bedeutung:
Fürchte dich nicht, kleines Raubtier.
»Maya, was ist passiert?« David trat näher, seine Stimme ruhig und beruhigend. »Warst du mit Lucas, Emma und Jake zusammen?«
Maya nickte stumm.
»Und?« fragte Lily neugierig. »Was habt ihr gemacht? Ihr benehmt euch alle in letzter Zeit so komisch.«
Erzähl ihnen die Wahrheit, flüsterten die Stimmen. Erzähl ihnen, was du wirklich bist.
»Wir haben nur…" Maya schluckte. »Wir haben über uns geredet. Darüber, dass wir alle... dass wir alle Findelkinder sind.«
Rachel und David tauschten einen besorgten Blick aus.
»Ihr seid ja so langweilig… Immer das gleiche…«, stöhnte Lily.
»Maya«, sagte Rachel vorsichtig, »ist das ein Problem für dich? Dass du adoptiert bist? Du weißt, dass wir dich lieben, egal—»
»DAS IST ES NICHT, VERDAMMTE SCHEIßE!«
Maya schrie vor Verzweiflung. Maya presste die Hände fester gegen ihre Ohren, aber die Stimmen wurden nur lauter, dringlicher. Der fremde Chor in ihrem Kopf schwoll zu einem ohrenbetäubenden Crescendo an.
Widerstand ist zwecklos, Zir’thak.
»Hört auf! Ihr könnt mich nicht zwingen«, brüllte Maya und sank auf die Knie.
Plötzlich wurde alles still. Die Stimmen verstummten. Maya blickte auf und sah ihre Familie um sich versammelt - Rachel, David und Lily, alle mit besorgten Gesichtern.
Plötzlich sah sie, wie ein dünner Blutfaden aus Lilys Nase rann.
»Lily«, flüsterte Maya und stand langsam auf.
»Du blutest.«
Lily berührte ihre Nase, sah verwirrt auf das Blut an ihren Fingern.
»Ich... mir ist schwindlig.«
Aber es hörte nicht auf. Mehr Blut quoll hervor, ein dicker, roter Strom. Dann begann etwas aus Lilys Augen zu sickern, dass wie blutige Tränen wirkte.
»Was passiert mit ihr?!«, schrie Rachel und stürzte zu ihrer Tochter.
Maya konnte sich nicht bewegen. Sie starrte entsetzt zu, wie Lily zu schwanken begann. War es ihre Schuld, was mit ihrer kleinen Schwester passierte?
Rote Flecken breiteten sich auf Lilys Haut aus - Blut, das aus all ihren Poren drang, als würde ihr Körper von innen zerreißen.
»Lily, nein, bitte… bitte nicht«
Maya streckte die Hand nach ihrer Schwester aus.
Lily sah sie mit blutunterlaufenen Augen an und flüsterte: "Maya... hilf… mir…bitte«
Mit einem feuchten, reißenden Geräusch – wie das Zerplatzen einer Wassermelone, vermischt mit dem Klatschen nasser Wäsche –, dass sich für immer in Mayas Gedächtnis einbrennen würde, zerriss der kleine Körper ihrer Schwester auseinander wie eine überreife Frucht
»LILY!«
Maya schrie und fiel auf die Knie.
»NEIN! NEIN! LILY!«
»Ich liebe dich so sehr… Was habe ich getan«, stammelte sie.
Sie weinte und schluchzte, wie noch nie jemand zuvor geweint und geschluchzt hatte.
Auf einmal erklang eine freundliche, aber tief besorgte Stimme hinter ihr: »Maya…«
Eine warme Hand legte sich auf ihre Schulter. Davids ruhige Stimme drang durch ihren Schmerz.
»Maya, du machst uns Angst.«
Sie blickte auf. Lily stand unversehrt neben David, ihre Augen voller Tränen, aber lebendig. Die Küche war sauber. Kein Blut. Keine Wassermelonenreste. Nichts.
Das war nur ein Vorgeschmack, Zir'thak, flüsterten Stimmen kalt in ihrem Kopf. Sei schlau, kleines Raubtier.
Rachel und David verstanden, dass jetzt nicht der Moment war sie aufgrund ihrer unpassenden Ausdrucksweise von vor einigen Minuten zurechtzuweisen. Ihre Sorgenfalten nahmen beeindruckende Züge an. Lily klammerte sich mittlerweile fest an ihre beiden Elternteile.
Maya presste die Hände an ihre Schläfen.
»Ihr habt es nicht gesehen, oder? Und hört ihr es denn auch nicht?«, fragte sie fast flehentlich.
»Hören, was?" fragte David alarmiert.
»Die Stimmen. Sie…«
Maya sah die Verwirrung in ihren Gesichtern und brach ab. Sie hielten sie für verrückt. Vielleicht war sie das auch.
»Maya«, sagte Rachel und trat langsam näher, als würde sie sich einem verletzten Tier nähern, »es gibt keine Stimmen. Du bist übermüdet. Unter Stress. Komm, setz dich hin.«
Maya ließ sich aufs Sofa fallen. Ihre Familie setzte sich vorsichtig zu ihr.
»Erzähl uns, was dich beschäftigt«, sagte David. »Alles. Wir hören zu. Wir urteilen nicht über dich.«
Maya holte tief Luft.
»Habt ihr euch nie gefragt, warum vier Babys in derselben Nacht gefunden wurden? In einer Stadt wie Cedarhollow? Das passiert doch nicht einfach so.«
»Es war ein Zufall«, sagte Rachel.
»Oder vielleicht eine Sekte oder…«, sagte David bevor Rachel ihm bedeutete, so etwas nicht gerade jetzt anzusprechen.
»Und die Sache mit den Watsons? Als ihr Haus abgebrannt ist?«
Rachel und David verstummten.
»Das war ein Unfall«, sagte David schließlich, aber seine Stimme klang unsicher.
»War es das?«
Maya sah zwischen ihnen hin und her. »Ehrlich? Glaubt ihr das wirklich?«
Eine lange Pause.
»Was denkst du denn, was passiert ist?«, fragte David schließlich.
Maya zögerte. Die Stimmen in ihrem Kopf waren leiser geworden, aber immer noch da.
»Ich denke«, sagte Maya langsam, »dass wir vier nicht normal sind. Dass etwas... etwas an uns anders ist. Und dass jemand nach uns sucht.«
»Jemand?«, fragte Rachel.
»Unsere... die biologischen Eltern. Oder wer auch immer uns hiergelassen hat.«
Lily, die die ganze Zeit still gewesen war, sprach plötzlich: »Glaubst du, sie sind schlecht? Deine echten Eltern?«
Maya sah ihre kleine Schwester an. Lily war oft nervig, aber sie war auch klug. Klüger als die meisten Erwachsenen ihr zutrauten.
»Ich weiß es nicht«, sagte Maya ehrlich. »Aber ich habe Angst.«
Rachel griff nach Mayas Hand. Diesmal ließ Maya es zu.
»Schätzchen«, begann Rachel, »selbst wenn deine biologischen Eltern auftauchen würden – was sehr unwahrscheinlich ist nach so langer Zeit – könnten sie dich nicht zwingen mitzugehen. Du bist fast erwachsen. Du gehörst zu uns. Wir würden dich niemals hergeben.«
Das ist eine Lüge, flüsterten die Stimmen. Du gehörst zu uns. Du warst schon immer unser Kind.
Maya drückte Rachels Hand: »Auch wenn... auch wenn ich nicht bin, was ihr denkt?«
»Du bist unsere Tochter«, sagte David bestimmt. »Egal was passiert.«
Wir werden sehen, sagten die Stimmen amüsiert.
4. Allein
Drei Tage waren vergangen, seitdem Lucas, Emma und Jake verschwunden waren. Es schien die Menschen in Cedarhollow waren weniger schockiert davon, dass drei Jugendliche ein paar Tage für sich sein wollten. Es war viel mehr, dass niemand glauben konnte, dass »Die Vier« nicht gemeinsam unterwegs waren.
Maya saß in der Schule und starrte auf die leeren Plätze ihrer Freunde, als Mrs. Peterson sie ansprach: »Wo sind denn deine drei Schatten? Man sieht euch vier doch nie getrennt.«
Den ganzen Tag über war es dasselbe. Mr. Williams fragte nach »den anderen dreien«. Mrs. Foster wunderte sich, Maya »ganz allein« zu sehen. Sogar die Dame am Kiosk bemerkte, sie habe Maya in der Pause noch nie ganz allein gesehen.
Maya war genervt davon, dass niemand sie als Individuum wahrzunehmen schien. Das war ihr vorher nie aufgefallen. War sie wirklich nur ein Viertel von etwas Größerem? Hatte sie außerhalb der Gruppe keine eigene Identität?
Der Schultag endete, und Maya machte sich auf den Heimweg. Allein. Sie ging die gewohnte Route die Main Street entlang, als plötzlich eine Hand ihren Arm umklammerte und sie ins Gebüsch zerrte.
»Maya«, zischte Lucas, doch seine Stimme hatte harmonische Obertöne, die sie nie zuvor gehört hatte.
»Wir müssen reden.«
Lucas, Emma und Jake standen vor ihr, aber etwas war anders an ihnen. Ihre Bewegungen waren fließend, ihre Augen schienen im Dämmerlicht weiß zu leuchten.
»Fasst mich ja nicht an!« entgegnete Maya, als sie Lucas ihre Hand entriss.
Sie wich zurück. Instinktiv spürte sie Gefahr.
»Verdammt noch mal, wo wart ihr die letzten Tage?«
»Bei unserer wahren Familie«, antwortete Emma. Ihre Haut schimmerte schwach im Mondlicht.
Jake säuselte: »Sil'thaya-keth nalor«
»Was soll denn eure wahre Familie sein?«, fragte Maya mit nervösem Gesichtsausdruck.
»Unser Schöpfer«, sagte Jake.
Seine massige Gestalt wirkte seltsam anmutig.
»Maya, ganz tief in dir weißt du es bereits. Wir sind keine Menschen. Wir waren es nie.«
Maya schüttelte den Kopf.
»Das ist so verrückt. Ihr seid verrückt.«
Lucas trat näher.
»Ist es das? Oder erklärt es nicht alles? Warum wir so anders sind? Warum wir Cedarhollow nicht verlassen können? Warum wir diese Träume haben? Warum wir über unmenschliche Kräfte verfügen?«
»Sie warten auf dich«, sagte Emma sanft.
»Im Schiff. Mrs. Henderson ist auch dort. Aber sie ist nicht... sie ist nicht die Mrs. Henderson, die wir kannten.«
Ein Summen erfüllte die Luft, tief und rhythmisch. Am Himmel erschien ein Licht – nicht grell wie ein Suchscheinwerfer, sondern warm und einladend.
»Komm mit uns«, sagte Lucas und streckte die Hand aus.
»Sie wollen dich, nein… sie brauchen dich, Zir'thak«
Maya sah ihre drei besten Freunde an. Sie wirkten plötzlich so anders. Etwas eigenartig Fremdes schimmerte hinter ihren vertrauten Gesichtern.
»Und wenn ich nein sage?«, fragte Maya.
Die drei wechselten einen Blick.
»Dann« sagte Emma leise, »wird Seraph-Thakari dir ihre ganze Macht zeigen.«
Maya dachte an Lily, die in ihrer Vision in Fleischfetzen explodierte. An die kalten Stimmen in ihrem Kopf.
»Ich habe keine Wahl«, flüsterte sie.
»Du hast immer eine Wahl«, sagte Lucas.
»Aber manche Entscheidungen haben Konsequenzen.«
5. Vashti
An Bord der Sil’thaya-Nethys
Das Schiff war lebendig. Maya spürte es, in dem Moment, in dem sie an Bord trat – die Wände pulsierten wie ein gigantisches Herz, kristalline Korridore formten sich nach ihren Schritten.
In der zentralen Kammer wartete…
»Mrs. Henderson?«, fragte Maya vollends verwirrt.
Doch die vertraute Gestalt der freundlichen Dienerbesitzerin begann zu schmelzen, wie eine Illusion, die sich auflöste. Darunter kam etwas hervor, das Maya den Atem raubte.
Es war etwas. Fast zwei Meter groß, aber von ätherischer Eleganz. Die Haut schimmerte in fließenden Farben – tiefes Violett, das in silbriges Blau überging, dann in warmes Gold, wie Aurora Borealis unter der Oberfläche. Die Farbmuster folgten dem Herzschlag, veränderten sich nach einer Logik, die sie nicht verstand.
Der Kopf war länglich, anmutig, gekrönt von kristallinen Filamenten, die bei jeder Bewegung klingelten wie Windspiele. Die Augen waren große, mandelförmige Kaleidoskope aus flüssigem Licht. Sechs Finger endeten in perlmuttartigen Klauen.
Als es sprach, leuchteten Muster über seine Haut – Spiralen und Symbole, eine zweite Sprache aus Licht.
"Zir'thak", sang es mit einer Stimme wie ein ganzer Chor.
Die Worte waren melodisch, wie Töne, die Menschen nicht gänzlich unbekannt waren, für die sie jedoch keine Namen hatten.
»Sil'thaya vash-mor kelen’di.«
Maya verstand urplötzlich jede Silbe: Willkommen zu Hause, kleines Raubtier.
»Was... was sind Sie?« stammelte Maya.
»Ich bin Seraph-Thakari, deine Erschafferin.«
Die Hautfarben wechselten zu wabernden Blau-Gold-Mustern.
»Und du bist mein wertvollstes Experiment.«
Lucas trat vor, seine eigene Haut schimmerte bereits schwach.
»Maya, das sind die Vashti. Eine uralte Rasse. Sie haben uns erschaffen.«
»Rasse? Und warum?«
Mayas Stimme war nur ein Flüstern.
Thakari führte sie zu einem großen Fenster. Draußen schwebten Hunderte andere Vashti in perfekter Stille, ihre Körper reglos, ihre Hautfarben in langsamen, synchronen Wellen pulsierend.
»Sieh sie dir an«, sang Thakari traurig. »Der Rat der Zeitlosen. Sie haben euer Sonnensystem entstehen sehen. Sie sind perfekt – unsterblich, weise, mächtig. Und doch völlig leer.«
»Leer?«
»Vor Äonen waren wir wie die Menschen – chaotisch, emotional, sterblich. Dann erreichten wir die Große Transzendenz.«
Thakaris Hautmuster wurden zu komplexen historischen Darstellungen.
»Wir überwanden Tod, Krankheit, Schmerz. Aber wir zahlten einen Preis. Mit der Perfektion verloren wir die Fähigkeit zu fühlen.«
Maya sah die schwebenden Gestalten an.
»Sie leben nicht wirklich.«
»Nein, mein Kind. Sie existieren. Seit Jahrmillionen ohne Zweck, ohne Leidenschaft. Wir haben alles erreicht und festgestellt, dass Erfolg ohne Emotion bedeutungslos ist.«
»Und?«
»Ihr seid unser Experiment. In zahlreichen kleinen Siedlungen über euren Planeten verteilt haben wir vor über 17 Jahren Kinder wie euch platziert. Vashti-Essenz, die durch menschliche Einflüsse perfektioniert werden soll.«
Thakaris Farben wurden hoffnungsvoll.
»Durch euch könnten wir lernen, wieder zu fühlen.«
»Und du, Zir’thak«, wandte sich Thakari Maya zu uns schien sie besonders zu beobachten, »bist anders als die anderen. Während sie bereitwillig zu uns kamen, kämpfst du. Während sie ihre menschlichen Bindungen leicht lösten, klammerst du dich daran. Deine Emotionen brennen heller als die aller anderen – deine Liebe zu deiner Familie, deine Verzweiflung, sogar dein Widerstand. Das macht dich wertvoll. Das macht dich besonders. Es ist das, was wir suchen… Was wir brauchen.«
Emma, deren Gesicht vogelhafte Züge angenommen hatte, fragte: »Und wenn Maya nicht zurückgekehrt wäre?«
»Dann drohte unser Experiment zu scheitern.«
Thakaris Haut wechselte zu bedrohlichem Rot und sagte: »Und wir müssten weniger sanfte Methoden anwenden. Direkte Übernahme. Vollständige Assimilation eurer Spezies.«
»Ihr würdet eine ganze Spezies auslöschen, weil euer Experiment nicht so gelaufen ist, wie ihr euch das vorgestellt habt? Wegen…mir?«, fragte Maya entsetzt.
»Keine Spezies hat jemals das Scheitern der Vashti beobachtet… und dies überlebt. Das ist Überleben«, sang Thakari kalt.
»Unseres und eures.«
»Wenn wir bleiben«, fragte Maya, »können wir dann jemals zurück?«
»Das hängt davon ab, wie ihr euch entwickelt«, antwortete Thakari ehrlich.
»Diese Generation… Ihr seid der erste Versuch dieser Art. Wir wissen nicht, ob die menschliche Seele die Vashti-Transformation überleben kann.«
»Und wenn wir gehen?«
»Dann kehrt ihr zur Erde zurück. Und binnen eines Jahres werden alle Menschen zu Vashti. Beginnend mit euren Familien.«
Es war keine Wahl. Es war Erpressung. Nur in melodischen Alien-Harmonien.
Maya dachte an Rachel, David und Lily. An das Leben in Cedarhollow. An das Leben, das sie zurücklassen müsste.
»Wir… Ich brauche Zeit«, sagte Maya bestimmt.
»Ihr habt drei eurer Tage«, sang Thakari.
»Bis zum nächsten Sternensprung.«
Maya wurde zu einer für sie vorgesehene Kammer eskortiert. Auf dem Weg zu ihrem Quartier führte man sie durch endlose Korridore, und Maya wagte neugierige Blicke durch die durchsichtigen Wände in andere Kammern. Sie sah Dutzende von Jugendlichen in verschiedenen Transformationsstadien – ihre Haut ein groteskes Patchwork aus menschlicher Blässe und schimmernden Vashti-Farbmustern, manche noch erkennbar als die Teenager, die sie einst gewesen waren, andere bereits fast vollständig verwandelt.
In ihrer kristallinen Unterkunft, die sich scheinbar mühelos ihren Bedürfnissen anpasste, setzte sie sich ans Fenster und betrachtete die Erde – nur noch ein blauer Punkt in der Ferne.
Aus den Korridoren drangen fremde Geräusche zu ihr – ein rhythmisches Pulsieren der Schiffswände, melodische Töne, die sie nicht einordnen konnte. Dann hörte sie etwas, das sie an das Wort »Platschen« denken ließ, es war ein unangenehmes, matschiges Geräusch. Die Erinnerung traf sie wie ein Schlag: Lily, die vor Mayas Augen zunächst aus der Nase zu bluten begann, ihr verstörter Blick, ihr verzweifelter Hilferuf. Maya presste die Handflächen gegen ihre Schläfen – ihr Versuch diesen furchtbaren Anblick aus ihrem Gehirn zu verbannen.
Sie fühlte sich ohnmächtig. Noch nie war sie von ihrer Familie getrennt gewesen, sie vermisste Rachel, David und Lily so sehr, dass es ihr körperliche Schmerzen bereitete. Der Gedanke, sie nie mehr wiedersehen zu können, gab ihr selbst das Gefühl förmlich auseinandergerissen zu werden.
Kaum drohte sie das Gefühl der tiefen Trauer vollends zu übermannen, bemerkte sie Veränderungen an ihrem Körper. Ihre Haut begann zu schimmern. Sie spürte, wie sich etwas in ihr veränderte. Seltsamerweise schienen ihre menschlichen Emotionen urplötzlich weniger intensiv, gedämpfter, als würde sie durch einen Schleier fühlen. Sie wurde wieder Herr ihrer Sinne. Ihre menschlichen Erinnerungen wurden verschwommen, schienen fast fremd. Als würde sie sich an das Leben einer anderen fremden Person erinnern, dass sie nur aus Erzählungen kannte.
Du wirst das, was du wählst zu sein, Zir'thak, flüsterte eine uralte Stimme aus dem Schiff. Aber wähle weise. Das Schicksal zweier Welten hängt von deiner Entscheidung ab.
Epilog: Zwischen den Sternen
Auf der Erde wartete Cedarhollow. Vier Familien weinten um ihre Kinder. Henderson's Diner blieb geschlossen – niemand wusste, wo Mrs. Henderson geblieben war.
Lily saß in Mayas Zimmer und hielt deren Lieblingsstofftier in den Armen.
»Komm nach Hause, Maya«, flüsterte sie zu den Sternen.
»Bitte…«
Dicke Tränen kullerten ihr über Gesicht, das nun ungewöhnlich weich und kindlich erschien. War es doch sonst zumeist von einem naseweisen oder gar frechen Grinsen geprägt.
Aber Maya war bereits Lichtjahre entfernt, gefangen zwischen zwei Welten. Mit jeder Stunde wurde sie weniger menschlich – und mehr zu etwas, das in dieser Form noch nie existiert hatte.
Die Vashti warteten. Ihre uralte, perfekte und leere Zivilisation brauchte das eine, was sie nicht erschaffen konnten: die chaotische, wundervolle Fähigkeit zu fühlen.
Menschliche Kinder wie Maya waren ihre einzige Hoffnung. Oder ihre größte Bedrohung.
Die Sterne schwiegen. Die Zeit lief ab. Und irgendwo zwischen Himmel und Erde wurde eine Entscheidung getroffen, die das Schicksal zweier Spezies für immer verändern würde.
Ende
Die Story hat eine starke Mystery-Sci-Fi-Atmosphäre und entwickelt sich richtig intensiv, vor allem ab dem ersten Treffen der Vier im Wald und später auf dem Schiff. Die Vashti als Alienrasse fand ich kreativ umgesetzt. Ein Punkt zur Ausschreibung: Laut Vorgabe sollen die Aliens ihre Kinder wie Kuckucke unter Menschen legen – also so, dass die Pflegeeltern glauben, es wäre ihr eigenes. In deiner Version sind es aber Findelkinder, bei denen die Eltern von Anfang an wissen, dass sie adoptiert sind. Dadurch fehlt dieser Täuschungsmoment. Inhaltlich trotzdem spannend aufgebaut – nur dieser eine Kernaspekt der Aufgabenstellung müsste klarer getroffen werden.
AntwortenLöschenÄußerst interessante Geschichte. Der Einstieg war sehr stark. Die Charaktere glaubhaft, man konnte sich die Kleinstadt und ihre Leute gut vor Augen rufen und alles hat sich irgendwie stimmig angefühlt. Die Idee mit den Vier war äußerst originell. Auch die Atmosphäre der Geschichte ist sehr gut und der Schreibstil angenehm, jedoch konnte es bei mir leider nicht den Effekt erzielen, der vermutlich beabsichtigt war. Schon beim Treffen im Wald musste ich etwas schmunzeln, weil die Vorstellung das alle ganz cool bleiben, während Maya einen halben Nervenzusammenbruch bekommt, mich sehr amüsierte. Als dann auch noch so Phrasen wie "Jägerin" und "Raubtier" dazukamen, musste ich wirklich lachen. Es erinnert mich stark an meine Jungendzeit, wo ich mit 13 Jahren ein möglichst coolen Benutzernamen finden wollte und auch meine ersten Geschichten mit derartigen "coolen" Details ausschmückte. Vielleicht ist es ja auch wirklich cool, mich persönlich bringt es aber eher zum Lachen. Dadurch wurde ich leider aus der Geschichte gerissen. Es eskaliert auch alles ziemlich schnell, aber ich nehme an, dass ist nur wegen der Wortbegrenzung so. Die Dialoge und die Geschehnisse waren wir etwas zu ... überdramatisiert. Als würde ich keine Geschichte lesen, sondern das Skript für die nächste Netflix-Serie. Aber ich muss zugeben, dass eine gewaltbereite Alienrasse auch eine recht schöne Abwechslung war. Die Vashti als Alienrasse waren auch interessant. Es ist etwas traurig, dass die Kurzgeschichte das Thema das Schreibwettbewerbs zum weiten Teil verfehlt hat und das sie quasi dann endet, wenn es gerade richtig spannend ist. Aber der Autor/ die Autorin der Geschichte sollte auf jeden Fall weiter an den Schreibkünsten feilen. Ein Jungendroman würde sicher ziemlich gut werden :D
AntwortenLöschenStimme Panda zu. Es wird viel Zeit aufgewendet, um die Kleinstadt vorzustellen und ein stimmiges Setting zu schaffen. Die Handlung ist dann gezwungenermaßen etwas abrupt. Ich hätte gerne mehr gelesen! Also, liebe/r Autor/in: Du hast einen tollen Einstieg geschaffen. Es lohnt sich bestimmt, mit der Geschichte und den Figuren weiterzumachen
AntwortenLöschenFür mich von der Message her das perfekte Gegenstück zu Geschichte 82 - die Lücke :) Haben mich beide berührt.
AntwortenLöschenIch finde die Geschichte ziemlich gut, besonders den Anfang/ersten Teil als sehr spannend und gut aufgebaut. Weshalb Maya ein „Raubtier“ sein sollte, hat sich mir aber nicht erschlossen, bzw., das führte mich auf eine falsche Fährte.
AntwortenLöschenDer Teil, ab dem die Kids im Raumschiff sind, hat mir nicht mehr ganz so gut gefallen, da fand ich einiges dann unlogisch. Maya und die anderen fingen dann ja an, sich zu ver-Nürnberg und weniger emotional zu werden — wie sollen sie dann noch wirklich ihren „Zweck“ erfüllen können, bzw., wieso gibts dann noch eine Entscheidungsfrage für Maya? Hab ich nicht ganz nachvollziehen können.0
Insgesamt, bis auf wenige Fehler, aber ein sehr guter Text!
Das Mystery-Setting ist ziemlich gelungen und hat etwas von einer Mischung aus „Stranger Things“ und „Roswell“. Es gibt sogar ziemlich krasse Horrorelemente, auch wenn diese nur eine Vision sind. Leider gibt es ein paar Logikfehler. Warum können die Vier als Kinder nicht die Stadt verlassen und werden dann hysterisch? Das ergibt keinen Sinn und wird auch nicht aufgelöst. Haben ihnen die Vashti Horrorbilder in den Kopf gesendet, wie es später mit Maya geschieht?
AntwortenLöschenDie wahre Natur von Mrs. Henderson ist eine Überraschung, doch ihre Erklärungen sind wirr. Ihre Spezies hat die Fähigkeit zu Emotionen verloren und als ihr hoffnungsvollstes Experiment Maya wegen eben dieser angestrebten Emotionen bei ihrer Erdenfamilie bleiben will, wird gleich der gesamten Menschheit mit Auslöschung gedroht. Warum? Weil niemand die Vashti scheitern sehen soll. Doch zum einen ist das Experiment bei Maya nicht gescheitert und zum anderen hat die Menschheit doch ohnehin gar nix mitbekommen. Wozu sie auslöschen?
Ein weiterer Kritikpunkt ist die Länge. Die Geschichte hat 5 Kapitel + Epilog und endet offen, als ob da noch mehr kommt. Das ist leider keine Kurzgeschichte. Handwerklich ist Novelle größtenteils in Ordnung. Bei gleichrangigen Satzteilen kommt kein Komma vor dem „und“. Hinzu kommen einige Wortwiederholungen wie: „Besonders die vier Findelkinder hatten einen besonderen Platz in ihrem Herzen. »Meine besonderen Babys«“ Einmal „besonders“ hätte gereicht. Ebenso sollten Sätze nicht mehrfach mit demselben Namen beginnen: „Maya schrie (…) Maya presste (…)“