DACSF2025_48

DACSF2025_48

From two Worlds

Der Himmel war klar an diesem Abend.

Ein untypischer Umstand, denn normalerweise zog der Staub der Südhügel eine milchige Decke über die Stadt. Doch heute nicht. Heute war alles anders.

Mia stand neben ihrer Mutter am Rand des Platzes, wo die Banner für die Abgänger wehten. Hellblau und silbern, in der Mitte das Emblem der Kolonie: drei verschlungene Kreise, ein Symbol für Bindung, Herkunft und Zukunft.

»Dein letzter Abend als Bürgerin dritter Klasse«, sagte ihre Mutter mit einem Lächeln, das ein wenig zu fest wirkte.

»Ab morgen wird alles anders.«

Mia erwiderte das Lächeln, spürte aber, wie ihre Kehle trocken wurde.

Es war nicht die Angst vor der Zeremonie, nicht einmal die Vorstellung, mit all den anderen aufgerufen zu werden. Es war … etwas anderes. Etwas, das unter ihrer Haut vibrierte, seit sie an diesem Morgen die Augen geöffnet hatte. Ein kaum spürbares Pochen, ein Takt, der nicht zu ihrem Herzschlag passte.

Sie hatte versucht, es zu ignorieren. So wie all die anderen Dinge, die sie in den letzten Jahren gelernt hatte zu verbergen. Dass ihre Träume manchmal in fremden Sprachen zu ihr sprachen. Dass sie die Stimmen der Tiere verstand, wenn sie zu lange alleine war. Dass sie nie ganz in dieses Bild gepasst hatte, das ihre Familie von ihr hatte.

Aber heute war kein Tag zum Zweifeln. Heute sollte sie aufgenommen werden. Als vollwertiges Mitglied der Kolonie.

»Mia!«

Ein Arm schlang sich um ihre Schultern. Es war Kira, ihre beste Freundin. Sie war aufgeregt, rot im Gesicht und die Haare hatte sie zum dritten Mal an diesem Abend neu geflochten.

»Hast du´s gesehen? Schon drei Leuchte in Ocker! Das bedeutet Wissenschaftsdienst! Vielleicht teilen sie uns auch ein!«

Mia nickte und zwang sich zu einem freudigen Gesichtsausdruck, doch ihr Blick wanderte wieder zum Himmel. Irgendetwas war da oben.

Ein leiser Wind ging über den Platz, als hätte jemand die Luft angehalten.

Mia hob den Kopf. Das Licht hatte sich verändert. Die Schatten wirkten schärfer, die Farben seltsam gedämpft. Über ihr spannte sich der Himmel in einem matten Grau, was eben noch klarblau gewesen war.

Dann kam das Geräusch.

Es war kein Donnern oder Rauschen. Eher ein Summen, tief und vibrierend, als würde es aus dem Innersten der Welt emporsteigen.

Mia fröstelte.

Ihre Finger, eben noch verschränkt um das kleine Abzeichen auf ihrer Brust, zuckten unwillkürlich zurück. Etwas pochte in ihrem Inneren, nicht ihr Herz, sondern tiefer, eine Art Echo, das sich durch ihren Brustkorb zog und bis in die Wirbelsäule vibrierte.

»Was ist das?«, flüsterte Kira.

Die Menschen um sie herum sahen nach oben. Einige zeigten mit den Fingern, andere zückten ihre Komgeräte und filmten.

»Ein Wetterphänomen?«

»Vielleicht ein Manöver?«

»Nicht bei der Zeremonie … das hätten sie angekündigt …«

Mia trat unwillkürlichen einen Schritt vor.

Sie wusste, was sie da sah, ohne es benennen zu können.

Hoch oben, dort, wo der Himmel zu flirren begann, senkte sich etwas herab.

Drei Objekte – klar umrissen, völlig lautlos – schwebten über der Stadt. Keine Fenster. Keine Treibwerke. Keine Flaggen. Nur drei riesige, schimmernde Körper aus schwarzem Metall, die in perfekter Formation hielten.

Die Menge verstummte. Selbst Kinder hörten auf zu schreien.

Mia hörte nichts mehr. Kein Summen. Keine Stimmen. Nur noch diesen fremden Takt in sich.

Bum. Bum. Bum.

Er war synchron, gleichmäßig und nicht ihr eigener.

Sie spürte, wie ihre Knie weich wurden. Nicht vor Angst vor den Schiffen, sondern weil irgendetwas in ihr Antwortete. Ein Ziehen hinter der Stirn, wie ein unsichtbares Band, das sich straffte. Und dann eine Stimme. Nicht laut und auch nicht mit Worten. Ein Gedanke, der sich nicht wie ein eigener anfühlte:

Du wurdest erkannt

Mia sog scharf die Luft ein, ihre Mutter bemerkte es sofort.

»Mia? Was ist los?«

»Ich …« Sie rang nach Worten. »Ich weiß nicht. Mir ist nur … komisch«

»Bleib bei uns, ja?«

Ihre Mutter nahm ihre Hand, fest. Zu fest. Doch Mia spürte die Berührung kaum noch. Ihre Sinne waren anders. Scharf. Zu Scharf. Sie hörte, wie irgendwo hinter ihr ein Junge Schluckauf bekam. Wie jemand sich auf die Lippe biss. Wie ein Sicherheitsbeamter nervös mit seinem Zeigefinger auf dem Gehäuse seines Blasters tippte.

Und dann, mit einem Zucken durch die Menge: Bewegung

Ein Mann im offiziellen Wappenmantel trat auf das Podium. Sein Gesicht war bleich aber der Ton in seiner Stimme kontrolliert.

»Bürgerinnen und Bürger. Ich bitte um Ruhe.«

Das Mikro knisterte.

»Diese Objekte stellen keine unmittelbare Gefahr dar. Die Behörden stehen in Kontakt mit dem orbitalen Kommando. Wir …«

Ein heller Ton zog durch die Luft, klar und schneidend. Er kam nicht aus einem Lautsprecher, und doch hörte ihn jeder.

Alle hielten den Atem an. Mia fühlte, wie ihr Abzeichen auf der Brust warm wurde. Ein feines Glühen ging davon aus, kaum sichtbar.

»Mama …«, flüsterte sie. »Schau mal.«

Ihre Mutter sah hin, und wich einen Schritt zurück.

»Was … bei allen Göttern …?«

Mia war nicht die Einzige. In der Menge begannen hier und da weitere Abzeichen zu leuchten. Nicht viele. Vielleicht ein Dutzend. Vielleicht zwanzig.

Alle starrten aufeinander, dann auf die Schiffe.

Und plötzlich war es, als würde die Zeit einen Atemzug lang stillstehen.

Die Schiffe antworteten.

Drei Lichtlinien zogen sich gleichzeitig über ihre glatte Oberfläche. Gold. Weiß. Violett.

Das gleiche Muster wie auf dem Abzeichen an Mias Brust. Sie wusste nicht, wieso sie das überhaupt so genau wahrnahm. Es war nicht logisch. Es war einfach da. Eine Gewissheit, so tief, dass sie ihr beinahe den Atem raubte.

Das Leuchten auf ihrer Brust pulsierte jetzt sanft und regelmäßig. So, als hätte es einen Rhythmus gefunden, oder als würde es selbst etwas suchen. Niemand sagte etwas aber rings um sie herum veränderten sich die Blicke. Die Menschen wichen zurück, flüsterten und zeigten auf sie.

Mia sah sich um. Da waren noch andere. Ein Mädchen drei Reihen weiter. Ein Junge mit zerzaustem Haar nahe am Nordtor. Ein alter Mann, der reglos dastand, die Augen weit aufgerissen. Ihre Abzeichen glühten ebenfalls. Dasselbe Muster. Dasselbe Leuchten.

Ein Gedanke formte sich in ihr, leise, klar und unaufhaltsam:

Wir sind nicht allein.

Neben ihr war ihre Mutter wie erstarrt. Kein Wort kam über ihre Lippen. Sie nahm Mias Hand fest in ihre. Ihr Blick schwankte zwischen Entsetzen und Zweifel, als hätte sie eben etwas gesehen, das nicht sein durfte.

»Das ist nicht … möglich«, flüsterte sie. Doch es klang nicht wie ein Versuch, Mia zu beruhigen. Es war mehr ein Flehen.

Mia trat einen Schritt zurück. Das Leuchten war jetzt deutlich sichtbar. Ihr Herz raste, aber nicht vor Angst, sondern weil etwas in ihr endlich aufhörte zu kämpfen.

Der Ton in der Luft war verschwunden, doch seine Spur blieb zurück. Wie ein Nachhall unter der Haut.

Ein Mann schrie. Dann noch einer.

»Sie sind es! Die da! Die … Leuchtenden!«

»Es sind Spione! Unterwanderer!«

»Nein«, sagte jemand anders. »Sie sind das Zeichen. Sie sind auserwählt!«

Mia wusste nicht, wie ihr geschah und was sie denken sollte.

Die Stimmung kippte plötzlich. Jemand warf etwas und eine Flasche zerschellte nicht weit von Mia entfernt am Boden. Menschen drängten sich, einige flohen und andere blieben wie angewurzelt stehen. Ein Lautsprecher knackte erneut, doch die Worte gingen im Tumult unter.

Mia wich weiter zurück. Ihre Hand tastete nach ihrer Mutter, suchte nach Halt, nach einer Berührung, einem Zeichen, dass sie nicht allein war in diesem Moment. Doch da war nichts mehr. Nur Leere und das warme Glühen an ihrer Brust.

Einige der Anwesenden schrien jetzt. Ein Wachposten versuchte, sich Gehör zu verschaffen und brüllte Kommandos, die niemand hörte. Irgendwo stürzte jemand. Metall schepperte. Und über allem thronten dieses beunruhigende Schweigen aus den Schiffen.

Mias Beine bewegten sich wie von selbst, zitternd aber nicht willenlos. Ihre Finger krallten sich in den Stoff ihres Festkleids. Nicht aus Angst. Es war eher wie ein instinktives Zusammenhalten, als müsste sie sich selbst daran erinnern, dass sie noch hier war.

Ein Kind weinte, ein alter Mann betete laut und eine Frau rief nach ihrem Sohn. Und dann brach die Menge auseinander. Wie ein Schwarm, in den ein Schatten fällt. Panisch, chaotisch, instinktiv.

Ein paar Hände griffen nach ihr.

»Was bedeutet das?«

»Warum leuchtet dein Abzeichen?«

Doch sie hatte keine Antwort.

Jemand rief ihren Namen.

»Mia!«

Sie drehte sich um. Ihr Vater bahnte sich einen Weg durch die Menge. Seine Stirn glänzte, die Augen weit aufgerissen, aber klar auf sie gerichtet. Er wirkte, als würde er gegen den Strom schwimmen, gegen eine Flut, die ihn jeden Moment verschlucken konnte.

»Komm her!« Seine Stimme war fest und befehlend. Doch es war die Angst darin, die sie traf. Mia zögerte. Ihre Brust glühte immer noch, und jedes Mal, wenn sie den Blick zu den Schiffen hob, schien es stärker zu werden.

»Jetzt!«, rief ihr Vater. Und in diesem Moment war es nicht der Mann, der ihr früher das Radfahren beigebracht hatte, der mit ihr am Fluss gebadet oder ihr Knoten gezeigt hatte,

es war jemand, die nicht verstand, was da mit ihr geschah. Und vielleicht nie verstehen konnte.

Trotzdem lief sie los. Nicht, weil sie musste, sondern weil ein Teil von ihr es brauchte, ein letztes Stück Normalität, ein letzter Versuch sich an das festzuhalten, was sie war. Oder geglaubt hatte zu sein.

Der Weg nach Hause war nicht lang, aber er fühlte sich an wie ein Marsch durch eine Welt, die sich gegen sie gewendet hatte. Überall liefen Menschen umher, schauten zum Himmel, redeten laut durcheinander, einige starrten auf ihre Abzeichen, als würden sie hoffen, dass sie ebenfalls leuchteten, oder beteten, dass sie es nicht taten.

Mia hörte kaum etwas. Ihre Schritte auf dem Steinpflaster waren dumpf, ihr Blick verschwamm an den Rändern. Die Hand ihres Vaters umklammerte ihr Handgelenk so fest, dass es schmerzte, aber sie sagte nichts. Ihre Mutter war vorausgeeilt, immer wieder umblickend, als hätte sie Angst, man würde ihnen folgen.

Zuhause war alles still. Kaum fiel die Tür ins Schloss, brach die Anspannung über sie herein.

»Was war das?«, rief ihre Mutter. »Was ist das?!«

Mia stand in der Mitte des Raumes, umgeben von Dingen, die ihr einmal Halt gegeben hatten. Der gerahmte Abdruck ihrer Kinderhände an der Wand. Das Regal mit den alten Diplomen der Eltern. Das abgegriffene Kissen, das sie als Kind überall mit hingenommen hatte.

»Ich weiß es nicht«, flüsterte sie.

»Unsinn!«, rief ihr Vater. »Du musst etwas wissen! Dieses Ding…« – er deutete auf ihr Abzeichen – »…es hat auf diese Schiffe reagiert! Das tut es nicht einfach so!«

Mia blickte hinab. Das Leuchten war schwächer geworden, fast verschwunden. Aber sie wusste, dass es noch da war. Dass es zurückkehren würde.

»Vielleicht… vielleicht war es ein Fehler«, sagte sie leise.

»Ein Fehler?«, wiederholte ihre Mutter. »Willst du mir sagen, du bist… bist du nicht…«

Sie brach ab. Ihre Stimme zitterte.

Mia wollte etwas sagen, irgendetwas Tröstendes. Doch noch bevor sie einen Ton herausbrachte, ertönte der Ton ihres Wohnraumlautsprechers. Eine automatische Durchsage. Ungewohnt formell. Ungewohnt kühl.

»Bürgerinnen und Bürger. Die heutigen Ereignisse stehen im Zusammenhang mit einer Entdeckung, die bis heute unter Verschluss gehalten wurde. Vor zwanzig Jahren kam es auf mehreren Koloniewelten zu nicht erklärbaren Geburten. Die genetische Analyse dieser Kinder ergab…, dass sie nicht menschlichen Ursprungs sind.«

Mia blinzelte, ihre Haut fühlte sich taub an.

»Die betroffenen Kinder wurden äußerlich angepasst. Sie entwickelten sich völlig unauffällig. Sie lebten bis jetzt unter uns.«

Ein Bild erschien auf dem Wandprojektor. Eine schematische Darstellung des Musters: Gold. Weiß. Violett. Dasselbe wie auf ihrem Abzeichen.

»Diese Individuen tragen ein Erkennungssymbol auf ihrer Brust. Es aktiviert sich durch den Kontakt mit den zurückkehrenden Entitäten. Wir bitten alle betroffenen Personen, sich unverzüglich beim nächsten Sicherheitspunkt zu melden. Zum Schutz der Allgemeinheit und zum Schutz der Wahrheit.«

Das Bild erlosch und Mia stand da, wusste nicht was sie sagen oder tun sollte.

Ihre Mutter war die Erste, die sich bewegte. Sie griff nach dem Wandschalter, schaltete den Projektor aus, als könne sie damit die Nachricht selbst rückgängig machen. Ihre Hand zitterte, als sie sich an die Kommode lehnte.

»Das kann nicht sein«, sagte sie tonlos. »Das ist irgendein Trick. Ein Test. Irgendeine Regierungslüge, wie damals mit den Replikanten.«

Ihr Vater sagte nichts. Er stand einfach nur da, die Arme verschränkt, den Blick auf Mia gerichtet. Sein Gesicht war reglos, doch in seinen Augen sammelte sich etwas, das Mia nicht deuten konnte.

»Du bist unsere Tochter«, flüsterte ihre Mutter, die Stimme brüchig. »Ich habe dich zur Welt gebracht. Ich war dabei. Ich habe dich gehalten. Ich habe—«

»Habt ihr je eine Untersuchung gemacht?«, fragte Mia plötzlich. Ihre Stimme klang fremd in ihren Ohren. Klarer, als sie sich fühlte. »Irgendetwas… Besonderes an mir bemerkt?«

Stille. Ihr Vater senkte den Blick.

»Es gab… damals… Unstimmigkeiten«, sagte er dann langsam. »Ein Arzt hat gesagt, dein Genprofil sei ungewöhnlich. Nicht eindeutig zuzuordnen. Aber wir… wir haben das nicht ernst genommen. Wir haben gesagt, du bist besonders. Nicht falsch. Niemals falsch.«

Mia nickte. Und trotzdem fühlte es sich an, als würde etwas in ihr brechen. Sie drehte sich um, lief ins Badezimmer und schaltete das Licht an, sah sich selbst im Spiegel an.

Dasselbe Gesicht wie immer. Dunkle Augen. Hohe Wangenknochen. Die kleine Narbe über der linken Braue, wo sie sich mit fünf den Kopf am Tisch gestoßen hatte. Nichts sah fremd aus. Und doch spürte sie, wie unter der Haut etwas zu flimmern begann. Ein leiser Strom, der durch sie floss. Als hätte jemand einen Sender eingeschaltet.

Sie legte die Hand auf ihre Brust. Das Abzeichen war kühl geworden, aber der Punkt darunter pulsierte noch.

»Du wurdest erkannt«, flüsterte sie.

Als sie zurück ins Wohnzimmer trat, standen ihre Eltern nebeneinander.

»Wir lassen dich nicht gehen«, sagte ihre Mutter sofort. »Diese… Dinger da draußen – was immer sie sind – du gehörst zu uns.«

»Sie haben gesagt, wir sollen euch abgeben«, fügte ihr Vater hinzu. »Aber das kommt nicht infrage. Wir werden dich beschützen.«

Mia sah sie an. So, wie man Menschen ansieht, die man liebt und plötzlich nicht mehr weiß, ob man noch dieselbe Sprache spricht.

»Ich weiß nicht mal, was ich bin«, sagte sie leise. »Wie wollt ihr mich schützen vor etwas, das in mir ist?«

Sie wartete, bis beide in der Küche verschwunden waren. Es war nicht geplant. Kein Fluchtversuch, kein großer Entschluss. Nur ein Schritt. Und noch einer. Durch den Flur. Zur Tür. Sie nahm ihren Mantel, ohne ihn zu schließen. Das Abzeichen steckte sie in die Tasche. Sie wusste nicht, warum, vielleicht, weil sie nicht wollte, dass es ihr vorauslief. Draußen war es dunkel geworden. Die Straßenlaternen warfen kaltes Licht auf den Asphalt. Eine Katze huschte über den Gehweg, irgendwo bellte ein Hund. Und über allem: die drei Schiffe, unbewegt, lautlos, wie in den Himmel gemalt.

Mia ging. Nicht schnell. Aber mit einem Ziel, das sie selbst nicht kannte.

Die Straßen waren leerer als sonst, aber nicht verlassen. In Hauseingängen standen Menschen, leise flüsternd, manche mit erhobenen Bildschirmen, andere einfach nur starr vor Angst.

Niemand sprach sie an. Niemand hielt sie auf. Vielleicht wirkten ihre Schritte zu sicher. Vielleicht war sie einfach nicht mehr zu erkennen.

Am Platz angekommen, blieb sie stehen. Dort, wo noch Stunden zuvor Musik gespielt hatte. Jetzt war der Boden mit zerknüllten Bannern bedeckt. Verlorene Schuhe. Ein zerbrochenes Komgerät. Und mittendrin, auf einer der niedrigen Steinmauern, saß jemand.

Ein Junge, vielleicht in ihrem Alter. Er trug sein Abzeichen offen. Es leuchtete noch. Nicht stark, aber stetig. Er sah sie an, als hätte er auf sie gewartet.

»Du auch?«, fragte er. Keine Überraschung in seiner Stimme. Mia nickte. Er deutete neben sich und sie setzte sich. Eine Weile sagte niemand etwas.

Dann flüsterte er: »Ich träume davon, seit ich zwölf bin. Von ihnen. Von diesem Licht. Ich dachte, ich sei verrückt.«

Mia sah zu den Schiffen hinauf.

»Ich nicht«, sagte sie. »Ich habe es nie kommen sehen. Aber jetzt fühlt es sich an, als hätte ich mein Leben lang gewusst, dass es kommt.«

Sein Name war Neven.

Er sprach ihn nicht aus wie eine Vorstellung, eher wie ein Bekenntnis. Mia sagte ihren Namen nicht. Er kannte ihn vermutlich ohnehin. Die meisten in der Kolonie kannten einander, wenigstens vom Sehen.

Sie saßen noch immer auf der Mauer, die Nacht schwer über ihnen, das Glühen der Schiffe wie eine zweite Sonne, stumm und wachsam. Weitere Schritte näherten sich.

Vorsichtige Schatten, die sich näherten wie Tiere im Unterholz. Ein Mädchen mit langem Haar, geflochten, unruhige Hände.

Ein Junge, kaum älter als sie, mit einer Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Ein älteres Paar, Hand in Hand, mit müden Augen.

Keiner von ihnen sagte etwas. Aber ihre Schritte führten alle zum selben Ort. Und ihre Abzeichen leuchteten. Mia sah sie sich an, einen nach dem anderen. Sie waren keine Gruppe. Keine Einheit. Nur Einzelne, die etwas verloren hatten und jetzt vielleicht etwas fanden.

Neven atmete leise aus.

»Sie haben gerufen. Und wir sind gekommen.«

Mia schloss für einen Moment die Augen. In ihrem Innern pochte es wieder, dieser fremde Takt, der sich in den ihren schmiegte, wie ein zweiter Puls, der darauf wartete, angenommen zu werden. Vielleicht war es das, was sie wirklich erschreckte. Nicht, dass sie nicht dazugehörte. Sondern dass sich das hier gerade richtiger anfühlte als alles, was sie bisher gekannt hatte. Niemand sprach weiter. Die Nacht war still. Und dann veränderte sich das Licht.

Zuerst war es nur ein Schimmer, kaum mehr als eine Veränderung im Winkel des Lichts. Ein sanftes Flirren, das über den Boden glitt wie Wasser in flacher Schale. Die Steine unter ihren Füßen begannen, silbrig zu spiegeln, als würde das Licht von innen kommen. Niemand sagte etwas. Niemand rührte sich. Mia blickte nach oben. Eines der drei Schiffe hatte sich bewegt. Nicht viel. Nur ein paar Grad. Genug, dass sie es spürte, in der Luft, in den Steinen, in sich selbst.

Ein Lichtstrahl senkte sich. Kein harter Kegel. Kein durchdringender Strahl. Es fühlte sich nicht an wie Technologie.

Es war, als würde jemand eine Tür öffnen. Nicht aus Metall, sondern aus Bedeutung.

Mia richtete sich langsam auf. Auch die anderen standen, ohne sich abzusprechen. Niemand rief sie. Niemand zwang sie. Und doch war da etwas. Eine Stimme, nicht laut, nicht mit Worten – aber da.

Willkommen.

Es war kein Befehl. Kein Ruf zur Ordnung. Nur das einfache, klare Gefühl, dass sie gemeint war. Dass sie alle gemeint waren.

Neven trat einen Schritt in das Licht. Seine Schultern senkten sich, als hätte er seit Jahren eine Last getragen, die jetzt von ihm abfiel. Das Mädchen mit dem geflochtenen Haar zögerte, dann folgte sie. Mia spürte, wie ihre Finger sich unbewusst zur Faust ballten. Sie wusste nicht, was hinter diesem Licht lag. Aber sie wusste, dass sie es herausfinden musste. Langsam trat sie vor. Und das Licht nahm sie auf, als hätte es auf sie gewartet.

Sie hätte es beinahe getan. Nur noch ein Schritt, und sie wäre weiter hineingetreten. In das Licht. In das, was wartete. Doch etwas hielt sie zurück. Kein Ruf, kein Geräusch. Ein anderes Ziehen. Ein anderes Echo.

»Mia!«

Die Stimme traf sie wie ein Stromschlag. Echt. Laut. Nah. Sie drehte sich um.

Kira stand da. Keuchend. Barfuß. Die Haare offen, das Kleid zerrissen.

»Was tust du da?!«, rief sie. »Du… das bist doch nicht du!«

Mia trat einen Schritt zurück, raus aus dem Licht. Es ließ sie gehen. Ohne Widerstand.

Kira starrte auf das Abzeichen. Auf das Glimmen. Dann auf die anderen, Neven, das Mädchen, den Jungen.

»Sie haben gesagt, es ist gefährlich«, flüsterte sie. »Dass ihr… dass sie euch holen. Dass ihr keine… keine Menschen seid.«

Mia sagte nichts. Was hätte sie sagen sollen?

»Du bist meine Freundin«, sagte Kira. Ihre Stimme brach. »Meine beste Freundin. Du kannst nicht einfach… dazugehören, wo du nicht herkommst.«

Hinter ihr tauchten zwei vertraute Silhouetten auf. Ihre Eltern. Die Gesichter erschöpft. Die Schultern schwer. Doch in ihren Augen war keine Wut mehr. Keine Verleugnung.

Nur Angst. Und Liebe.

»Wir wollten dich nicht verlieren«, sagte ihre Mutter leise. »Wir hatten keine Anleitung dafür.«

Ihr Vater trat näher. »Vielleicht gehören wir nicht zu dem, was du bist. Aber du gehörst zu uns. Egal, was sie sagen.«

Mia spürte, wie sich etwas in ihr zusammenzog. Nicht Schmerz, nur die plötzliche Klarheit, dass sie niemandem würde gerecht werden können. Nicht ganz. Nie ganz.

»Ich weiß es nicht«, flüsterte sie. »Wer ich bin. Was ich bin. Ich… ich muss es herausfinden.«

Sie stand zwischen den Welten. Hinter ihr Kira, deren Hände zitterten, obwohl sie versuchte, tapfer zu wirken. Ihre Eltern, erschöpft und voller Fragen, die niemand beantworten konnte. Vor ihr das Licht. Und die anderen.

Sie wusste, dass sie sie beide verlieren konnte, egal, wie sie sich entschied. Wenn sie ging, würde ein Teil ihres alten Lebens mit ihr brechen. Wenn sie blieb, würde sie nie erfahren, was diese Fremde in ihr bedeutete. Vielleicht war das die wahre Prüfung. Nicht, was sie war, sondern wie viel sie bereit war, zu verlieren, um es herauszufinden. Sie trat zu Kira. Nah genug, dass ihre Stirn beinahe die ihre berührte.

»Ich habe dich immer geliebt wie eine Schwester«, sagte sie leise. »Aber ich weiß nicht, ob ich je ganz das war, was du in mir gesehen hast.«

Kira schüttelte den Kopf. »Ich wollte nur … dass alles so bleibt, wie es war.«

»Ich auch«, flüsterte Mia.

Sie wandte sich ihren Eltern zu. Ihre Mutter hatte Tränen in den Augen, aber sie kämpfte nicht mehr dagegen an. Ihr Vater trat einen Schritt vor, zog sie an sich, ganz fest, ganz still.

»Geh«, sagte er dann. »Wenn du musst. Aber vergiss nicht, wo du Wurzeln geschlagen hast.«

Mia nickte. Es war kein Abschied. Nicht ganz. Aber auch kein Versprechen.

Sie drehte sich um, langsam, ruhig, ließ das Zittern hinter sich. Ihre Füße trugen sie von selbst. Kein Zwang. Kein Ruf. Nur das innere Wissen, dass sie diesen Schritt gehen musste, nicht um sich von jemandem zu entfernen, sondern um sich selbst endlich nah zu kommen. Sie trat in das Licht und es nahm sie auf.

Es war nicht hell, nicht blendend. Kein gleißendes Portal, kein grelles Verschwinden. Es war warm. Wie früher, wenn ihre Mutter die Bettdecke über sie gezogen hatte und die Nacht leise geblieben war. Wie Sonnenlicht auf geschlossenen Lidern. Sie spürte den Boden nicht mehr. Auch die Geräusche verblassten. Kein Rufen, kein Wind. Kein Kira, kein Vater, keine Welt. Nur sie.

Und etwas, das sich ihr näherte, nicht mit Schritten, sondern wie ein Gedanke, der schon vor dem Denken da war.

Willkommen.

Das Wort war nicht gesprochen. Nicht gesendet. Es war einfach da. Wie ein zweites Herz in ihrer Brust, das endlich zu schlagen begann. Sie öffnete die Augen.

Und stand in einem Raum, der nicht aus Wänden bestand. Er war aus Farben gemacht, aus Bewegungen, aus Erinnerungen, die nicht ihre waren.

Flüssige Strukturen schwebten durch das, was vielleicht Luft war. Muster formten sich, lösten sich auf, schwebten näher, als wollten sie von ihr gelesen werden. Ein Wesen trat vor sie. Oder mehrere. Es war schwer zu sagen. Die Form war unklar, aber nicht bedrohlich. Etwas in ihr sagte: Verwandt.

Nicht durch Blut. Nicht durch Haut. Sondern durch Ursprung.

»Warum ich?«, fragte sie.

Ihre Stimme war da, obwohl sie nicht sprach. Die Antwort kam wie ein Gedanke, der in sie hineinwuchs.

Weil du die Brücke bist. Weil du fühlen kannst, was beide Seiten nicht mehr sehen. Weil du geboren wurdest, um zu erinnern, nicht um zu gehören.

Sie verstand nicht alles. Nicht sofort. Aber sie spürte: Es war wahr.

»Was wollt ihr von mir?«

Nicht nehmen. Nicht besitzen. Erkennen. Und wählen.

Ein anderes Bild entstand. Erde. Himmel. Licht. Und dazwischen: sie.

Nicht als Kind. Nicht als Fremde, sondern als Verbindung.

Sie spürte, wie all das, was sie war – Tochter, Freundin, Trägerin eines fremden Musters – sich nicht ausschloss, sondern überlagerte. Sie war nicht entweder. Nicht oder. Sondern beides.

Als sie die Augen wieder schloss, tat sie es nicht aus Angst, sondern, weil sie wusste, was sie sehen wollte, wenn sie sie wieder öffnete.

Das Licht ließ sie los wie etwas, das nicht festhält, weil es weiß, dass es bleibt. Mia öffnete die Augen. Sie stand wieder auf dem Platz. Der Himmel war noch immer von den drei Schiffen durchzogen, aber das Leuchten hatte sich verändert. Sanfter jetzt. Fast wie ein Versprechen. Die anderen standen ebenfalls dort. Neven, das Mädchen mit dem geflochtenen Haar, die übrigen. Ihre Blicke trafen sich, aber niemand sprach. Sie mussten nicht. Etwas hatte sich verschoben. Nicht die Welt. Aber ihr Platz darin.

Sie sah Kira. Sie stand noch immer da, wo Mia sie verlassen hatte. Ihr Gesicht war rot vom Weinen, aber sie hielt sich aufrecht. Und als sich ihre Blicke trafen, nickte sie. Zögernd. Aber sie tat es. Ihre Eltern standen wenige Schritte dahinter, die Gesichter erschöpft, die Augen offen. Mia ging zu ihnen. Langsam. Nicht mehr zögernd. Sie blieb vor ihnen stehen, das Abzeichen an ihrer Brust war jetzt wieder matt. Nur die Form erinnerte an das, was sie war, und was sie geworden war.

»Ich bin noch da«, sagte sie.

Ihre Mutter schloss sie in die Arme, und diesmal war es keine Umarmung, die festhielt. Sondern eine, die loslassen konnte. Der Lautsprecher knackte. Die Stimme der Regierung sprach wieder. Eindringlich. Reglungsbereit. Berechnend.

»Alle identifizierten Individuen haben sich zu melden. Weitere Anweisungen folgen.«

Mia sah zu den Schiffen. Dann zur Menge. Dann wieder nach innen.

»Nein«, sagte sie. Leise, aber deutlich. »Wir melden uns nicht. Wir sind nicht der Feind. Wir sind kein Werkzeug. Wir sind mehr.«

Die Menschen lauschten. Die, die leuchteten. Und die, die nicht leuchteten. Ein paar schrien. Einige gingen. Doch viele blieben.

Sie wussten nicht, was das bedeutete. Aber sie spürten, dass es begann. Mia trat vor an den Rand des Platzes. In die Mitte der Blicke.

»Ich bin nicht nur das Kind dieser Welt«, sagte sie. »Aber sie hat mich genährt. Ich bin nicht nur das Erbe einer anderen. Aber sie hat mich gerufen. Ich bin das Dazwischen. Und ich will keine Brücke sein, die benutzt wird. Ich will eine sein, die verbindet. Wenn ihr das hören könnt – wenn ihr bereit seid – dann kommt.«

Ein paar kamen. Neven zuerst. Dann andere. Nicht alle. Nicht sofort. Aber genug.

Das Licht über ihnen begann zu verblassen. Langsam. Wie ein Sonnenaufgang in die andere Richtung. Und für einen Moment – einen flüchtigen, leuchtenden Moment – sah Mia, wie eine andere Welt durch sie hindurchblickte. Nicht fremd, nur noch nicht ganz zu Hause.

5 Kommentare

  1. Grandios! Für mich mit eine der besten Geschichten hier. Sehr berührend, sehr, sehr gut erzählt, sprachlich wie inhaltlich auf hohem Niveau, nahezu fehlerfreier Text. Eine Geschichte mit Tiefgang und Mehrwert.

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  2. Ich fand die Geschichte spannend und gut erzählt. Auch dass die Bevölkerung panisch und aggressiv reagiert, als die Abzeichen von Mia und den anderen anfangen zu leuchten, fand ich sehr realistisch. Am Ende jedoch hatte ich nur Fragezeichen im Kopf. Warum lassen die Ausserirdischen Mia und die anderen wieder ziehen und verschwinden selbst? Was soll der Widerstand von Mia gegen das Regime bewirken? Haben sie und die anderen jetzt besondere Kräfte?
    Sehr gut geschrieben, aber die Geschichte lässt mich ratlos zurück.

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  3. Ein spannender Plot, der ruhig noch etwas deutlicher heraus gearbeitet werden dürfte. Auch die ruhige Handschrift fällt angenehm auf. Generell schätze ich es sehr, wenn es viele Absätze gibt. Was ich vermisst habe, sind Dialoge. Insgesamt zu viele verzichtbare Sätze, die verhindern, dass sich echte Spannung aufbauen kann. 3,5 Sterne

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  4. Die Idee gefällt mir gut, aber man hätte noch besser die einzelnen Persönlichkeiten, ihre Gefühle und Entwicklung klarer machen können. Nicht durch Beschreibungen wie "Sie waren erschöpft", sondern subtiler. Wobei ich gerade "Erschöpfung" in dieser Situation gar nicht am passendsten fand.

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  5. Der Weltenaufbau ist recht interessant und die spannende Erzählweise hat mich gleich in diese Welt hineinversetzt. Dennoch fehlt mir eine klare Auflösung und es bleiben einige Fragen offen. Die Regierung der Koloniewelt wusste also von den Kuckuckskindern. War es also die Regierung, die allen Kindern Abzeichen gegeben hat, welche diese bei Ankunft der Aliens als deren Nachwuchs identifiziert haben? Warum kommen die Außerirdischen nicht gleich zu Sache? Und warum befindet sich unter den Auserwählten ein älteres Paar, wo die Kuckuckskinder doch erst vor 20 Jahren gezeugt worden sind? Warum ist Mias Freundin Kira plötzlich barfuß und ihr Kleid ist zerrissen. Wann ist das passiert?

    Wenn nicht so viele offene Fragen wären, wäre die Geschichte wirklich super. Auch was den Schreibstil angeht. Da sind mir nur wenige Grammatikfehler aufgefallen und unglückliche Formulierungen wie: „Dass ihre Träume manchmal in fremden Sprachen zu ihr sprachen.“ Passiert, alles halb so schlimm.

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