DACSF2025_44

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Jeroo Bah

Gerade hatte Chinedu "Chinex" Umaru auf TikTok über die ständigen Stromausfälle in den Randgebieten von Lagos gelacht, als auch schon das Licht ausging. Wieder einmal. Für Chinedu war es Alltag in einer Gegend, die auf Google Maps nicht wirklich verzeichnet und auch nur mit Booten erreichbar war.

„Ach kommt schon. Der Prinz von Nigeria braucht Licht“, witzelte er. Seine Kumpels stimmten ihm zu. Eine Campinglampe spendete nun Licht. Schon drehte er den nächsten kurzen Clip, in welchem er erklärte, dass seine Prophezeiung gerade eingetreten war. Nun wünsche er in seinem königlichen Palast jedoch wieder Festbeleuchtung, weil er sonst an seine Milliarden nicht herankäme. Er tippte auf den Sendebutton.

Die allgegenwärtigen Schnellstraßen um ihr Reich, welche Besucher um den Slum herumführten, hatten auch etwas Gutes: Sendemasten mit Internetverbindung. Dabei hatte Chinedu den Wunsch, einen Traum, all das hinter sich zu lassen. Er wollte etwas von der Welt sehen. Jene Welt, die er auf den Social-Media-Kanälen als eine Realität wahr nahm. Die Städte, Orte und Kulturen, die er sich ansah, waren so fremd, als wären sie von einem anderem Planeten. Doch es wäre alles hier. Man müsse nur heraus. Weg von diesem Ort.

Musa, der rechts neben Chinedu saß, stieß ihn mit dem Ellenbogen und fragte, ob er schon wieder von der Welt träume. Chinedu grinste kurz. Musa reichte ihm seine Flasche Wasser, die auch etwas Alkohol enthielt. Die Flasche hatte nach dem zusetzen von Schnaps den ganzen Tag in der Sonne gestanden. So streckten sie sich die kleine Menge, die sie sich zusammen leisten konnten. Für einen Rausch war das selbstverständlich zu wenig. Es ging ihnen eher um das Gefühl. Chinedu nahm einen kräftigen Schluck, lachte dann laut und rief aus, dass ihr Platz genau hier wäre. Genau richtig. Aber tief in seinem Inneren wusste er, dass das nicht stimmte. Es musste etwas Besseres als dieses Los geben.

Am nächsten Morgen war die Realität wieder da. Chinedu hatte einen Gelegenheitsjob angenommen. Sein Magen füllte sich schließlich nicht durch Internetvideos. Aber mit seinem sonnigen Gemüt, war es ihm ein leichtes, die schwere Arbeit in seinem neuesten Video als Erholung oder gar Abenteuer wirken zu lassen. Dabei zog er einfach einen Handkarren mit Schrott von einer nobleren Wohnsiedlung. Lagos bestand im Wesentlichen weniger aus Slums, als ein Außenstehender wohl annehmen konnte. Der Karren sollte zu einem Verwertungsplatz. Ein Platz, an dem sich Leute das nahmen, was andere wegwarfen. Chinedu stilisierte sich bei diesem Video zu einem Samariter. Er nahm es von den Reichen und gab es den Armen. Er wäre schließlich der Prinz aus Nigeria. Das Original. Der überspitzte Alltag zog und bescherte Klicks. Sehr viele Klicks.

Aus irgendeinem Grund war das Video gerade der Renner. Für Chinedu war es unerklärlich, da es sich doch kaum von seinen anderen Clips unterschied. Er schaute in die Statistiken.

Ein Großteil der Viewer stammte aus Afrika, aber nach Mitternacht hatte es sich wohl in Europa verbreitet und hatte sogar den Sprung nach Südamerika geschafft. Für den Influencer stand fest, dass die automatischen Untertitel mit Übersetzung wohl ihr Geld wert wären.

Nun erreichte ihn eine direkte Nachricht. Eine Mitteilung von einer verifizierten Mediengruppe, mit blauem Haken. Chinedu konnte es kaum glauben.

Er wurde in ein Hotel eingeladen. Zwei Manager wären wohl zufällig in Lagos. In der Medienwelt müsse man schnell handeln und den Hype um Chinex noch heute ausnutzen. Es wurde nachdrücklich um Diskretion gebeten. Die Mediengruppe hatte ihren Sitz in Stockholm. Dieses Angebot klang nach seinem Traum.

Von einer Euphorie getrieben, stürzte Chinedu fast in eine Panikattacke. Wie kleidet man sich, wenn man mit Europäern spricht? Ein Anzug! Wo bekomme ich einen Anzug her?

Aber schnell besann sich der junge Mann darauf, was ihm seine Follower beschert hatte: Natürlichkeit und sein feiner Sinn für Überspitzungen. In einem weißen Trainingsanzug mit schwarzen Streifen war er bestens gekleidet.

Jedenfalls war er damit besser gekleidet als die meisten Leute in der Gegend, wo das Hotel lag. Chinedu rätselte, ob seine Gastgeber es ernst meinten, oder es falsch eingeschätzt hatten, wo sie sich treffen würden.

Der Social-Media-Star machte noch eine Aufnahme, in welcher er darüber sprach, wie overdressed man sich doch als echter Prinz vorkommen kann. Er verlor kein Wort darüber, warum er hier war. Wie von der Agentur gewünscht.

Erstaunlicherweise war das Gebäude in relativ gutem Zustand und das Foyer war von Licht und einem kühlenden Luftstrom geflutet. An einem Tisch saßen zwei Leute, die er eindeutig in Europa verorten könnte. Dennoch wollte er hier keinen Fehler machen und meldete sich an der Rezeption. Die Frau dort trug ein Schild mit dem Namen Adeola. Wäre er hier nicht eingeladen und würde nur etwas abliefern, hätte er sie jetzt nach ihrer Nummer gefragt. Stattdessen zeigte er seine Einladung. Adeola wies freundlich mit einer Hand auf einen Durchgang. Das bescheidene Hotel besaß ein Atrium. So langsam ahnte Chinedu, warum es dieser Ort sein könnte. Die Architektur erinnerte an französisches Ambiente.

Er erreichte den kleinen Hof, dessen Wasserspiel etwas Beruhigendes hatte. Im Schatten, auf einem Rattansofa saßen eine Frau und ein Mann, welche eine noch dunklere Hautfarbe aufwiesen als Chinedu selbst. Die sind das schon mal nicht, dachte er. Suchend blickte er sich um, als die Frau aufstand und sich mit einem harten Akzent vorstellte. Maria Bergström. Dann stand der Mann auf und reichte Chinedu die Hand. Josef Lund.

Herr Lund winkte einem Hotelmitarbeiter zu und bestellte drei Gläser Tee. In ihrer Art, wie die Schweden sich gaben, fühlte sich Chinedu wohl und es war ihm, als ob er sie schon ein Leben lang kannte. Das Gespräch war weniger an wirtschaftliche Interessen gekoppelt als an Content. Einige Begriffe sagten sogar dem Medien erfahrenen Chinedu nichts. Aber er nickte dazu freundlich. Dann holte Maria zwei kleine Violen hervor und kippte diese in ihren und Josefs Tee. Chinedu fragte sofort nach, was es sei. Es wäre ein nordisches Süßungsmittel. Hier hätte man nur Zucker. Seinem skeptischen Blick folgend, holte Maria noch ein Röhrchen hervor und gab es Chinedu. Dieser öffnete es, roch daran, streute etwas auf seinen Finger und leckte es ab. Es war süßlich. Mit einem Achselzucken kippte er den Inhalt, wie Maria, komplett in seinen Tee.

Auch wenn von dem Teegeschmack jetzt nicht mehr viel übrig war, ließ sich Chinedu nichts anmerken und trank während der Verhandlung über seine Leistung und Honorare das Glas leer. Es kam ihm fast wie ein Nachmittag in Familie vor.

Es war Abend geworden und Chinedu schlenderte gedankenverloren die Straßen entlang. Er solle Maria und Josef am nächsten Tag noch einmal treffen und ihnen seine Entscheidung über den Vertragsvorschlag mitteilen. Es war eine gute Summe, um sich eine Wohnung in einem leicht besseren Viertel von Lagos zu leisten. Chinedu kramte in seiner Jackentasche. Er hatte nun fünfzig Euro dabei, die Josef aus seiner Brieftasche gezogen hatte. Da waren gar nicht so viele Nullen auf den drei Scheinen, wie beim heimischen Naira. Umgerechnet war es schon fast ein kleines Vermögen. Aber was machte er mit dieser fremden Währung?

Er rührte sie erst einmal nicht an. Wer weiß, wann ich diese Rücklage noch brauche?

Was er nicht in der Tasche hatte, sondern im Geist, war eine Hoffnung. Hoffnung auf ein besseres Leben. Chinedu kaufte sich noch eine Flasche Wasser und kehrte dann heim.

In der viel zu kleinen Kammer in dem kleinen Reich auf Stelzen auf dem Wasser, empfing ihn sein einfaches Bett. Schnell dämmerte er herüber und schlief ein.

Ein Blitz ohne Donner weckte ihn. Erschrocken stand er auf. Er schaute nach draußen. Dort war es so ruhig, wie es sein konnte. Schläfrig drehte er sich um und sah sich selbst auf dem Bett liegen. Für Erstaunen blieb keine Zeit. Etwas zog ihn aus dem Raum. Chinedu zog sich praktisch in die Länge, als er nach oben durch die Wolken stieß, bald im Weltraum war und die Erde sehen konnte. Dann wurde auch diese kleiner. Die Sonne blendete kurz, als er wieder auf den Planeten fiel. Chinedu stand nun mitten auf einer Straßenkreuzung, völlig fremd wirkender Gebäude. Hell erleuchtet, sauber. Über ihm am Himmel zogen grünliche, in sich verschlungene Formen ihre Bahn. Das Nordlicht!

Neugier trieb Chinedu an die Schaufensterscheiben. Er wollte wissen, was sich dahinter verbarg. Dann ging das Licht aus und aus der dunklen Scheibe schaute ihn Jemand an. Chinedu hob die Hand zum Gruß. Es war der Moment, als er erkannte, dass es sein Spiegelbild war. Aber was auch immer zu ihm zurückstarrte, war nicht er.

Dann verließ er die Kreuzung, wie er sie betreten hatte und zuckte kurz darauf in seinem Bett zusammen, wie nach einem Falltraum. Doch er fühlte sich so unendlich schwer und müde, dass er wieder einschlief.

Die Bilder aus der Ferne verblassten nicht. Sie blieben in Chinedus Geist auch am Morgen noch präsent. Ausgezehrt setzte sich Chinedu auf und griff nach seinem Smartphone. Es zeigte keine Nachrichten an, was ihn verwunderte. Doch dann öffnete er es und schaltete „Bitte nicht stören“ aus. Sofort drängten sich unzählige Nachrichten, Erinnerungen und verpasste Anrufe auf den Bildschirm. Er hatte diese Funktion gestern zum ersten Mal benutzt und schlicht vergessen, diese wieder auszuschalten. Es dauerte einen Augenblick, bis er die weniger wichtigen Nachrichten weggewischt hatte, sich über viele, viele neue Aufrufe seiner Videos freute und Musa schließlich zurückrief.

Auf die Frage, wo er gestern Nachmittag gesteckt hatte, antwortete Chinedu wie ganz selbstverständlich, dass es eine Familiensache gewesen war. Das fühlte sich beim Aussprechen nicht einmal falsch an, obwohl es eine Lüge war.

Eine weitere Nachricht verlangte nach Aufmerksamkeit und Chinedu würgte das Gespräch schnell ab. Das war sonst so gar nicht seine Art. Maria hatte eine weitere Einladung gesendet. Gleiches Hotel, heute, später am Tag. Doch es zog ihn schon jetzt an diesen Ort. In dem jungen Mann drängte alles danach, Antworten zu finden. Dabei war er schon so gespannt, die Fragen zu hören. Fragen, von denen er noch nicht wusste, wie er sie formulieren würde. Chinedu machte sich wieder auf den Weg zum Hotel.

War ihm bisher jeder Weg bewusst, jede Szene aus dem Alltag, um daraus ein neues Video zu drehen, so sehr ignorierte er heute einfach alles.

Schon nach weniger als einer Stunde war Chinedu an dem Ort seiner Sehnsucht. Das Hotel mit dem hellen Foyer und Adeola, der Hostess.

Die hübsche Frau konnte ein verlegenes Lächeln nicht unterdrücken und begrüßte ihn.

Als wäre ein Zauberbann gebrochen, bemerkte Chinedu jetzt, wo er sich befand und lächelte Adeola an. Allerdings musste sie ihn bitten, im Foyer zu warten. Die Medienscouts hatten strikte Anweisung gegeben, die Besucher nicht vor der angegebenen Zeit vorzulassen. Jetzt rotierten die Gedanken in Chinedus Kopf. Dieser Aussage zu urteilen, gab es offenbar mehrere Kandidaten. Selbstverständlich hätte er gern gewusst, wer die anderen waren. Außerdem wollte er sich bei der anstehenden Verhandlung nicht zu weit vorwagen, um den aussichtsreichen Vertrag auch zu unterzeichnen.

Dieses Mal hatte der TikTok-Star sein Smartphone lediglich auf lautlos gestellt. Eine Nachricht summte sich in Chinedus Realität. Musa fragte, wo er sei, woraufhin er mit dem Familien-Ding antwortete. Noch halb geistig abwesend lief Chinedu nach draußen vor die Tür und begann ein weiteres Video zu drehen. So ein Prinz müsse sich auch mal von der Sonne erholen und würde schon bald zu einem Urlaub nach Europa aufbrechen. Kaum gesendet, schnellten die Viewer-Zahlen in die Höhe. Zufrieden ging er wieder hinein. Adeola sah ein wenig irritiert aus. Kurz darauf erschien Maria im Durchgang. Mit ausdrucksloser Miene marschierte sie auf Chinedu zu. Die Worte verstand er nicht, doch der Tonfall war ein bestimmender. Chinedu fragte nach, als Maria ihm schon ein Smartphone hin hielt, auf welchem sein Kurzvideo immer wieder durchlief. Die Klickzahlen waren gigantisch. Dann räusperte sich Maria und lud Chinedu auf einen weiteren Tee ein. Das Gespräch dabei war so unterkühlt, wie der hohe Norden, aus welchem seine zukünftigen Sponsoren kamen. Diese Maria beobachtete dabei Chinedu sehr genau. Besonders dann, wenn er seinen Tee trank.

Als er ausgetrunken hatte durchfuhr Chinedu ein stechender Kopfschmerz.

Das Nordlicht hing am Himmel, wie Wolken. Tief, wie Regenwolken. Chinedu stand wieder auf der Kreuzung, ohne Straßenverkehr, ohne Passanten. Er ahnte, dass es ein Traum war, aber für ihn gab es hier weder Gegenwart noch eine Vergangenheit. Alles in ihm drängte danach, nach der Zukunft zu greifen. Er wusste, wo er diese finden würde. Chinedu drehte sich zu einem Schaufenster, welches nicht beleuchtet war und er sich deshalb sehr gut darin spiegeln konnte. Er leistete keinen Widerstand, dem inneren Ruf zu folgen, um zu wissen, wer er sein würde. Und es war sehr leicht. Schritt für Schritt kam er der Scheibe näher und sein Abbild wurde dabei stets deutlicher, bis Chinedu stehen blieb.

Das Bild, was er sah, was ihn imitierte, es stimmte nicht mit Chinedus Vorstellung überein. Der Kopfschmerz kam zurück, als würde immer wieder jemand in seinen Kopf stechen. Und jedes Mal blitzte das Bild in der Fensterscheibe deutlicher auf. Aber das war nicht Chinedu und er war sich auch nicht sicher, ob es überhaupt ein Mensch war.

Chinedu taumelte zurück und sofort zog an ihm etwas, was ihn schwindelig machte. Ihm wurde schlecht. Dann zuckte er zusammen und für ihn war alles viel zu hell. Er schüttelte seinen Kopf. In seinem Blickfeld erschien eine Frau. Chinedu blinzelte. Es war Adeola. Sie lächelte ihn an.

Jetzt erkannte er, wo er war. Er lag auf dem Sofa in der Lobby. Sonnenstrahlen tanzten an den weißen Wänden.

Mit einem Ausruf des Erstaunens setzte er sich auf, dass es um ihm herum erneut zu drehen begann. Adeola gab ihm ein Glas Wasser, welches Chinedu zunächst einmal nachdenklich anschaute, bevor er einen kräftigen Schluck nahm.

Langsam beruhigte sich sein Kreislauf und er fragte Adeola, was denn passiert war. Die Hostess zuckte mit den Schultern. Sie erklärte Chinedu, dass sie sich freue, dass er es geschafft hätte. In Chinedus Erinnerung fand sich nichts Entsprechendes. Für ihn war klar, dass es um den Vertrag gehen musste, aber woher sollte die schöne Adeola das wissen? Chinedu schloss die Augen und dachte nach. Vielleicht war da ja doch etwas. Aber da war kein Stück der letzten Minuten oder Stunden da. Direkt fragte er nach, ob er nach Europa gehe und woher sie das wüsste.

Sie lächelte ihn an und sagte, dass Europa doch gar nicht so weit weg wäre. Aber sie sprach Europa so seltsam aus. Es klang aus ihrem Mund eher wie Jeroo Bah.

Aus dem Durchgang vom Atrium betraten Maria und Joseph das Foyer und lächelten ebenfalls. Sie reichten ihm die Hände und beglückwünschten ihn. Dabei blieb es so vage, wie zuvor. Glückwunsch zu was? Chinedu glaubte weiter zu träumen und kniff sich in den Arm. Außer einem Schmerz, hatte das keinen Erfolg, was auch immer er sich davon versprochen hatte. Er war immer noch ziemlich leer im Kopf. Als würde er durch Wolken gleiten.

Maria nickte Chinedu freundlich zu und lud ihn mit einer Geste ein, mitzukommen. Chinedu fragte wieder nach, ob es nun nach Europa gehe. Maria nickte und bestätigte ihm, dass es nach Jeroo Bah gehe. Diese Aussprache hatte Adeola zuvor auch benutzt. Spricht man das so in Schweden aus?

Chinedu war sich sicher, dass er die Antworten schon bald erhalten würde. Er stand auf und folgte Maria zum Ausgang, wo bereits Joseph wartete. In dem starken Sonnenlicht von draußen schimmerte seine schwarze Haut in einem leicht bläulichen Ton. Chinedu sagte, dass er bereit wäre. Er könne seinen Freunden ja unterwegs schreiben.

Adeola schloss zu dem Trio auf und fasste Chinedu an die Hand, was er sehr genoss. Dann schritten sie voran und die Automatiktür öffnete sich. Kurz blendete die Sonne, sodass er seine Hand als Schirm benutzte. Nun stand Chinedu draußen in einem bläulichen Licht. Es war fast so kühl, wie in der Lobby. Aber wo war er?

Alles hatte sich verändert. Chinedu stand am Rande einer Kreuzung. Es war nicht dieselbe Straße, durch die er hergekommen war. Es war auch keine Straße in Lagos. Er war sich auch nicht einmal sicher, ob diese Straße überhaupt irgendwo in Nigeria oder Afrika war.

Wie wäre er denn nach Europa gekommen? Kleine dreirädrige Fahrzeuge fuhren lautlos an ihm vorbei. Die Häuser waren abgerundet und ragten weit in den Himmel. Chinedu drehte sich zu Adeola um und erschrak.

Das Gesicht, der Körper der Frau war etwas anderem gewichen. Bleistiftdünne vielgliedrige Finger umspannten seine Hand, wie Zweige eines Busches. Ihre Arme waren wie ein Faltenbalg und… ihr Gesicht! Drei schwarze Augen glotzten ihn aus einem Gesicht an, welches er nicht sofort als solches zu deuten vermochte. Es hatte keinen Mund, nur einen kleinen stummelartigen Rüssel am Kinn. Chinedu riss seine Hand los und machte einen Satz rückwärts. Maria und Joseph starrten ihn aus ihren Augentrios ebenso an. Zumindest glaubte er das.

Eine fremde Sprache mit für Chinedu seltsamen Klängen erreichte ihn. Er verstand nichts. Aber in den seltsamen Gesichtern glaubte er ebenso eine gewisse Irritation zu erkennen. Maria und Joseph wandten sich einander zu und zuckten sehr menschlich mit den Schultern. Dann holte Joseph sein Smartphone heraus und richtete es auf Chinedu. Ein wildes Geplapper setzte nun ein, was akustisch mehr an tierische Laute erinnerte. Doch dann drang Josephs Stimme an Chinedus Ohren. Aber diese kam aus dem Smartphone. Er fragte, ob er Chinedu Umaru wäre, geboren am 3. Februar 2002 in Lagos, Erde.

Chinedu lachte bei dem Wort Erde, bestätigte aber die Angaben. Dann kam eine schwierigere Aussage auf ihn zu. Joseph fragte, warum er sich nicht zurückverwandele. Der Gen- und Erinnerungsstimulator sollte längst seine Wirkung entfaltet haben. Chinedu runzelte seine Stirn und versuchte die Frage zu verstehen, als Josephs Stimme erneut aus dem Smartphone erklang, aber von Maria unterbrochen wurde. Sie klang aus dem Lautsprecher mit einem leichten Wispern. Sie bedauerte, dass sie ihn all die Zeit allein lassen mussten. Er müsse die Erde loslassen. Sie wäre seine Mutter.

Chinedus Gesichtsausdruck verfinsterte sich und er schüttelte langsam, aber energisch seinen Kopf. Er erinnerte sich an etwas aus seiner Vergangenheit, was sehr stark präsent war und er erklärte sich.

Seine Mutter hatte ihm vor ihrem Tod erzählt, dass er als Baby vertauscht worden war. Sie hatte es sofort erkannt. Er hätte so ganz anders als jenes Kind ausgesehen, sich angefühlt und gerochen als das, was man ihr geben wollte. Mama wusste immer bescheid! Mit Hilfe einer Amme hatte seine Mutter den Tausch Rückgängig gemacht und hatte ihn mitgenommen. Marias Stimme zitterte sogar im Smartphone, als sie fragte, ob er wisse was mit ihrem Kind sei. Chinedu zuckte mit den Schultern und vermutete ein Waisenhaus. Er fügte hinzu, dass die Chancen eines Waisenkindes wohl noch schlechter gestanden hätten als seine eigenen.

Für einen Augenblick war es Chinedu, als ob er Tränen in dem Augentrio erkannt hätte.

6 Kommentare

  1. Maria und Josef... Ich habe diese Story erst für eine Parodie gehalten, aber das änderte sich mit dann rasch. Die Hinweise und und der Storyaufbau haben mir zu dem Punkt und der Wendung geführt, die ich so nicht gedacht hatte. Klasse. So habe ich das bisher im Wettbewerb noch nicht gelesen. Beim Schluß, der Wendung habe ich gedacht, dass ich zuvor was überlesen habe. Das ist aber verzeihlich.

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  2. Tolle Geschichte! Außergewöhnlich, und auf besondere Weise realistisch wirkend.
    Gut finde ich, dass offen bleibt, warum ein Alienbaby auf der Erde abgesetzt wurde.
    Und die Alien-Eltern tun mir am Ende leid …
    Für Chinedu wünscht man Klicks in Millionenhöhe, damit sein Traum von einem anderen Leben sich erfüllt.

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  3. Ich mochte die Schilderung des Lebens in Laos. Cinedu ist mir gleich ans Herz gewachsen. Der Schluß ist überraschend. Schade, dass sein Traum von einem Vertrag sich nun zerschlagen hat. Sicher eine große Enttäuschung. Die Erzählung schaffte Gefühle und sehr intensive Bilder vor meinen Augen. Sehr gut. Nur die Viole wird "Phiole" geschrieben, sonst ist es verwirrend, dass ein Instrument in den Tee geleert wird.

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    1. Danke, aber verdammt. Ich hätte einfach Röhrchen schreiben sollen. Viole hat weder Word noch Testleser entdeckt 😅. Ich freue mich aber, dass ich die Bilder im Kopf entstanden sind, die ich schrieb.

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  4. Das Ende fand ich auch sehr traurig für beide Seiten.

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  5. Noch eine Geschichte, die in Afrika spielt. Und die Fremde wird ebenso gut beschrieben. Der Protagonist ist sympathisch und die Auflösung eine gelungene, wenn auch bittersüße Überraschung. Nur die Namen Maria und Josef klingen so gar nicht skandinavisch und man wartet schon auf ihren Sohn Jesus. ;) Was etwas irritiert, ist der spontane Ortswechsel, und dass die Aliens danach plötzlich einen Übersetzer brauchen. Kurz zuvor konnten sie noch Chinedus Sprache sprechen.

    Sprachlich gibt es ein paar Ungenauigkeiten. Was ist ein „später Tag“? Der Abend? Dann kann man das auch so schreiben. Oder ist hier „später Nachmittag“ gemeint? Zuweilen fehlen Wörter, wie hier: „Dieser Aussage zu urteilen“ – „dieser Aussage nach zu urteilen“, müsste es korrekt heißen. Oder es sind Wörter verdreht, wie hier: „sofort zog an ihm etwas“ – „etwas an ihm“ wäre besser. Der Tippfehler mit der Phiole wurde bereits erwähnt, aber sonst habe ich nicht mehr viel gefunden. Alles in allem ein sauberer Text.

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