Die Warnung des goldenen Tintlings
Auf einem kleinen, namenlosen Planeten im hintersten Winkel des Universums lebt ein kleines, aber sehr kulturreiches Volk. Wir nennen uns Tintlinge. Wir sind kleine, humanoide Wesen mit kurzen Gliedmaßen, einem tropfenförmigen Kopf und großen, schwarzen Augen. Wir haben nur einen kleinen, zahnlosen Mund und keine Krallen. Wir haben durchsichtige Haut. Zum Glück aller haben Tintlinge keine Organe, die das gruselig oder gar eklig machen würden. Das Einzige, was uns am Leben hält, ist die farbige Flüssigkeit in unserem Inneren. Wir nenen sie ‘Tinte’. Bei den meisten hat die Tinte einen dunkelblauen Farbton. Aber es gibt auch grüne, rote und gelbe Tintlinge. Manche sind sogar schwarz oder violett. Und ein paar wenige silbern. Und dann gibt es mich. Ein kleiner Tintling, eigentlich noch ein Tropfen. Ich bin Hasdrubal. Ein goldener Tintling. Das ist etwas ganz Besonderes in der Welt der Tintlinge, etwas Einzigartiges sogar. Sie hatten Recht, ich bin wirklich etwas ganz Besonderes. Wenn auch nicht so, wie sie es erwartet hatten. Aber lass uns diese Geschichte nicht mit dem Ende beginnen. Am besten starte ich diese Geschichte an dem Tag, an dem ich anfing zu verstehen.
Es war der Tag, oder besser gesagt die Nacht, vor unserem großen Tag. Alle Tropfen mussten in ihren unterirdischen Bruthöhlen bleiben, bis sie drei Monate alt waren, erst dann dürften wir an die Oberfläche. Morgen war es für meine Schwestern und mich so weit. Phebe und Licinia schliefen in ihren Nestern. Aber Arrie und ich lagen wach. Wir waren als Schwester und Bruder wie Bild und Geschichte, unzertrennlich. Seit unseres Schlüpfens spielten wir jeden Tag miteinander, mehr noch als mit Licinia und Phebe.
„Hey Hasdru, kannst du auch nicht schlafen?“, hörte ich es leise neben mir flüstern. Ich wälzte mich auf die andere Seite und konnte im Dunkeln die Umrisse von Arrie ausmachen. Ich nickte nur als Antwort, denn ich wollte die anderen beiden nicht wecken. Arrie war da weit weniger sensibel. Sie sprach in normaler Lautstärke mit mir, als würde niemand hier schlafen.
„Weißt du, es dauert noch ewig bis unsere Eltern kommen und uns holen. Und ich kann nicht mehr schlafen. Was sagst du, kommst du mit, ein wenig die Höhle erkunden?“ Ohne auf meine Antwort zu warten, erhob sie sich schon und watschelte zum Eingang unserer Bruthöhle, wo nur ein aufgehängter Vorhang aus Moos uns vor der Außenwelt schützte.
„Arrie, warte! Wir dürfen nicht raus!“, zischte ich meiner Schwester zu. Ich setzte mich auf, blieb aber in unserem Schlafnest hocken. Das Höhlensystem der Tintlinge war gigantisch. Es erstreckte sich, den Aufzeichnungen unserer Eltern nach, durch den ganzen Planeten und verband unzählige Dörfer miteinander. Wenn wir uns zu einer Erkundungstour dort raus wagten, würden wir ganz bestimmt Ärger bekommen. Oder uns sogar auf ewig verlaufen. Und ich wusste ehrlicherweise nicht, welche Vorstellung mir mehr Angst einjagte.
Arrie kicherte leise und zwinkerte mir frech zu, wie sie es immer tat, wenn sie etwas plante, was sie nur mir anvertrauen konnte. Ihre himmelblaue Tinte schimmerte vor lauter Aufregung. „Du kannst ja hierbleiben, wenn du willst. Aber ich vertreib mir die Zeit lieber!“ Und dann verschwand sie auch schon. Ich nahm an, sie würde jede Sekunde kalte Tinte bekommen und wiederkehren. Aber sie kam nicht. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Wenn auch mit zitternden Beinen stand ich auf, schlich mich zum Eingang und stahl mich hinaus in einen der breiten Haupttunnel. Ich schaute nach links und rechts, aber nirgendwo war eine Spur von Arrie zu sehen. Ich rief leise nach ihr, bekam aber keine Antwort. Es war furchtbar still. Es wäre vernünftig gewesen, zurück in meine Höhle zu gehen. Aber aus Gründen die ich selbst heute nicht verstehe tat ich es nicht. Ich machte mir Sorgen um Arrie, denn wenn ihr etwas zustoßen sollte, wäre es meine Schuld. Ich hatte sie allein gelassen. Den Gedanken konnte ich nicht ertragen, obwohl ich wirklich kein Tropfen war, der Ärger suchte. Also bog ich, auf mein Bauchgefühl hörend, nach rechts ab. Und folgte diesem Pfad immer tiefer in das System aus Tunnelgängen hinein. Wenigstens war es durch das Leuchtmoos nie dunkel. Aber wirklich besser machte das meine Situation auch nicht. Ich konnte Arrie nicht finden. Troztdem trabte ich immer weiter, weil ich mir immer einbildete, ihrer Spur zu folgen. Mal sah ich einen Schatten, der gerade in diesem Moment um die Ecke verschwand, mal hörte ich ihr leises Kichern aus einen der Gänge. Mir schien es so, als wollte sie mit mir spielen. Schließlich kam es, wie es kommen musste. Bald hatte ich keine Ahnung mehr, wo ich war. Das Leuchtmoos zu meinen Füßen wurde immer spärlicher, nicht mehr als vereinzelte Fetzen auf dem Boden, der nur mit größter Mühe für Licht sorgte. Und die Wörter und Bilder an den Wänden, ein sicheres Zeichen für Zivilisation, wurden nicht nur immer weniger, sie wurden auch offensichtlich primitiver. Ich hatte einen Punkt erreicht, an dem es keine Wörter mehr gab, um Geschichten zu erzählen. Nur Bilder. Und diese waren sehr grob, fast schon abstrakt.
„Arrie?“, rief ich zum wiederholten Male in die dämmrige Dunkelheit. Es kam keine Antwort und langsam beschlich mich das Gefühl, hier völlig falsch zu sein. Aber jetzt war ich schon zu weit gekommen, um noch umzukehren. Also ging immer weiter. Und plötzlich öffnete sich der enge Gang zu einer Halle. Leuchtmoos gab es hier keines, dafür spendeten bunte Kristalle Licht. Sie wuchsen aus der Decke heraus und aus dem Boden. An manchen Stellen trafen sie sich sogar in der Mitte und bildeten Säulen. Und jedes freie Fleckchen, sei es an der Wand, auf dem Boden oder gar an der Decke, waren bemalt. Mit vor Staunen offenstehendem Mund wanderte ich durch diesen Saal hindurch und bestaunte all die vielen Geschichten. Ich hatte noch nie etwas vergleichbares gesehen, aber ich meinte zu wissen, was das hier war. Eine Halle der Vergangenen. In diesen großen Höhlen zog sich ein ganzes Tintlingdorf zurück, wenn die Frostzeit anbrach. Die kalten Monate über blieben sie hier unten und nutzten die Zeit, um ihre Geschichten aufzuzeichnen. Sobald eine Halle vollständig mit Bildern, oder heutzutage zum Großteil mit Worten, ausgeschmückt worden war, wurde ein neuer Saal ausgegraben, der in der nächsten Frostzeit als Verzeichnis dienen sollte. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich in einer solchen Halle der Vergangen stand. Und diese hier musste sehr alt sein. Ehrfüchtig strich ich mit den Fingerspitzen an den rauen Steinwänden entlang. Den vielen Farbnuancen zu urteilen hatten über hundert Tintlinge hier gearbeitet. Die Bilder erzählten Geschichten vom Aufbau eines Dorfes, von einem Zeichenwettberb zwischen einem gelben und einen blauen Tintling und über einen Streit, vielleicht sogar einem Krieg, mit einem benachbarten Tintlingsdorf, dass nur aus roten Tintlingen bestand. Und dann sah ich aus dem Augenwinkel etwas in einem warmen Goldton glitzern. Ganz hinten, am Ende der Halle, schmückte tatsächlich ein Bild die Wand, das nicht unwesentlich mit goldener Tinte gemalt wurde. Sofort ließ ich alles stehen und liegen und rannte dort hin. Mit jedem Schritt, den ich nähertrat, schien das Bild größer zu werden und als ich schließlich dort angekommen war, musste ich meinen Kopf in den Nacken legen, um es in seiner ganzen Pracht zu sehen. Erst jetzt fiel mir auf, dass dieses Bild gar nicht für sich allein stand. Am linken Rand, der zu dem großen Wandbild hinleitete, waren mehrere kleine Kunstwerke, die dazuzugehören schienen. Also wand ich mich diesen zuerst zu. Die Geschichte begann mit dem Bild eines kleinen goldenen Tropfens, ganz wie ich selbst einer war. Glücklich mit Geschwistern und Eltern. Das nächste Bild zeigte, wie der goldene Tintling, inzwischen ausgewachsen, vom Dorf verehrt wurde und offensichtlich ein begnadeter Künstler war. Die Zeichnung zeigte im Hintergrund sogar ein paar Buchstabenähnliche Zeichnungen, die darauf hinwiesen, dass sich damals wohl langsam die Schrift entwickelt hatte. Vielleicht auch unter dem Einfluss dieses goldenen Heldens. Hastig ging ich zum nächsten Bild über. Aber ab hier verlor ich den Faden. Das nächste Bild schien nicht dazuzupassen. Es zeigte Wesen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Kreaturen, die einem Tintling nicht mal im Entferntesten ähnlich sahen. Monster mit Echsenköpfen, Flügeln, goldenen Schuppen, scharfen Klauen und vielen Zähnen. Sie standen den Tintlingen gegenüber, als wären sie Feinde. Ich schluckte schwer und ging weiter. Das nächste Bild war, im Gegensatz zu den anderen, sehr simpel gehalten. Es zeigte nur den goldenen Tintling, auf schwarzem Hintergrund, der kniete und sich den Kopf hielt, als hätte er schmerzen. Die Umrisse der Figur verschwammen im schwarzen Nichts. Jetzt kam ich endlich zurück zu dem großen Wandbild. Wieder legte ich den Kopf in den Nacken und ließ meinen Blick darüber gleiten. Ganz klein, am untersten Rand, war wieder der goldene Tintling, der zu schreien schien. Und über ihm richtete sich eines dieser goldenen Monster auf, das den goldenen Tintling und alle Tintlinge drum herum angriff und sogar abschlachtete. Noch nie in meinem, zugegeben jungen, Leben hatte ich derartiges gesehen. Erschrocken wich ich zurück, stolperte über einen Stein und landete geradewegs auf meinem Hintern. Ich wollte das Bild gar nicht mehr sehen, aber ich starrte es dennoch an. Obwohl es nur eine alte Geschichte war, zitterte ich plötzlich am ganzen Leib und mir wurde regelrecht schwindelig vor Furcht. Ohne zurückzusehen fuhr ich herum und stürmte los. Raus aus dem Saal. Hauptsache weg.
Eigentlich hatte ich damit gerechnet, mich auf ewig in den Gängen zu verirren. Aber zu meinem Glück kam es anders. Während ich vor Verzweiflung schniefend durch die Gassen irrte und verzweifelt versuchte gegen meine Hoffnungslosigkeit anzukämpfen, stieß ich endlich auf Arrie. Sie stapfte auch noch immer durch die Gänge. Im Gegensatz zu mir aber nicht den Tränen nahe, sondern fröhlich pfeifend. Trotzdem zog sie mich sofort in eine Umarmung, als wir uns wieder trafen.
„Hasdru! Du hast dich ja doch rausgetraut!“, rief sie überglücklich und ergriff meine Hand, um mich eifrig mit sich zu ziehen. „Hättest ruhig früher etwas sagen können, dann wären wir zusammen rumgelaufen. Jetzt ist es zu spät. Wir müssen uns beeilen, wenn wir noch rechtzeitig Nachhause wollen, bevor die anderen was mitkriegen. Ich fühl schon, dass die kurz vorm aufgehen ist!“
Wie sich herausstellte, war Arries Optimismus unberechtigt. Als wir unsere Bruthöhle erreichten, war sie bereits leer. Die Sonne war nicht kurz davor aufzugehen, sie musste schon hoch am Himmel stehen, sonst wären unsere Schwestern noch hier. Aber so war es nicht, die Betten unserer beiden Schwestern waren verwaist.
„Oh! Ich wusste, dass wir zu spät dran sind!“, stöhnte ich und verbarg mein Gesicht in den Händen. Wir waren zu lange weg gewesen! Einmal in unserem noch jungen Leben hatten wir uns aus der Bruthöhle gewagt und mit diesem kleinen Abenteuer hatten wir gleichzeitig unser Schicksal besiegelt. Wir hatten den Auszug verpasst. Den großen Tag, an dem wir unsere Eltern hätten kennenlernen sollen. Dabei hatte ich mich so darauf gefreut. Zögernd trat ich in die Höhle hinein, als würde ich tatsächlich hoffen, dass unsere Schwestern uns nur einen Streich spielten und sich in einer dunklen Ecke verstecken würden. Natürlich war es nicht so. Sie waren wirklich weg. Bekümmert trat ich an die hinterste Wand und legte meine Hand auf die Zeichnung, die unsere Eltern hier zurückgelassen hatten, damit wir sie fanden, wenn wir schlüpften. Ein grüner und ein roter Tintling, darunter das Alphabet, damit wir es selbst lernen könnten. Tropfen lag soetwas förmlich in der Tinte, das Lesen, Schreiben und allen voran das Zeichnen. Wir hatten es schnell gelernt und dann konnten wir die Nachricht lesen, die neben dem bunten Bild stand. Die Anweisungen und Erklärungen über diese Welt, dessen Teil wir werden sollten. Wie aufgetragen hatten wir die Flecken gelesen, die sich auf der Innenseite unserer zerbrochenen Eier gebildet hatten. Das waren unsere Namen. Wir hatten das Wasser getrunken das gelegentlich von der Decke tropfte, uns die Zeit mit Spielen vertrieben, Zeichnen und Schreiben geübt und auf diesen Tag gewartet, ohne die Höhle zu verlassen. Und jetzt war wegen einer Dummheit alles aus dem Gleichgewicht geraten.
„Glaubst du, sie kommen nochmal, um uns zu holen?“, fragte ich Arrie leise, obwohl ich die Antwort im Grunde schon kannte. Hätten sie uns etwas sagen wollen, hätten sie eine Nachricht hinterlassen. Unsere Eltern würden nicht mehr kommen. Und unsere Schwestern würden erst wieder zu Beginn der Frostzeit wiederkehren, um ihren Werdegang in dieser Höhle festzuhalten, ehe sie sich mit den anderen Dorfbewohnern in einer der großen Hallen, eine Halle der Vergangenen, trafen, um auf die Sonnezeit zu warten. „Wir werden hier sterben, oder?“, fügte ich schließlich mit leiser, kaum hörbarer Stimme nach. Denn ich war mir ganz sicher, dass wir allein niemals den Weg an die Oberfläche finden würden. Dafür war das Tunnelsystem viel zu verzweigt.
„Ach Hasdru“, Arrie lachte, wie es eben ihre Art war. Ich spürte, wie sie hinter mich trat, mir besänftigend eine Hand auf die Schulter legte und kurz so verharrte, ehe sie zurück Richtung Tür schlenderte. Sie blieb am Ausgang stehen und wand sich zu mir um. „Wir brauchen keine Eltern. Ich führe uns hier aus“, erklärte sie, derart überzeugt, dass ich dazu geneigt war es ihr zu glauben. Zögernd ließ ich die Hand sinken und drehte mich nun auch zu meiner Schwester. Arrie lächelte breit, als stände uns die schönste Zeit unseres Lebens bevor und streckte mir ihre Hand hin. „Vertrau mir.“
Es war weder Frage noch Aufforderung. Nur eine Erinnerung an eine Sache, die wenige Tage nach unserem Schlüpfen passiert war. „Wir gegen den Rest der Welt?“ fragte ich sie leise, während ich ihre Hand nahm und meine Finger mit ihren verschränkte.
Arrie nickte, während sie mich sanft mit sich zog, erneut hinaus in das endlose Gewirr der engen, nach moder riechenden Gänge. „Wir gegen den Rest der Welt“, bestätigte sie.
Es war schwer zu sagen, wie lange wir unterwegs waren. Die Zeit schmolz förmlich dahin und irgendwann brachte ich es nicht mehr fertig, zu zählen wie viele Nächte wir hier schon notdürftig übernachtet hatten. Arrie sprach mir immer Mut zu, wenn ich begann die Hoffnung zu verlieren und ich revanchierte mich, in dem ich mir während unserer langen Wanderungen Geschichten ausdachte, die uns die Zeit vertrieben. Eines Tages, als ich es schon gar nicht mehr für möglich gehalten hätte, sahen wir ein Licht am Ende des Tunnels. Wortwörtlich. Der Gang, der uns Ewigkeiten nur geradeaus geführt hatte, hob sich erst kaum merkbar, dann immer steiler. Und dann war er plötzlich da. Der Ausgang. Für Arrie gab es kein Halten mehr. Sie stürmte sofort los und verschwand in diesem hellen Gleißen. Nach kurzem Zögern folgte ich ihr, unsicher und erwartungsvoll zugleich. Erst war ich derart geblendet, dass ich für einige Momente nichts mitbekam. Aber als sich meine Augen dann nach mehrmaligen Blinzeln endlich an das Licht gewöhnten, erblickte ich das Paradies. Die Oberflächenwelt war schöner als alles, was ich mir je ausgemalt hatte. Die Wärme der Sonne zu spüren, das weiche Gras unter den Füßen, das Rauschen des Windes in den Baumwipfeln, das lebhafte Schattenspiel des Waldes und eine Luft, die endlich nicht mehr nach feuchter Erde und schimmligen Moos roch. Und allen voran diese satten Farben, deren Anblick ich wohl nie müde werden würde. Diese Welt war wie ein Traum. Mit einem sanften Lächeln beobachtete ich wie Arrie sofort zu einem nahegelegenen Bachlauf rannte, hineinsprang und mit großen Schritten im niedrigen Wasser herumplanschte.
„Jetzt beginnt das gute Leben Hasdru, das sag ich dir!“, rief sie mir lachend zu. Und wie immer sollte sie damit Recht behalten. Wir waren zwar nicht am richtigen Ort an die Oberfläche gekommen, weit und breit gab es nirgendwo ein Tintlingsdorf, dass die Heimat unserer Eltern sein könnte, aber inzwischen hatte ich mich bereits damit abgefunden. Arrie gestand mir, dass sie ohnehin nirgendwo Wurzeln schlagen wollte. Also fingen wir an zu wandern. Wir kamen mal hier hin und mal dorthin. Zu Dörfern die an Flüssen lagen, mitten im Wald oder in den Bergen. Manche bestanden nur aus ein paar Familien, andere waren schon fast als Städte zu bezeichnen. Wo wir auch hinkamen, wurden wir herzlichst empfangen. Uns wurde klar, dass ein goldener Tintling wie ich, eine absolute Rarität war. Abgesehen von mir schien es nur acht weitere goldene Tintlinge zu geben, die willkürlich auf dem ganzen Planeten verteilt waren. Aufgrund dieser Seltenheit waren alle ganz verrückt nach meiner goldenen Tinte. Wir konnten nirgendwo hin, ohne dass nicht jemand kam und meine Hilfe wollte. Um einen Text in der goldenen Tinte zu schreiben, oder um ein Gemälde aufzupeppen. Ich sollte Sonnen malen, Goldschmuck, Sterne, Monster mit goldenen Augen, Märchenhafte Kreaturen mit goldenen Pelzen. Während ich einen Auftrag nach dem anderen erfüllte, sorgte Arrie für alles drum herum. Sie sorgte dafür, dass ich gut bezahlt wurde, organisierte Unterkünfte und plante unsere nächste Reiseroute. Dank ihr tranken wir immer den frischesten Morgentau und schliefen immer in den weichesten Nestern, in den größten Häusern. Und wenn ich so viel arbeitete, dass mir die Tinte zu neige ging, nahm sie mich mit in die Wälder. Wir liefen fort und blieben dort tagelang, manchmal sogar Wochen. Solange wie es nötig war, damit mein Körper wieder vollständig mit Tinte gefüllt hatte. Erst dann kehrten wir in die Zivilisation zurück. Die Sonnenzeit flog so geradeso dahin, wie ein Traum. Aber die Frostzeit nährte sich. Und so wie die Natur langsam ihren Glanz verlor und sich der Duft des Todes in die Luft legte, so drohte auch uns das Verderben.
Es war eine der letzten lauen Nächte und wir hatten uns fernab des nächsten Städtchens in den Wald zurückgezogen. Kopf an Kopf lagen wir auf einer Lichtung und blickten zum funkelnden Sternenhimmel hinauf. Es sollte der letzte Abend sein, den wir unter freiem Himmel verbrachten. Spätestens übermorgen müssten wir in den Untergrund zurückkehren, damit die Frostzeit uns nicht womöglich überraschte. Der Gedanke, nach dort unten zurückzukehren, gefiel mir nicht besonders. Und Arrie schien es noch weniger zu gefallen. Die letzten Tage über war sie ungewöhnlich ruhig. Nach einer Weile, in der nur die nächtlichen Rufe der Singvögel zu hören waren, erhob ich doch die Stimme. „Glaubst du, wir finden unsere Bruthöhle wieder?“
„Nah, ich glaub nicht. Wir sind so weit von dem Ort entfernt, an dem wir an die Oberfläche gekommen sind, das finden wir nicht wieder. Warum fragst du? Trauerst du etwa noch immer den alten Zeiten hinterher?“ Obwohl ich es nicht sehen konnte, hörte ich das breite Grinsen aus ihrer Stimme heraus.
„Was? Nein. Ich mag es so, wie es ist. Hauptsache wir sind zusammen“, versicherte ich ihr, was auch halb stimmte. Natürlich bedauerte ich es, dass wir unsere Eltern nie kennengelernt hatten. Und ich vermisste unsere Schwestern. Aber ich konnte nicht behaupten, das ich unglücklich wäre. Eigentlich erwartete ich einen neckischen Kommentar als Antwort, aber Arrie blieb still. Plötzlich erhob sie sich und starrte in die Tiefen des Waldes.
„Hörst du das?“, fragte sie, aber da stoben auch schon die Singvögel auf und verschwanden flatternd und schimpfend in die Nacht. Auch die leuchtenden Nachtblumen schlossen schlagartig ihre Blüten und erloschen. Ein sicheres Zeichen von Gefahr. Natürlich hörte ich es auch, das Geraschel, lauerndes Atmen in der Dunkelheit und das erstickte Geräusch schleichender Schritte.
Sofort war die friedliche Atmosphäre dahin und ich griff besorgt nach ihrer Hand. „Wir sollten gehen.“, zischte ich eindringlich und versuchte, sie mit mir zu ziehen, aber sie blieb so fest an Ort und Stelle stehen, als sei sie dort verwurzelt. Als dann ein leuchtendes Augenpaar in der Dunkelheit auftauchte, war es zu spät. Eine Kreatur schälte sich aus den Schatten, wie ein Alptraum sich aus dem ruhigen Schlummer formte. Nun gefror meine Tinte regelrecht zu Eis. Gerne wäre ich jetzt der mutige gewesen, hätte Arrie weggezerrt und uns beide in Sicherheit gebracht. Aber plötzlich konnte ich mich genauso wenig bewegen wie sie. Dieses Monster, dass sich, doppelt so groß wie wir, vor uns aufbaute, ich erkannte es. Obwohl es Monate her war, wusste ich sofort, dass dieses Monster vor uns ebendieses war, dass ich damals als Höhlenmalerei erblickt hatte. Die echsenhaften Züge, die gewaltigen Flügel, die goldenen Schuppen, der dornige Schweif und die kräftigen Hinterbeine. Ohne Zweifel. Wir hatten hier das Monster aus alten Legenden vor uns. Das Wesen beugte seinen langen Hals zu uns hinab, witterte die Luft und blies uns dann seinen verroteten Atem ins Gesicht. Ich wartete nur darauf, dass es zuschnappte. Arrie dagegen wartete nicht. Ohne eine Sekunde zu zögern, schnappte sie sich einen herumliegenden Stock und schlug ihn mit derartiger Wucht auf die Schnauze des Untieres, dass der Ast dabei in der Mitte zerbrach. Mehr vor Schreck als vor Schmerz wich das Monster zurück und fauchte so laut, das es im ganzen Wald widerhallte. Ein Moment, denn Arrie nutzte, um mich einfach mit ihr zu zerren, genau in die entgegengesetzte Richtung. Obwohl meine Beine sich taub anfühlten, rannte ich mit, nicht mehr in der Lage irgendetwas zu denken. Aber es war eine zwecklose Flucht. Wir kamen nichtmal ans Ende der Lichtung, wo die Bäume uns Schutz geboten hätten. Das Monster machte einen einzigen Satz, flog über uns hinweg und stand uns erneut im Weg.
„DU!“, fauchte das Monster Arrie geradewegs ins Gesicht. „Du stiehlst mir nicht meinen Sohn!“
Ein flaues Gefühl machte sich in meinen Magen breit. „Dein Sohn?“ fragte ich verwirrt und erschauderte kurz, als sich die flammendroten Augen des Goldmonsters auf mich richteten. In ihnen glomm eine Art von Zuneigung, bei der mir übel wurde.
„Ja. Du, du bist mein Sohn. Mein Liebling. Ich bin gekommen, um dich zu holen“, gurrte das Monster.
„Das muss ein Missverständnis sein“, bekam ich gerade so krächzend hervor. Arrie nickte bestärkend. „Genau, du hast dich geirrt, du blödes Schuppenvieh! Das da ist mein Bruder Hasdrubal, ich kenn ihn, seit wir aus den Eiern geschlüpft sind! Er ist nicht dein Kind! Er sieht dir ja nichtmal ähnlich!“
Ein klirrendes Geräusch, wie Kettenrasseln, drang aus der Kehle der Bestie, als die den Kopf in den Nacken warf. Eine fließende Bewegung, die das Mondlicht auf ihren Schuppen brach und für einen Moment alles um uns herum in einen Schauer aus metallernen Lichtpunkten hüllte. Ich glaube, dass sie lachte. „Dummes Ding! Naives Ding. Das ist der Trick! Unsere Art ist schlau. Unsere Kinder wandeln ihre Gestalt. Wir lassen Fremde unsere Jungen aufziehen! Weniger Arbeit. Und wenn unsere Jungen alt genug, wir kommen, um sie zu holen. Praktisch. Haben sogar Festessen bevor wir gehen.“ Das Monster bleckte die Zähne zu einem kalten Grinsen, beugte sich vor und berührte mich, ganz sacht, mit der Spitze ihrer schuppigen Schnauze. Sofort riss Arrie mich zurück und stellte sich unbeeindruckt von der ganzen Geschichte zwischen mich und sie.
„Du bist verrückt! Lass uns in Ruhe!“, donnerte sie dem Monster entgegen, während sie sich hastig nach einer Waffe umsah, aber es lag nicht mal mehr ein dünner Zweig in der Nähe. Nur weiches Gras und geschlossene Blüten. Ich wusste nicht ob es die Angst war, aber auf einmal ging es mir gar nicht mehr gut. Ich spürte eine unbekannte Hitze in mir hochkrabbeln, von meinen Füßen bis hinauf zu meinem Kopf. Mir wurde schwindlig, dann begann mein Körper zu schmerzen und alle Kraft verließ mich. „Arrie“, wisperte ich noch erstickt, ehe ich auf die Knie sank. Ich kniff die Augen zu und schrie, weil es so ein ungewohnter Schmerz war. Was dann geschah, weiß ich nicht genau. Als ich die Augen öffnete, schien die Welt auf alle Fälle eine andere zu sein. Alles erschien plötzlich viel kleiner, die Farben waren nicht mehr so wie ich sie kannte, die Gerüche in der Luft hatten viel mehr Nuancen. Auch mein Körper fühlte sich anders an. Ein Blick an mir hinab genügte, um zu wissen warum. Dieses verrücktwirkende Monster hatte nicht gelogen. Es gab Tintlinge, die sich in Bestien verwandeln konnte. Oder Tintlinge, die gar keine Tintlinge waren. Oder andere Wesen, die sich als Tintlinge ausgaben. Je nachdem, wie man es interpretieren wollte. Kaum begann mir zu dämmern, dass mein Leben eine Lüge war, schrie ich meinen Frust in die Nacht hinaus, zuckte aber selbst zusammen, als ich merkte, wie laut und tief meine Stimme nun war. Als hätte man den Donner in meinen Hals gestopft. Mit einem Mal war alles in meinem Kopf, ich wusste genau, dass dieses Monster kein Monster war, sondern eine Oitiaphur. Eine Rasse, die viele Planten weiterlebte. Ein trostloser Dreckhaufen, den sie dominierten, aber auf dem sie langsam verhungerten. Und deshalb immer wieder ins große All abhoben und nach Beute suchten. Und das die Weibchen ihre Eier auf fremden Planeten ablegte, damit die Jungtiere nicht die Strapazen der Reise aushalten mussten und dennoch gut genährt blieben. Es war, als hätte ich plötzlich Zugriff auf ein Kollektivgedächtnis. Erinnerungen, die nicht meine waren, Wissen, das ich nicht haben dürfte. Mein Schädel brummte wie bei einem Erdbeben.
„Hasdru ...“, wimmerte Arrie erstickt, während sie Schritt für Schritt vor mir zurückwich. „Du... Du bist ein Monster!“
„Er ist wunderschön!“, heulte die Fremde in einem Ausbruch mütterlichen stolzes dazwischen. „Du weißt ja gar nicht, worüber du redest! Du fängst an, auf meine Nerven zu gehen! Wir fressen dich!“ Sie stürzte vor, das Maul so weit aufgerissen, das man jeden blitzenden Zahn sehen konnte. Dieses Mal war ich derjenige, der sich vor Arrie schmiss. Ich tat es, ohne nachzudenken und spürte im ersten Moment nicht mal, wie sich die unbarmherzigen Zähne der Oitiaphur sich in meinen Körper bohrten. Unbeabsichtigt erwischte sie mich am Bauch, auch wenn meine Schuppen verhinderten, das etwas Schlimmes passierte.
Das Weibchen wich sofort zurück, kaum das sie merkte, das sie ihr eigenes Kind angriff. „Du! Was tust du?“, fauchte sie so voller Wut, dass der Geifer aus ihrem Maul spritzte.
„Ich lass nicht zu, dass du ihr etwas tust. Oder sonst wem hier. Ich ... Ich-“ Obwohl ich mich bemühte, kamen die Worte nur schwer über meine Lippen. Obwohl ich mich so groß machte wie möglich und meine Schwingen schützend ausbreitete, fühlte ich mich in Wahrheit ganz klein. „Ich lasse nicht zu, dass du Arrie weh tust, ob sie jetzt meine Schwester ist, oder nicht!“ Obwohl es eine ungewohnte Geste war, bleckte ich die Zähne.
Eine Geste, die von meiner Mutter erwidert wurde. „Verrat!“, giftete sie und sprang mir sogleich an die Kehle. Zwischen uns entbrannte ein wilder Kampf. Ein schnappen, beißen, kratzen und treten. Ein gegeneinanderknallen, fauchen und drohen. Es war mein allerester Kampf und ich wusste kaum, was ich tat. Aber irgendwie funktionierte es doch. Ganz instinktiv fand ich die Schwachstellen meiner Feindin und durch mein jüngeres Alter und meinem brennenden Wunsch, Arrie zu beschützen, schlug ich mich weit besser als gedacht. Obwohl wir einige junge Bäume niederrissen und die Lichtung von einem idyllischen Plätzchen zu einem verzehrten Kampfplatz wandelten, war es ein Sieg auf voller Linie. Die falsche Mutter lag unter meinen Klauen, blutete aus vielen Wunden und regte sich nicht mehr. Auch aus meinen Wunden tropfte es, keine goldene Tinte, so wie es eigentlich sein sollte, sondern dunkelrotes Blut. Es tat weh, nach allem, was in dieser Nacht passiert war, kam mir dieser Schmerz nebensächlich vor. „Arrie?“ Jetzt wo die Gefahr überstanden war, schaute ich mich endlich wieder nach meiner Schwester um. Sie kauerte ganz am Rande der Lichtung, im Schutze der hervorstehenden Wurzeln eines Baumes. Vor Schreck war ihre Tinte ganz ausgebleicht und ihre dunklen Knopfaugen wirkten größer als sonst. Zaghaft kam ich auf sie zu, jedoch verschreckte ich sie damit nur noch mehr. Arrie klettert aus ihrem Versteck und versteckte sich nun hinter dem Baum. Erst jetzt sah ich, dass sie weinte. Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich Arrie weinen sehen.
„Geh weg!“, warf sie mir mit schriller Stimme entgegen. Auch das war das Erste Mal, sie hatte mich noch nie weggeschickt. Ich wusste nicht, ob sie es ernst meinte oder nur aus Schock heraus sagte. Unsicher blieb ich stehen, ließ meinen Blick über die zerwütete Lichtung streifen, über den Leichnam der Fremden, die in Wahrheit meine Mutter war. Ich trat an den kleinen Tümpel am Rand der Lichtung und blickte auf das dunkle Wasser. Mein eigenes, verzerrtes Spiegelbild starrte mir entgegen. Kein Tintling, sondern ein Oitiaphur. Aus irgendwelchen Gründen hatte ich geglaubt, sobald ich meine angebliche Mutter besiegt hätte, alles wieder normal wäre. Das ich durch meine Entscheidung, meine Tintlingschwester zu schützen, selbst das Recht erworben hätte, wieder zu einem Tintling zu werden und zu bleiben. Eine vergebene Hoffnung. Das Blut, dass an mir heruntertropfte, half wohl auch nicht dabei einen freundlicheren Eindruck zu erwecken. Als ich mich wieder Arrie zuwand, war sie spurlos verschwunden.
„Arrie?“ rief ich in die Nacht hinein und lauschte. Keine Antwort. „Schwester?“ rief ich noch einmal, ohne das eine Antwort kam. Erst jetzt nährte ich mich dem Baum, hinter dem sie sich versteckt hatte. Mit blasser, hellblauer Tinte eilig hingekritzelt prankte eine Zeichnung auf der Rinde. Zwei kämpfende Kreaturen. Darunter ein Bild, in dem eine der Kreaturen, mit finsterem Blick und besudelt, ich schätzte von Blut, auf einen kleinen Tintling zukam. Und dann die letzte Zeichnung darunter, in der der kleine Tintling wegrannte. Ganz allein. Instinktiv ahnte ich, was Arrie mir damit sagen wollte. Es war ein Abschiedsbrief, ein Bruch in unserer makellosen Bruder-Schwester Beziehung. Unfähig das zu realisieren, stand ich da, einige Stunden, bis das Morgengrauen dämmerte und Stimmen zu mir drangen. Hastig zog ich mich in den Schutz der Wälder zurück und beobachte still, wie gleich mehrere Dörfer von Tintlingen ankamen, sich um die Leiche sammelten und wild miteinander diskutierten. Sie hatten alle Fackeln und improvisierte Waffen dabei, angeführt von Arrie. Jetzt wurde mir endgültig klar, dass ich mich nie mehr blicken lassen könnte. Mit dieser Erkenntnis zog ich mich so schnell es ging in die Höhlensysteme zurück.
Und hier bin ich nun. Ich bin kein Tintling mehr, deshalb schreibe ich diese Geschichte mit meinem eigenen Blut. Wenn das geschafft ist, werde ich mich in die tiefsten Tiefen zurückzuziehen, um nie mehr das Tageslicht zu sehen. Wer auch immer auf diese Geschichte stößt, sehe sie als Warnung! Sie ist nicht ausgedacht, sondern real. Sollte je wieder ein goldener Tintling auftauchen, dann tötet ihn. Tötet ihn und versteckt euch, damit seine Mutter, wenn sie ihn holt, euch nicht findet. Und kommt erst heraus, wenn es wieder sicher ist. Das ist alles, was ich, Hasdrubal der falsche Tintling, für euch tun kann.
Arrie, solltest du das jemals lesen: Es tut mir leid. Ich liebe dich sehr. Und ich hoffe von Herzen, dass du glücklich wirst. Leb wohl.
Tolle Figuren, ein richtiger kleiner Kosmos, den man sich gut hineinversetzen kann. Mir gefällt die Beschreibung der Tintlinge und der ganzen Höhlenwelten sehr gut!
AntwortenLöschenEine wunderbare Geschichte mit gut ausgearbeiteten Figuren/Spezies. Hat Spass gemacht zu lesen.
AntwortenLöschenSehr, sehr kreativ! Und tragisch, ich habe mit Hasdrubal und Arrie mitgelitten. Eine bewundernswert runde Geschichte.
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