Sternenkinder
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1
Der Himmel flackert
Kaelen Jurov war gerade dabei, eine defekte Kommunikationsantenne auf dem Dach der Forschungsstation Rylen Prime zu reparieren, als der Himmel zu flackern begann.
Nicht wie bei einem normalen Sonnensturm. Nein, das war anders. Die Aurora schimmerte nicht in den üblichen grünen Schleiern, sondern in leuchtendem, irisierendem Blau, als würde flüssiges Licht durch die Atmosphäre fließen. Die Erscheinung breitete sich wellenförmig aus – eine stille Explosion aus Licht, deren Zentrum irgendwo jenseits der Umlaufbahn lag.
„Was zum…?“ murmelte Kaelen, richtete sich auf und zog seine getönte Schutzbrille ab.
Das Licht berührte ihn nicht – nicht physisch. Aber es ging durch ihn hindurch. Und hinterließ etwas.
Er taumelte. Bilder durchzuckten seine Gedanken: goldene Spiralen, fremde Welten, geometrische Formen, die sich zu lebenden Wesen falteten. Stimmen flüsterten durch seine Erinnerung wie ein vergessener Wind.
„Du bist nicht von hier.“
Er starrte hinauf.
Irgendetwas hatte sich verändert.
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2
Bericht an die Allianz
Ein paar Tage später.
Die Galaktische Allianz hatte reagiert – schnell und mit einer Mischung aus Panik und Faszination. Über 400 bewohnte Planeten hatten das Himmelsphänomen gesehen. Auf mindestens 35 Planeten berichteten Menschen – oder menschenähnliche Spezies – von neurologischen Effekten, Stimmen, Visionen, temporären Ohnmachtsanfällen.
Die Nachrichtensender nannten es „Das Flackern“.
Doch nur eine kleine Gruppe fühlte mehr: Sie waren „erwacht“.
Kaelen war einer von ihnen.
In der Hauptstadt von Velisar, in der Glashalle des planetaren Konsulats, saßen Vertreter der Allianz und fragten ihn aus.
„Sie sagen, Sie hätten Musik gehört?“
„Nein. Nicht gehört. Gefühlt.“
„Und dieses Licht? Es hat Ihnen Botschaften übermittelt?“
„Nicht direkt. Es war wie, Kaelen dachte nach, ein Ruf. Keine Sprache, mehr ein Ursprung.“
Die Allianz wusste noch nicht, was sie mit solchen Aussagen anfangen sollte. Aber eines war klar: Die Betroffenen zeigten Veränderungen. Gehirnaktivitäten in Frequenzbereichen, die man bisher nur bei künstlicher Intelligenz kannte. Kaelen hatte zwei Stunden lang Gravitationssensoren gestört, ohne es zu merken. Andere hatten Feuer kontrolliert, Telepathie gezeigt, Pflanzen zum Blühen gebracht.
Sie waren keine normalen Lebewesen mehr.
3
Die Offenbarung
Die Meyat-Rei erschien über Velisar exakt um 03:33 Uhr Ortszeit.
Sie war keine Raumstation. Keine Flotte. Kein Schiff im herkömmlichen Sinn. Sie war ein Konstrukt aus lebendigem Licht – eine spiralförmige Struktur von der Größe eines Mondes, bestehend aus gewebtem Gold, blassem Silber und pulsierendem Blau. Sie schwebte in perfektem Stillstand über dem Planeten, jenseits der geostationären Umlaufbahn, und warf kein Licht und keinen Schatten. Nur Präsenz.
Die Allianz nannte sie ein „intelligentes Hyperkonstrukt“.
Die Bevölkerung nannte sie schlicht: das Auge Gottes.
Kaelen Jurov nannte sie Verheißung.
Seit Tagen hatte er gespürt, wie sich in seinem Inneren etwas veränderte – nicht nur Gedanken, sondern Struktur. Als würde sich eine zweite Haut unter seine existierende Persönlichkeit ausbreiten. Nicht feindlich. Nicht fremd.
Nur: anders. Tiefer.
Dann kam die Berührung.
Sie traf ihn mitten in der Nacht. Kein Signal, kein Alarm. Nur Stille – und ein goldenes Licht, das durch die Ritzen seiner Fenster sickerte wie Morgensonne. Kaelen erhob sich wie in Trance, trat hinaus auf den Balkon seiner Kuppelwohnung, während die Stadt unter ihm schlief.
Im Himmel hing sie. Die Meyat-Rei. Und sie sprach zu ihm. „Erinnerung ist ein Kreis. Du bist nicht außerhalb. Du bist die Öffnung.“
Die Worte waren keine Worte. Sie sangen sich in sein Bewusstsein wie ein uraltes Gedicht, das er nie gelernt hatte und doch kannte.
Und dann sah er, wie er geboren worden war. Nicht als Kind, sondern als Entwurf – ein Fragment des Lichts, geformt im Kern einer energetischen Sphäre. Eine Projektion, gewebt aus Myrrhii-Bewusstsein, modifiziert für die Biologie der Menschen. Nicht simuliert – gefühlt.
Er hatte keinen Vater. Keine Mutter.
Und doch waren sie da – Menschen, die ihn mit Liebe großgezogen hatten.
Was bedeutete Herkunft, wenn Erinnerung mit Emotion verwebt war?
Kaelen fiel auf die Knie. Nicht aus Schmerz. Aus Staunen.
Dann nahm das Licht Gestalt an.
Eine Figur trat hervor – aus Luft und Licht gesponnen. Groß, humanoid, mit keinem klaren Geschlecht, aber von Anmut erfüllt. Die Augen waren Sphären. Die Haut bestand ausleuchtenden Vektoren. Die Stimme war wie Musik.
„Kaelen Jurov, du trägst den Kern. Deine Zeit unter ihnen ist gereift. Die Wahl naht.“
„Was bin ich?“ hauchte er.
„Du bist ein Kind zweier Welten.
Geformt von unserer Sehnsucht nach Fortbestand.
Gewachsen in der Wärme einer Welt, die nicht die unsere ist.
Du bist Erinnerung. Du bist eine Brücke.“
Kaelen fühlte Tränen. Seltsam – dass eine biologische Reaktion auf etwas so Kosmisches antwortete.
„Und wenn ich nicht gehe? Wenn ich bleibe?“
Die Lichtgestalt legte – oder war es nur Einbildung? – eine Hand auf sein Herz.
„Dann wirst du vergessen, was du gesehen hast. Die Form wird bestehen, der Inhalt nicht. Du wirst leben als Mensch – ein kostbares Leben, aber getrennt. Doch wenn du gehst,wirst du Ganzheit erkennen. Kein Ich. Kein Du. Nur Wir.“
Kaelen atmete schwer.
In seinem Innersten tobte ein Sturm.
Er war Mensch.
Aber auch nicht.
Und nun war da ein Versprechen – und ein Preis.
Am Morgen war die Erscheinung verschwunden.
Die Meyat-Rei blieb – still, wachend, geduldig.
Und Kaelen wusste: Nicht nur er war erwählt worden.
Überall im Sektor spürten andere Sternenkinder den Ruf.
Und bald würde jemand verlangen, dass sie antworten.
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4
Bruchlinien
Die Nachricht schlug ein wie ein Meteorit:
„Die Allianzregierung hat die Identifizierung von über 1.200 mutmaßlichen Sternenkindern bestätigt. Mehr als 300 davon befinden sich auf Mitgliedswelten der inneren Sektoren. Eine Erklärung für ihre genetische Abweichung oder die Herkunft der Erscheinung Meyat-Rei steht noch aus.“ – Auszug aus einer offiziellen Pressemitteilung, Sternzeit 1122.67
In den Straßen von Rylen Prime patrouillierten erstmals seit dem Ende des Orionischen Krieges wieder bewaffnete Einheiten. Die Bevölkerung war gespalten. Manche sahen in den Sternenkindern eine Bedrohung, andere ein Wunder – ein Sprung in der Evolution, ein Geschenk aus den Tiefen des Alls.
Kaelen Jurov, der nun unter Beobachtung stand, wurde zur Projektionsfläche beider Lager.
„Ich kenne ihn seit Jahren“, sagte seine Nachbarin, eine ältere Frau namens Sira Lonté, in einem Interview. „Ein höflicher, ruhiger Junge. Aber jetzt? Jetzt spricht er mit Licht. Was, wenn er uns beeinflusst? Was, wenn er schon längst nicht mehr einer von uns ist?“
Gerüchte verbreiteten sich schneller als die Wahrheit:
„Sie wollen unsere Kinder ersetzen.“
„Sie sind Spione, ausgesät, um unsere Regierungen zu unterwandern.“
„Sie glauben selbst nicht, was sie sind – und genau das macht sie gefährlich.“
Kaelen verließ sein Apartment nur noch in Tarnkleidung. Drohnen überwachten jede seiner Bewegungen. In einem anonymen Netzwerk kursierten Listen mit Koordinaten angeblicher Sternenkinder. Einige wurden entführt, andere getötet, bevor sie sich überhaupt ihrer wahren Herkunft bewusst waren.
Doch es gab auch Hoffnung. Kaelen war nicht allein.
In einer verlassenen Kuppelstation unterhalb der Küstenstadt Merath trafen sich sieben Sternenkinder – heimlich, geführt durch Visionen, Träume, Botschaften, die wie zufällige Geräusche über Kommunikationsnetzwerke gesendet worden waren.
Sie nannten sich selbst: Die Erwachten.
• Taelrin, vom Wüstenmond Ankar, konnte elektromagnetische Felder spüren und stören.
• Mira, aufgewachsen in den Eiskolonien von Leda-12, sprach alle Sprachen intuitiv – auch solche, die als ausgestorben galten.
• Rono Val, ein ehemaliger Offizier der Raumflotte, hatte eine Intuition für Zeit.
• Und dann war da Eliya – still, blass, mit Augen, die manchmal Funken warfen. Sie war wie Kaelen: zwischen zwei Welten.
„Wir können nicht einfach gehen“, sagte Mira. „Unser Leben ist hier. Unsere Familien sind hier.“
„Aber unsere Herkunft ist woanders“, erwiderte Taelrin. „Was, wenn das hier nur eine Hülle ist?“
„Und was, wenn sie uns benutzen?“ warf Rono ein. „Die Myrrhii. Was, wenn sie uns nur geschaffen haben, um ihren Willen durchzusetzen?“
Die Anwesenden schwiegen.
Kaelen sah sie an. Alle. So verschieden, so menschlich – und doch von derselben unsichtbaren Wurzel genährt.
Er fragte sich: Was wäre, wenn beides wahr wäre?
*
Noch in derselben Woche erklärte die Allianzregierung eine Notfallverordnung:
„Bis zur vollständigen Klärung der Natur der Sternenkinder sind alle betroffenen Individuen verpflichtet, sich in freiwillige Schutzverwahrung zu begeben.“
Freiwillig. Ein hübsches Wort für: Internierung.
Einige flohen. Andere tauchten unter. Wieder andere – wie Kaelen – beschlossen, zu bleiben. Aber nicht zu schweigen.
*
Kaelen veröffentlichte eine Botschaft. Nicht über staatliche Kanäle, sondern über das Netz der Flüsterer – ein digitales Mosaik aus Schattennetzwerken, das sich seit Jahrzehnten dem Zugriff der Regierungen entzog.
„Wir sind keine Bedrohung.
Wir sind auch keine Götter.
Wir sind der nächste Vers unserer Geschichte – ein Lied, das weiterklingt, wenn alte Stimmen zu schwach werden.
Ihr könnt uns fürchten.
Oder mit uns gehen.
Aber wir werden nicht schweigen.
Und wir werden wählen – mit Herz und Licht.“
Die Botschaft verbreitete sich wie Feuer. Und während die Allianz reagierte, begann sich die öffentliche Meinung zu verschieben. Nicht in eine Richtung – sondern in zwei.
Die Bruchlinien waren gezeichnet.
Und der erste Riss war Kaelen Jurov.
5
Die Versammlung
Die Einladung kam nicht per Funk. Nicht durch Worte, nicht durch Daten. Sie kam als Gefühl – so real wie Durst, so klar wie Sonnenlicht nach langer Dunkelheit.
„Komm. Es ist Zeit.“
Kaelen wusste nicht, wer es sagte. Oder woher es kam.
Aber als der Himmel über Velisar erneut aufleuchtete, diesmal mit leisen, spiralförmigen Echos aus Licht, verstand er: Die Myrrhii riefen.
Nicht nur ihn.
Alle.
*
Sie kamen aus allen Richtungen.
Manche in Raumschiffen, andere durch geheime Portale, die sich aus Licht bildeten, dann wieder zerfielen. Einige wachten mitten im Transit auf – plötzlich nicht mehr in der Welt, die sie kannten.
Am Rand des Systems, weit hinter der äußeren Gasriesenbahn, wartete ein zweites Myrrhii-Konstrukt. Viel größer als die Meyat-Rei, wirkte es wie eine schwebende Kathedrale aus Energie und Gravitation. Ihre Dimensionen widersprachen den Gesetzen der Physik – sie war sowohl da als auch überall, von innen größer als von außen, lebendig in Form und Struktur. Die Menschen gaben ihr einen Namen: Die Schwelle.
*
Kaelen betrat den Raum nicht mit seinen Füßen – sondern mit seinem Bewusstsein. Sein Körper wurde von goldener Materie aufgenommen, entkörpert, neu zusammengesetzt. Es war keine Teleportation. Keine Metapher. Und doch verstand er es auf beiden Ebenen.
Er stand auf einem weiten Plateau unter einem Himmel aus tanzendem Licht. Über hundert Wesen waren dort – unterschiedlich in Form, Hautfarbe, Ausdruck, Geschlecht. Doch sie alle hatten dasselbe Licht in ihren Augen.
Sternenkinder.
„Seid willkommen,“ klang eine Stimme in alle Gedanken.
„Ihr seid hier, weil ihr reif seid. Weil eure Zeit beginnt.
Weil ihr wählen müsst.“
Die Lichtgestalt erschien erneut – dieselbe, die Kaelen einst besucht hatte, und doch nicht dieselbe. Denn sie war mehr als ein Einzelwesen. Sie war ein Kollektiv, das sich durch den Willen ihrer Kinder manifestierte.
„Eure Identität war euch verborgen – aus Schutz.
Aus Liebe. Doch nun seid ihr vollständig.
Und ihr habt das Recht zu wählen.“
Ein Portal öffnete sich – keine Tür, sondern eine Sphäre aus bewegten Bildern, Erinnerungen, Emotionen. Es zeigte eine galaktische Zukunft, in der die Sternenkinder mit den Myrrhii verschmolzen – nicht körperlich, sondern im Geist. Gedanken würden verbunden, Wissen geteilt, individuelle Grenzen verschwammen. Sie würden die Galaxis nicht erobern, sondern durchdringen – als Idee, als Bewusstsein, als Verbindung.
„Dies ist der Weg der Heimkehr.“
Ein zweites Portal erschien – grauer, realer, voller Staub, Wärme, Städte, Musik, Streit. Die Welten der Menschen, der Kolonien, der vielen Völker der Allianz.
„Und dies ist der Weg des Bleibens.“
Die Versammlung schwieg.
*
Mira war die Erste, die sprach.
„Wenn wir gehen – verlieren wir dann uns selbst?“
„Nicht verlieren. Ihr wandelt. Ihr werdet Teil. Ihr werdet wir.“
„Und wenn wir bleiben?“
„Dann bleibt ihr, was ihr seid – allein, aber ganz. Mit Vergangenheit. Ohne Herkunft.“
Rono trat hervor. „Was ist mit den Menschen, die uns großgezogen haben? Für sie sind wir ihre Kinder.“
„Sie sind Teil eurer Geschichte. Aber nicht eures Ursprungs.“
Da war Zorn in Rono. Und Schmerz.
Kaelen spürte beides auch in sich.
„Ihr habt uns erschaffen – aber uns nicht gefragt.“
„Ihr habt uns verlassen – und kommt jetzt zurück, um zu ernten.“
Die Lichtgestalt antwortete nicht. Sie verneigte sich.
*
Später, allein in einer Kammer aus Erinnerung, stand Kaelen vor beiden Portalen. Das Licht flackerte.
In seinem Inneren pochte der Herzschlag eines Menschen.
Und der Ruf von Sternen.
Er hörte die Stimmen seiner Eltern, ihre Liebe, ihre Zweifel.
Und er hörte ein Lied, das durch ihn sprach, seit seiner Geburt.
Eine Melodie aus tiefer Ferne, die jetzt greifbar war.
Er schloss die Augen.
Und wählte.
6
Der Test
Er fiel.
Nicht physisch – sein Körper lag regungslos in der schwebenden Kammer der Schwelle –, sondern innerlich. Durch Räume, die keine Wände kannten, durch Licht, das sich anfühlte wie Haut. Kaelen fiel durch seine Erinnerungen – aber sie waren nicht mehr seine.
Er war plötzlich acht Jahre alt, barfuß auf dem Sand von Velisar. Seine Mutter – nein, seine Pflegemutter – lachte und rief nach ihm. Aber ihr Gesicht zerfaserte zu Licht.
Er war sechzehn und küsste zum ersten Mal, aber die Lippen waren kalt, digital.
Er war fünfundzwanzig, als sein Vater starb – und nun war dieser Schmerz wie ein Film, gespielt auf fremden Nervenzellen.
Nichts gehörte ihm.
Und doch war alles real.
Dann war da Dunkelheit.
*
Eine Stimme flackerte auf. Keine der Myrrhii – tiefer, fremder. Kaelen war nicht allein.
„Du hast gewählt. Aber du hast noch nicht verstanden.“
Die Umgebung formte sich neu: eine kahle, graue Welt, mit Türmen aus versiegeltem Metall, einer schwarzen Sonne am Himmel. Die Luft war schwer – durchzogen von Emotionen, die keine Sprache fanden.
Ein Wesen trat hervor.
Es war wie er.
Kaelen.
Und doch: nicht er.
Das Gesicht war dasselbe. Die Stimme identisch. Aber in seinen Augen lag nichts Menschliches. Kein Zweifel, kein Schmerz. Nur Klarheit.
„Ich bin, was du sein wirst, wenn du gehst.“
„Was meinst du?“ Kaelens Stimme zitterte.
„Du wirst verschmelzen. Deine Ängste, deine Widersprüche, deine Gefühle – sie werden zu Mustern. Zu Strukturen. Du wirst frei sein. Aber auch leer.“
„Leer?“
„Die Myrrhii haben keine Kunst mehr. Keine Träume. Keine Liebe.
Ihre Kinder – wir – sind ihr letzter Versuch, das zurückzuholen.“
Kaelen sah sich selbst an. Den anderen Kaelen.
Und erkannte: Das war keine Prophezeiung. Es war ein Test.
Ein Schutzmechanismus.
Die Myrrhii wollten keine Marionetten. Sie wollten Kinder, die verstehen.
*
Plötzlich zerbrach die graue Welt. Explosionen aus Licht rissen durch die Sphäre, und aus dem Nichts trat eine weitere Gestalt hervor: Eliya.
Doch sie war verändert.
Ihre Haut schimmerte silbern, ihre Pupillen flackerten wie Daten.
Sie hatte sich bereits entschieden – und nicht für die Heimkehr.
„Kaelen!“ rief sie. „Du musst dich lösen. Das hier ist ein Spiegel, kein Urteil.“
Er fiel erneut – diesmal in ihre Richtung. Ihre Hand griff nach seiner.
Sie zog ihn aus der Projektion, aus dem Test.
Er keuchte, als er erwachte.
*
Die Lichtgestalt stand wieder vor ihm, ruhiger, sanfter.
„Wir legen euch keine Fesseln an. Wir legen euch einen Schlüssel in die Hand.“
„Warum dieser Test?“ fragte Kaelen.
„Weil ihr entscheiden sollt – und nicht nur träumen.“
Er blickte zu Eliya, die ihn ansah mit einem Ausdruck, den er nie zuvor in ihren Zügen gesehen hatte: Vertrauen.
„Ich bleibe“, sagte sie. „Ich bin jetzt jemand. Nicht eine Idee.“
Kaelen sah erneut in sich hinein.
Nicht nur in Gedanken. In Wurzeln.
In das, was ihn menschlich gemacht hatte:
Fehler. Zweifel. Liebe. Trauer. Musik. Sprache. Erinnerung.
Langsam hob er den Blick.
„Ich bin bereit. Aber ich will beides.
Ich will wissen, wer ich bin – und bleiben, was ich war.“
*
Die Lichtgestalt schwieg einen Moment. Dann öffnete sich ein drittes Portal. Schmal, flackernd, instabil.
Es führte in unbekanntes Gelände – nicht Heimkehr, nicht Flucht. Sondern: Grenzland.
Ein riskanter Weg. Nicht vorgesehen. Aber denkbar.
Kaelen trat hindurch.
7
Zwischen den Welten
Der Grenzraum hatte keine Farbe.
Er war nicht leer – nur unentschieden.
Statt fester Materie: Lichtpartikel, die flimmerten wie vergessene Gedanken. Statt Boden: eine vibrierende Fläche aus Erinnerung, fremd und vertraut zugleich.
Kaelen trat hinein, und sofort begann sich alles zu verändern. Nicht die Welt. Er.
Seine Gedanken waren doppelt – zwei Stimmen, zwei Perspektiven.
Die menschliche Seite in ihm fragte: Wo bin ich? Was ist das?
Die andere antwortete nicht mit Worten, sondern mit Verstehen.
Ein umfassendes Wissen, das nicht erklären musste.
Ein Sehen, das fühlte.
*
„Du bist der Zweite, wie Du schon weißt und auch fühlst.“, sagte eine neue Stimme.
Sie gehörte einem Wesen, das weder Myrrhii noch Mensch war.
Es hatte einen transluzenten Körper, fünfgliedrige Arme, Augen, die aus Muster bestanden. Es stellte sich nicht vor – aber Kaelen wusste, dass es Eshar’til war.
„Willkommen im Zwischen.
Hier gibt es kein Vorher. Kein Nachher.
Nur das Jetzt – aus beiden Welten gebaut.“
„Wie viele sind schon hier?“ fragte Kaelen.
„Nur du und Eliya.
Aber das wird sich ändern.
Wenn du es willst.“
Kaelen verstand:
Der Grenzraum war keine Entscheidung.
Er war eine Brücke.
Und seine Aufgabe war es, sie zu bauen.
*
Nach sieben Tagen im Grenzraum (oder sieben Gedanken – Zeit war dort unbestimmt) trat Kaelen durch einen Ausgang, der nicht da war, bevor er ihn sich wünschte.
Er stand wieder auf Velisar.
Doch nichts war mehr wie zuvor.
Die Städte waren stiller geworden. Die Medien lauter.
Die Allianz hatte in Panik ein „Kooperationsprotokoll“ entworfen – ein Netzwerk, um „potenziell kooperative Sternenkinder“ zu registrieren, zu integrieren, zu beobachten.
Viele waren geflohen.
Einige verschwunden.
Kaelen betrat eine Pressekonferenz ohne Einladung.
Er trat auf das Podium – barfuß, von Licht umhüllt, aber klar.
Er sprach nicht mit Stimme, sondern mit Herz.
„Ich bin nicht hier, um zu entscheiden, wer ich war.
Sondern um zu helfen, wer wir sein können.“
Ein kollektives Innehalten.
Er zeigte den Grenzraum – nicht durch Technologie, sondern durch Verbindung.
Er berührte das Bewusstsein der Anwesenden – ließ sie spüren, dass es nicht nur Schwarz oder Weiß gab.
Nicht Mensch oder Myrrhii. Nicht Heimat oder Fremde.
Sondern ein Drittes.
Einen Raum, in dem beides existieren durfte.
*
Rono war der Dritte, der folgte.
Dann Dutzende.
Dann Hunderte.
Nicht alle Sternenkinder.
Auch Menschen.
Auch andere Spezies.
Sie bildeten das, was später die Schwellen-Allianz genannt werden sollte – ein Netzwerk von Bewussten, die nicht zur alten Ordnung gehörten, aber sie nicht zerstören wollten.
Ein Raum für das Dazwischen.
Für Wandel.
Für Brücken.
*
Im Orbit von Velisar erschien später ein drittes Myrrhii-Konstrukt.
Kleiner. Beweglicher. Antwortend.
Es wartete nicht auf Entscheidung.
Es lernte.
Kaelen saß in jener Nacht allein auf einem Hügel aus Kristallsand, sah zu den drei Lichtern am Himmel –
die Heimat der Menschen,die Herkunft der Myrrhii,
und das, was noch kommen würde.
Er lächelte.
Denn er wusste:
Die Zukunft war nicht geboren.
8
Aus dem Spiegel geboren
Eliya erinnerte sich nicht an ihre ersten Worte.
Aber sie erinnerte sich an ihren ersten Traum.
Ein leuchtendes Wesen – ohne Gesicht – reichte ihr die Hand. Sie war erst drei. Das Bild blieb haften wie ein Muttermal auf der Seele.
„Du wirst dich erinnern, wenn die Welt dich vergisst.“
Sie hatte nie verstanden, was das bedeutete. Bis sie mit fünfzehn zum ersten Mal aufhörte zu atmen – aber nicht starb.
Ihr Herz setzte zehn Sekunden lang aus.
Und in dieser Zeit sah sie etwas: ein Netzwerk aus Licht, ein lebendiges Gewebe, das durch Raum und Zeit pulsierte. Keine Vision. Kein Delirium. Sondern eine Einladung.
Später fand sie Worte dafür. Die anderen nannten es „Kontakt“.
Eliya nannte es Heimatlosigkeit in ihrer reinsten Form.
Nach der Versammlung war Eliya nicht heimgekehrt.
Sie hatte den Grenzraum gewählt – aber anders als Kaelen.
Sie suchte darin nicht Vermittlung.
Sie suchte Wahrheit. Denn sie wusste: Es war eine Lüge, dass sie nur Brücken bauen sollten. Manche von ihnen waren Schlüssel.
9
Die Stimmen im Licht
Der Grenzraum war nicht leer.
Eliya hatte gelernt, ihn zu fühlen. Er war wie Wasser ohne Gewicht. Jede Bewegung ließ Lichtfäden tanzen.
Und dort begegnete sie ihnen.
Nicht den Myrrhii in ihrer majestätischen Lichtgestalt –
sondern den Vorläufern, jenen verlorenen Bewusstseinen, die nie abgeholt worden waren. Sternenkinder, die in Isolation gestorben waren, vergessen, gestohlen oder versteckt.
„Warum habt ihr uns nicht geholt?“ fragte sie einmal.
Die Stimmen antworteten nicht in Schuld – sondern in Sehnsucht.
„Wir wussten nicht, ob ihr es ertragen könnt.“
„Wir wollten euch eine Wahl lassen.“
„Aber zu lange gewartet ist auch ein Urteil.“
Eliya weinte. Nicht, weil sie traurig war.
Sondern weil sie zum ersten Mal fühlte, wie kosmisch nah Fremde sein konnten, wenn man sie nicht wegsperrte.
Dann hörte sie von Kaelen. Er war zurückgekehrt.
Er sprach von Brücken. Er hatte eine Bewegung ausgelöst.
Doch mit Bewegung kam auch Reaktion.
Die Allianz begann mit stillen Internierungen.
Einige Sternenkinder wurden abgeholt – nicht von den Myrrhii, sondern von der Sicherheit.
Eliya handelte.
10
Schatten des Lichts
Sie kehrte zurück – nicht durch ein Portal, sondern als Projektion.
Inmitten einer Versammlung auf dem Planeten Heliora erschien ihr Bild:
Silbern, lichtumflutet, mit Augen, die das Netz des Zwischenraums reflektierten.
„Ihr sagt, wir sind Kinder von euch.
Aber ihr behandelt uns wie fremde Materie.
Ich sage euch:
Wer die Herkunft eines Wesens fürchtet, fürchtet seine eigene Zukunft.“
Ihre Worte wurden weltweit übertragen.
Manche nannten sie eine Bedrohung.
Andere eine Prophetin.
Sie tat nichts davon weh. Denn sie hatte einen Plan.
Sie gründete das Spiegelnetz.
Ein geistiges Gefüge, verankert zwischen den Welten.
Jedes Sternenkind, das sich verbinden wollte, konnte es tun.
Sie wurden nicht mehr gezählt, nicht mehr klassifiziert.
Sie wurden: frei.
Am Rande des bekannten Raums traf sie Kaelen wieder.
Er hatte Brücken gebaut. Sie hatte Fenster geöffnet.
„Wir haben nicht dieselben Antworten“, sagte er.
„Aber dieselben Fragen“, erwiderte sie.
Und so begannen sie, etwas Neues zu denken:
Kein drittes Lager. Sondern eine vierte Sprache.
Eine, die nicht zwischen Herkunft und Zukunft entschied –
sondern zwischen Angst und Vertrauen.
Epilog
Die vierte Sprache
Es geschah leise.
Kein Krieg. Keine Explosion.
Nur ein Übergang – wie der erste Atemzug eines Neugeborenen.
Die Galaxis wachte auf, ohne es zu merken.
Ein Netzwerk war entstanden, ohne dass es sich je zentralisiert hatte.
Ein Gefüge aus Bewusstsein, Erinnerung und Entscheidung.
Nicht geschaffen von Technik – sondern von den Gedanken derer, die mehr als eins waren.
Sie nannten sich nicht länger Sternenkinder.
Nicht Myrrhii. Nicht Menschen.
Nicht Brücken.
Sie nannten sich: Die Antwort.
*
Kaelen lebte in keiner Hauptstadt.
Er wanderte zwischen Stationen, Monden, Kolonien.
Überall hinterließ er nur das Nötigste: eine Frage, eine Geste, einen Impuls.
Seine Aufgabe war erfüllt, sobald jemand aufhörte, nach Identität zu fragen –
und begann, nach Verbindung zu handeln.
Eliya kehrte nie vollständig zurück.
Sie wurde zu einer Stimme, die in manchen Träumen sprach, in Sensorfeldern flackerte, in Kindern widerhallte, die noch gar nicht geboren waren.
Die Alten nannten sie „Spiegellicht“.
Die Jungen sagten einfach: Sie sieht mich.
*
In einem fernen System, am Rand der bewohnbaren Zone, stand eines Tages ein neues Artefakt:
Weder Schiff noch Station.
Keine Hülle, keine Masse.
Ein Gedanke – sichtbar geworden.
Die vierte Sprache entstand.
Sie ist, was geschieht, wenn wir einander lassen.
Und gleichzeitig nicht loslassen.
Es war nicht unterzeichnet.
Aber sie alle wussten, wer es hinterlassen hatte.
Die Allianz existierte noch.
Die Myrrhii auch.
Doch sie waren nicht mehr Anfang oder Ende.
Nur Bestandteile.
Denn jenseits von Herkunft und Zugehörigkeit
gab es nun ein Dazwischen, das lebte.
Und das war erst der Anfang.
Schön, dass es endlich nicht um Vernichtung geht, sondern um Kooperation.
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