Anonymer Schreibwettbewerb 2023 - Geschichte: 11

 Kuchisabishii und die Purpurhaut

von Achim Stößer


Achim Stößer: https://achim-stoesser.de

Literatur (Science-Fiction), Atheismus, Tierrechte, Kunst
Veröffentlichungen: https://achim-stoesser.de/literatur/publ.html



Von hier oben bot sich ein Blick zu den schneebedeckten, teils kahlen, teils dicht bewaldeten Nachbargipfeln, hinunter auf spiegelnde Seen, glitzernde Flüsse und Bäche, umringt von sattgrüner Vegetation. Wolken schienen hier und da die Berghänge hinabgestürzt zu sein, dampfende Luft über den heißen Quellen. Trotz des Schnees gab es keinen Skilift, elektromagnetische Impulse ließen Fahrzeuge, Fluggeräte, Drohnen und Roboter versagen. Weit und breit fand sich kein Tempel, nicht einmal ein Schrein, der hin und wieder einen Pilger anlocken würde. Die Luft war beißend kalt und dünn, fast zweitausend Meter über dem Meeresspiegel. Die heißen Quellen hätten zur Entspannung genutzt werden können, doch vor allem hielt die Radioaktivität um den Kobel die Menschen fern.

Es war ein seltsames Wesen, das hier hauste, purpurfarben und grünäugig, aber dennoch befremdlich menschenähnlich. Niemand wusste, woher es kam oder was es wollte, aber es hatte sich vor über einem Jahrhundert auf der Erde eingenistet und lebte nun als Eremit in den Japanischen Alpen, in denen sein Kobel havariert war.

Am Himmel näherte sich ein Fluggerät

Am Himmel näherte sich ein Fluggerät, das an eine Miniaturversion des Alienkobels erinnerte, unter der ein Korb hing, in dem zwei Menschen in unförmigen Schutzanzügen standen: Ein Freiballon, dem Heißluft Auftrieb verlieh, dessen Flugrichtung allein der Wind und somit die durch Abwerfen von Ballastsandsäcken oder Ablassen von Traggas gewählte Fahrhöhe bestimmte, also nichts, dem ein EMP etwas anhaben konnte. Nicht die präziseste Steuermethode, und so landete das Gefährt fast einen Kilometer talwärts vom Kobel. Einer der beiden Ballonfahrer stieg aus und verankerte das Fluggerät, worauf der zweite, trotz des klobigen Schutzanzugs als Frau zu erkennen, den Korb ebenfalls verließ.

*

Das kleine Büro, eher ein Verschlag, war dürftig ausgestattet, eine aufgebockte Platte als Schreibtisch, dahinter ein Stuhl, auf dem Seiji saß, davor ein weiterer; ein Waschbecken, daneben auf einem Sideboard eine Kaffeemaschine. Seiji bot Friederike mit einer Geste den freien Platz an und sie setzte sich. »Murasakihada möchte wohl allein bleiben.«

»Murasakihada?«, fragte Friederike. Sie unterhielten sich auf Englisch, da sie kaum Japanisch sprach.

»Purpurhaut. Eigentlich eine Metapher für schöne –«

»Ja«, unterbrach sie. »Dass das Alien eine purpurfarbene Haut hat, ist aus Satellitenaufnahmen bekannt.«

»Sämtliche Wissenschaftler, die den Kobel – und vor allem das Uchuujin selbst – untersuchen wollten, sämtliche Militärs, die versuchten, es gefangenzunehmen, sogar sämtliche naseweisen Journalisten und Touristen, die ins Sperrgebiet vordrangen, wurden entweder weit entfernt ohne Erinnerung an die vergangenen Tage wieder aufgefunden oder blieben dauerhaft verschwunden«, sagte er.

Interpretation zu "Der Traum der Fischersfrau"

»Weiß ich«, antwortete Friederike. Ihr Blick glitt zu den billigen Kunstdrucken an der Wand hinter Seiji. Einen davon hatte sie oft gesehen: ›Die große Welle vor Kanagawa‹, das berühmteste Werk Hokusais und wohl eines der bekanntesten der japanischen Kunst. Verdutzt bemerkte sie drei Boote voller winziger Menschlein mit Stecknadel-Köpfen zwischen den sich auftürmenden Wellen, die diese noch riesenhafter scheinen ließen, und den Fuji im Hintergrund, beides war ihr bisher nie bewusst aufgefallen, zu eindrucksvoll und dominant waren die Wellen selbst. Das zweite Bild kannte sie nicht, laut der Informationen ihrer augmentierenden Augen handelte es sich um ›Der Traum der Fischersfrau‹ von 1814, einen weiteren Farbholzschnitt desselben Künstlers. Der Akt zeigte eine Frau beim Sex mit zwei Kraken. Beide umschmeichelten mit ihren Fangarmen ihren Leib, der kleine liebkoste mit dem Hornschnabel ihre Lippen, einen Tentakel um die erigierte linke Brustwarze geschlungen, während der große zwischen ihren Beinen lag, sodass sein Schnabel sie vaginal penetrierte, und zugleich mit einer Tentakelspitze nach ihrer Klitoris tastete. Sie genoss es mit zurückgeworfenem Kopf und geschlossenen Augen, die beiden dicksten Tentakel fest umklammert. »Können wir zur Sache kommen?«, fragte Friederike und richtete den Blick wieder auf Seiji.

Dieser ließ sich nicht beirren. »Die Atombombe, die der irre General darauf werfen ließ, scheint sich ebenfalls in Wohlgefallen aufgelöst zu haben.«

»Auch das weiß ich«, erwiderte Friederike. »Und dass er sie ›Surplus Weight Woman‹ nannte.«

»Eine reichlich geschmacklose Anspielung auf ›Fat Man‹ …«, presste Seiji hervor.

»… die damals Nagasaki zerstört hat. Ist mir bekannt, vor allem aber ist die Bezeichnung misogyn.« Friederike klatschte beide Handflächen auf den Schreibtisch zwischen ihnen. »Wie auch immer, ich brauche dich und deinen Ballon, weil Helis, Jetpacks et cetera nutzlos sind und ich sicher nicht den ganzen Weg hinaufklettern werde.«

»Spring meinetwegen mit dem Fallschirm ab. Ich werde mich von dem Gebiet jedenfalls fernhalten.« Seiji zögerte. »Es gibt Gerüchte, dass das Uchuujin ein Menschenfresser ist. Es soll früher eine Weile keine gegessen, aber jetzt wieder damit angefangen haben. Manche sagen gar, dass es die Seelen der Menschen frisst, um daraus Kraft zu tanken.«

Friederike schnaubte. »Ammenmärchen. Als ob jemand aus einer Zivilisation, die wenigstens ansatzweise diese Bezeichnung verdient, auch nur daran denken würde, andere fühlende Lebewesen für einen Gaumenkitzel zu ermorden. Überhaupt, ich dachte, im Buddhismus gäbe es das Konzept einer Seele nicht?«

»Das ist wohl richtig, allenfalls in einigen synkretistischen buddhistischen Sekten. Aber hier haben wir es mit der japanischen Hauptreligion zu tun: Im Shintôismus wird die Seele als eine Art Lebenskraft oder Lebensenergie betrachtet, die jedem Lebewesen innewohnt und die es ermöglicht, zu leben und zu funktionieren. Die Seele wird oft als etwas Unberühr- und Unsichtbares und Unsterbliches beschrieben, das auch nach dem Ableben des Körpers weiterbestehen kann, wobei im Zug der Ahnenverehrung die Seelen verstorbener Vorfahren zu Schutzgeistern werden. Dazu ein allgemeines Tabu im Shintôismus, das alles betrifft, was mit dem Tod zusammenhängt. Menschen und deren Seelen fressen kommt also bei Shintôisten nicht besonders gut an.«

»Bei anderen Leuten schon?«

»Bei mir jedenfalls kaum. Auch wenn es keine Seele gibt, wer will schon gefressen werden? Wohl nur einige wenige, und zu denen zähle ich nicht. Weshalb ich mich hüten werde, mich in die Nähe des Kobels zu begeben.« Weil er es sich nicht leisten konnte, potenzielle Kunden – auch wenn in diesem Fall wenig Aussicht auf ein Geschäft bestand – zu vergraulen, gab er sich Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, dass er sein Gegenüber schlicht für verrückt hielt. Verrückter als den General mit seiner Bombe. »Weshalb glaubst du, dir würde es anders ergehen als all den anderen zuvor?«

»Ganz einfach. Es hat schon lange niemand mehr versucht. Das Alien scheint sich nicht für uns zu interessieren. Die Menschen heutzutage betrachten es allenfalls als Kuriosität, sofern sie überhaupt einen Gedanken daran verschwenden. Aber ich will es nicht untersuchen, nicht überwältigen und nicht begaffen, ich werde mit dem Alien reden.«

»Reden?«

»Reden.« Das Alien sieht weit menschenähnlicher aus als Kraken, dachte sie. Ein Rumpf mit zwei Armen und zwei Beinen statt vier Tentakelpaaren am Kopf, Nase statt Hornschnabel.

»M-hm. Großartiges Konzept. Allerdings schätze ich, dass man mit manchen Leuten nicht reden kann, und ich bin fast sicher, dass das Uchuujin dazu gehört. Gut, aber was veranlasst dich zu der Annahme, mich dazu bewegen zu können, dich dorthin zu begleiten?«

»Wirf einen Blick auf deinen Account.«

Seiji starrte sie kurz verwirrt an, dann wurde sein Blick glasig und er öffnete mit ein paar raschen Augenbewegungen sein Konto. Erstaunt stellte er fest, dass der auf seine Netzhaut projizierte Wert einen Euyen-Betrag mit unübersichtlich vielen Nullen aufwies, lediglich im hinteren Bereich einige abweichende Ziffern, die auf den ursprünglichen Kontostand zurückzuführen waren. Nun sah er Friederike wieder an. »Wann geht es los?«, fragte er lakonisch.

*

Die weißen Schutzanzüge machten sie zwischen den grauen, schneegefleckten Felsen nahezu unsichtbar. »Hier sieht es nicht gerade wie im Umland Kumamotos aus«, bemerkte Seiji. »Trostlos. Erst recht ohne Augmentierung.« Die Worte abgehackt, keuchend. Der beschwerliche Anstieg machte ihnen zu schaffen.

»Wir sind auch nicht zum Sightseeing hier«, fuhr Friederike ihn an. »Aber daran, dass die Augmentierung ausfällt, habe ich nicht gedacht. Ich fühle mich beinahe wie blind.«

»Duftet es nach Ingwer?«

»Sicher nicht. Selbst wenn, die Anzüge sind dicht. Obwohl, ich meine auch, dass es seltsam riecht, metallisch. Nein, das kann nicht sein. Pure Einbildung.«

Endlich standen sie am Fuß des Kobels. Eine silbrige Birne, die kopfüber mit dem Stielende in den Boden eingegraben schien. Die Oberfläche war alles andere als glatt, ein organisches räumliches Muster wie von einem Blutadergeflecht, zahllose ineinander verwobene Äste und Zweige.

»Was nun?«, fragte Seiji. »Ich sehe keine Türklingel.«

Ehe Friederike reagieren konnte, öffnete sich im Rumpf ein kreisrundes Loch, wuchs und wuchs, bis sich darin eine purpurne Erscheinung in voller Größe zeigte, die anscheinend nackten Füße in Höhe ihrer Köpfe.

Die Gestalt, über vier Meter groß mit einem gewaltigen Schädel, gegen den der Rumpf verkümmert schien, beugte sich zu den beiden Besuchern hinunter; sie trug neben einem an antike Kopfhörer erinnernden Artefakt, das sie um den Hals gelegt hatte und das umso deplatzierter wirkte, da keine erkennbaren Ohrmuscheln vorhanden waren, nichts als einen Bikini. Der Heimatplanet des Aliens musste deutlich kälter sein als die Erde, vermutlich auch mit wesentlich sauerstoffärmerer Atmosphäre, wenn es ausgerechnet hier leben wollte, obwohl der eigentliche Grund die Nähe zu seinem abgestürzten Kobel sein mochte, den es nicht aufgeben wollte.

Das Wesen sah die beiden einen Augenblick lang an, dann wandte es sich um und verschwand im Inneren.

Die Öffnung blieb. »Ist das eine Einladung?«, fragte Friederike, um sich gleich selbst euphorisch zu antworten »Das ist eine Einladung!« Sie trat dicht an den Kobel und versuchte sich hochzuziehen. Seiji seufzte, verschränkte die Finger zur Räuberleiter und bückte sich neben ihr. Sie stellte einen Fuß auf seine Hände, zog sich halb hoch, halb ließ sie sich schieben. Kniend zerrte sie an Seiji, der gesprungen war und sich wie über den Beckenrand eines Pools in die Öffnung gewuchtet hatte, zunächst ein Knie, dann das zweite über den Rand schob.

Hinter dem Eingang saß in einem hell erleuchteten Raum, oder eher einer Halle, im Schneidersitz auf einem Wattehügel wie auf einer Wolke die purpurne Gestalt, Rillen im Gesicht als wäre es ein Zen-Garten, ein Sandkasten, in den jemand meditative Muster gerecht hatte. Die Furchen schienen allesamt zum Mund zu laufen.

Das Alien betrachtete einen Gegenstand von der Größe einer Schokoladentafel in seiner Hand, der an ein altmodisches Telefon erinnerte, und starrte auf die Schrift darauf, die wie Runen aussah, dazwischen ein bisschen Griechisch und Gekrakel, das Glyphen oder Silben darstellen mochte oder nur eine Kritzelei. »Ich liebe diese alten Bücher«, murmelte es. »Das Aussehen, die Haptik, der Geruch … ganz anders als dieses ungreifbare neumodische –« Es unterbrach sich. Offenbar war es gewohnt, Selbstgespräche zu führen, doch es schien ihm gerade erst bewusst geworden zu sein, dass es derzeit nicht mehr allein war.

Friederike starrte das Wesen stumm an.

Seijis Blick wanderte zwischen ihr und dem Uchuujin hin und her. Hatte sie nicht reden wollen? Jetzt verhielt sie sich beinahe wie ein Opossum in Gefahr, fehlte nur, dass sie sich auf den Boden fallen ließ, um sich vollends totzustellen. Dann musste er wohl das Reden übernehmen. »Verzeih unser Eindringen, Murasakihada-san«, sagte er also, erstaunt über seine eigenen Worte. Das Höflichkeits-Suffix hatte er seit seiner Kindheit kaum mehr gehört, geschweige denn gebraucht, aber in diesem Fall schien es ihm angemessen. Neben dem Uchuujin stand eine Glasschale mit teils gelb-orangen, teils weißen, glibberig aussehenden Klumpen. Onsen-Eier? Die nächste heiße Quelle war wohl nicht weit entfernt, doch wie sollte ein Uchuujin in dieser Gegend an Vogel-Ova kommen? »Ich hoffe, die Gerüchte, du würdest Menschen essen, erweisen sich als unwahr.« Seiji biss sich auf die Unterlippe. Wie dumm musste er sein, derartiges in solch einer Situation zu sagen?

Das Alien blickte ihn an, mit seinen grünen Augen, die unergründlich schienen. Es schwieg eine Weile, als ob es überlegte, was es sagen sollte. Dann griff es mit der dreifingrigen Hand zwei der glitschigen Eier, schob sie sich in den Mund, bewegte Kiefer und Wangen wie ein Weinverkoster und schluckte. Schließlich antwortete es: »Ich liebe Menschen, wie ich alle Tiere liebe, und esse Menschen, weil es meine Art ist. Ich bin ein Außerirdischer und habe andere Gewohnheiten als ihr. Aber ich tue es nicht, um böse zu sein. Ich tue es, weil ich es muss.«

Seiji war verblüfft. Er hatte nicht damit gerechnet, dass das Uchuujin es unverblümt gestehen und doch eine so simple Erklärung haben würde. »Aber warum musst du Menschen essen?«, fragte er. »Es gibt doch genug andere Dinge, von denen du dich ernähren könntest.«

Das Alien seufzte. »Es ist schwer zu erklären«, sagte es. »Ihr Menschen habt eine andere Art zu leben als wir. Ihr ernährt euch anders, ihr habt andere Gewohnheiten und ihr seid auf andere Weise miteinander verbunden. Aber wir Außerirdischen sind nicht wie ihr. Wir haben unsere eigenen Bräuche und unsere eigene Art, die Welt zu verstehen. Es gibt Dinge, die für uns wichtig sind, die euch vielleicht sinnlos erscheinen mögen. Das Essen von Menschen ist so eine Sache. Es mag für euch abstoßend sein, aber für uns ist es ein Teil unserer Kultur und unseres Lebens.«

Seiji dachte über das, was das Alien gesagt hatte, nach. Er konnte nicht leugnen, dass es einen gewissen Sinn ergab, und fragte sich, ob es möglich war, dass es Dinge gab, die er nicht verstehen konnte, weil er ein Mensch war und die Welt auf eine andere Art wahrnahm. »Murasakihada empfindet womöglich Kuchisabishii«, flüsterte er Friederike zu, die noch immer reglos dastand. Als sie nicht antwortete, fuhr er fort: »Das Gefühl, etwas essen zu wollen, ohne hungrig zu sein. In diesem hilflosen Zustand isst man, gegen seinen eigenen Willen; was soll man schon tun, wenn der Mund sich einsam fühlt?« Doch dann kam ihm ein Gedanke. Laut sagte er: »Dort, wo du herkommst, gibt es keine Menschen, oder?«

»Nein, natürlich nicht.« Eine Mischung aus Verwunderung und Amüsement ließ sich fast zu deutlich der Stimme des Uchuujin entnehmen. »Ihr könnt euch kaum Lichtminuten von der Erde entfernen, geschweige denn Hunderte von Lichtjahren. Weshalb fragst du?«

»Was esst ihr dann in deiner Heimat? Wie kann das Essen von Menschen ein Teil eurer Kultur und eures Lebens sein, wenn auf eurer Welt keine existieren?«

War das ein Grinsen auf dem lippenlosen lila Mund? »Na schön, du hast mich ertappt. Auf meiner Welt würde ich dafür als Soziopath mit geringer Empathiefähigkeit und fehlendem Schuldbewusstsein betrachtet, aber für mich ist es ein entscheidender Teil meiner Kultur und meines Lebens.«

Endlich regte sich Friederike, doch sie wandte sich Seiji zu. »Sie spricht Deutsch«, flüsterte sie. »Wie kann das sein? Und wieso verstehst du, was sie sagt? Du kannst Deutsch?«

Seiji sah sie erstaunt an. »Das einzige deutsche Wort, das ich kenne, ist ›Blitzkrieg‹«, widersprach er. »Das«, ergänzte er und wies mit dem Kopf auf das Alien, »ist Japanisch.«

»Weder noch«, warf das Alien ein. Es blickte Friederike scharf an. »Aber hast du gerade ein weibliches Pronomen für mich verwendet?«

»Ich … ja … ich dachte …«, stammelte Friederike.

»Weshalb hast du angenommen, dass ich weiblich sei? Weil meine Anatomie ähnliche sekundäre Geschlechtsmerkmale aufweist wie die von Menschenweibchen? Wegen meiner Hautfarbe? Weil ich Eier lege?«

»Ich wusste nicht –«

Das Alien unterbrach sie rüde: »›Mancher gibt sich viele Müh / Mit dem lieben Federvieh: / Einesteils der Eier wegen, / Welche diese Vögel legen, / Zweitens, weil man dann und wann / Einen Braten essen kann; / Drittens aber nimmt man auch / Ihre Federn zum Gebrauch / In die Kissen und die Pfühle, / Denn man liegt nicht gerne kühle. / Seht, da ist die Witwe Bolte, / Die das auch nicht gerne wollte. / Ihrer Hühner waren drei / Und ein stolzer Hahn dabei.‹«

»Was soll das?«, fragte Seiji.

»Wilhelm Busch«, antwortete Friederike. »Verse aus ›Max und Moritz‹. Ich fasse es nicht …« Offenbar zeigte das Alien mehr Interesse an der Menschheit als erwartet.

»›Jedes legt noch schnell ein Ei, / Und dann kommt der Tod herbei.‹ Jedes legt ein Ei. Jedes. Selbst der Hahn. Wenn auch ein in der Illustration dazu verkümmert erscheinendes … Aber weshalb sollte ein Hahn keine Eier legen?«

»Weil –«, setzte Seiji an.

»Bei meiner Spezies gibt es kein zweites Geschlecht mehr«, unterbrach das Alien. »Um die genetische Vielfalt zu erhalten, für die ihr die Vermischung der Gene zweier Individuen benötigt, genügen bei uns Mutationen durch die natürliche Radioaktivität meiner Heimat.«

»Großartig«, bemerkte Seiji. »Aber können wir wieder auf das eigentliche Problem zurückkommen?«

»Problem?« Der verdutzte Blick ließ das Alien noch menschlicher wirken.

»Deine … Essgewohnheiten. Unter diesen Umständen wollen wir hier nicht länger stören.« Langsam wich er zurück.

»Oh. Gut, dass du mich erinnerst.« Das Alien hob sein Buch hoch. »Ich habe hier ein altes Rezept gefunden, das köstlich klingt. Die Hülsenfrüchte darin lassen sich sicherlich gut ersetzen.«

Nun drehte Seiji sich um und rannte zum Eingang – vielmehr dahin, wo der Eingang sich befunden hatte. Nun war dort lediglich ein Gewirr aus verschlungenen, silbrigglänzenden Verästelungen, das sich in nichts von den anderen Wänden unterschied. Vergeblich tastete er nach einer Ritze oder Öffnung. Was aussah wie verchromtes Metall, fühlte sich weich und schlüpfrig an wie feuchte Gummischläuche oder Tintenfischarme. »Konoyarou«, stieß er aus.

Wieder schien das Uchuujin zu grinsen. »Wie heißt es so schön, bleibt doch noch zum Essen.«

Seiji presste sich gegen die Wand, als wolle er darin versinken. Friederike sank auf die Knie und begann, unverständlich zu lallen.

Das Alien sah nun auch sie irritiert an. »Du stammst nicht aus dieser Gegend«, stellte es fest. »Schmeckst du anders?«


18 Kommentare

  1. Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.

    AntwortenLöschen
  2. Das ist eine verblüffende Geschichte, auf eine schöne Art absurd. Mir gefallen die Anspielungen auf japanische Kunst und Kultur und das Ende. ❄️❄️❄️❄️

    AntwortenLöschen
  3. Großartig detaillierte Geschichte, trotzdem strugatskisch vage, etwas, das mich meist aus dem Stand fesselt. Ein bisschen habe ich Angst, dass das der KI-Text ist, aber er ist für mich bisher das Highlight. Fünf Sterne.

    AntwortenLöschen
  4. Story ****
    Stil ***
    Originalität *****

    Gesamt 4 von 5 Sternen

    AntwortenLöschen
  5. Subtile Grausamkeit! Anfangs kam ich mit den Namen durcheinander, bis ich kapierte, dass Uchuujin und Murasakihada das selbe Wesen hier benennen. Humorvoll bei Wilhelm Busch und an Ende springt das Kopfkino mit Schaudern an. Die Illustration "Der Traum der Fischersfrau" ist einfach nur atemberaubend schön. Da ich öfter hochscrollen musste um bei den Namen durchzublicken, nur vier Sterne von fünf. ****

    AntwortenLöschen
  6. Schön grausig und angenehm zu verstehen.
    Vier von fünf.

    AntwortenLöschen
  7. Sehr guter Aufbau der Geschichte: Story - Rückblende - Story. Alles gut miteinander verknüpft und angenehm zu lesen.

    Man wird hier mit interessanten Fakten zur japanischen Kultur konfrontiert. Ich neige dazu, selbst nachzurecherchieren, wenn mir in einem Buch so detailgetreue Fakten vorgesetzt werden. Und siehe da: Wenig überraschend ist alles absolut detailgetreu recherchiert.

    Was mir ein bisschen fehlt ist der Hintergrund der Protagonisten. Wer ist Seiji, was macht er? Seine einzige Eigenschaft, die beschrieben ist, ist seine Korruptheit, womit zumindest Seine Motivation erklärt wird. Noch weniger erfährt man über Friederike. Was ist ihre Motivation? Woher hat sie das ganze Geld? Wie sind Seiji und Friederike miteinander verstrickt? Warum gibt sie genau IHM soviel Geld für eine Heißluftballonfahrt? Warum eigentlich hat Seiji einen Heißluftballon und was macht er sonst damit?
    Die Geschichte hat 2822 Wörter, es wäre also noch mehr als genug Platz dagewesen, hier ein bisschen mehr ins Detail zu gehen.

    Die beiden Bilder wurden so detailgetreu eingepflegt, dass man davon ausgehen kann, dass zuerst die Bilder da waren, und dann erst die Geschichte kam. Also nehme ich an, dass die Geschichte speziell für diesen Wettbewerb geschrieben wurde. Sowas gibt natürlich Pluspunkte ;)

    Jetzt lese ich diese Geschichte und denke mir: "Wow, ist die gut ... die bewegt sich grade im Laufschritt auf die volle Punktzahl zu,

    Doch dann auf einmal ...

    In dem Moment , in dem das Alien endlich ins Spiel kam, wird alles plötzlich so unglaublich surreal. Ich mein was soll das? So eine toller Einstieg, und dann endet das ganze in einem Dialog, in dem das Alien den Menschen erklärt, warum es sie gerne fressen würde. Logiklöcher (wie kann das Menschenfressen zu deiner Kultur gehören, wenn es auf deinem Planeten keine Menschen gibt) werden erkannt, werden aber mit aus der Luft gezauberten Scheinerklärungen gefüllt (na gut, dann bin ich wohl ein Psychopath).

    Echt schade um den wirklich gelungenen Einstieg in die Geschichte

    Um zu verdeutlichen, wie sehr mir der Anfang der Geschichte gefallen, und wie sehr mich ihr Ende enttäuscht hat, mach ich ausnahmsweise mal eine Detailbewertung:

    Bis zum Treffen mit dem Alien: 4,5 von 5 Sternen
    Ab dem Treffen mit dem Alien: 1,5 von 5 Sternen

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Gesamtbewertung wäre demnach: 3 von 5 Sternen

      Löschen
    2. Dass das Alien so fadenscheinig argumentiert, liegt am Titel der Geschichte.

      "Kuchisabishii" kommt aus dem japanischen und bedeutet so viel wie: Keinen Hunger haben, aber trotzdem etwas essen, weil der Mund sich einsam anfühlt.

      Das Alien ist mehr als einsam und frisst sogar seine eigenen Eier, wenn ich das richtig verstanden habe. Die Menschen sind ihm eine willkommene kulinarische Abwechslung. Es geht hier um Essen ohne Verstand und nur weil es da ist. Vielleicht auch ein bisschen darum, wie sich Fleisch fühlt, wenn es verzehrt werden soll. Ich denke, wenn Du diesen Aspekt mit einbeziehst, könnte die zweite Hälfte verständlicher sein, oder?

      Löschen
    3. Ich sehe mich nach deiner Erklärung und einem nochmaligen Durchlesen der Geschichte dazu veranlasst zuzugeben, dass ich die Botschaft nicht verstanden habe und meine schlechte Bewertung des zweiten Teils dieser Geschichte diesem Umstand geschuldet ist.

      Nun wäre ich durchaus geneigt, die Punktezahle zu erhöhen. Aber da gibt es noch mehrere Geschichten hier, die ich nicht gut bewertet habe, bei denen es auch sein könnte, dass ich einfach die Botschaft nicht verstanden hab. Das wäre dann unfair diesen Geschichten gegenüber.

      Ich bleibe deshalb bei meiner Bewertung. Es soll ja bewertet werden, wie die GESCHICHTE bei mir ankommt, nicht wie es die ERKLÄRUNG tut ;)

      Der/Die Autor:in darf sich allerdings nun gewiss sein: Meine schlechte Bewertung ist nicht seinem Können geschuldet. Ich bin ihm/ihr lediglich intellektuell unterlegen

      Löschen
    4. Aua. Ich hoffe, ich habe Dich nicht verletzt. Das war nämlich nicht meine Absicht. Eher die Diskussion über die Geschichten war der Anlass meines Kommentars. Ich denke aber, dass manche Geschichten eine kurze Erklärung verdienen. Das wird wohl auch bei den Schreibenden angekommen sein.

      Also nochmal, Entschuldige, wenn ich Dich da auf dem falschen Fuß erwischt habe.

      Löschen
    5. Upps, hab das erst jetzt gelesen ... da haben wir ja mittlerweile eh schon zigmal miteinander telefoniert, also wirst du sicher schon bemerkt haben, dass du mich NICHT verletzt hast. Im Gegenteil.
      Ich bin selbstbewusst (und wissbegierig) genug, dass ich mich freue, wenn mir jemand etwas erklärt, was ich nicht verstanden habe. Verletzen tut mich sowas niemals nicht :)

      Löschen
  8. 3 von 5 weil etwas verwirrend. Das mag an den Namen gelegen haben. Gut geschrieben. Handwerklich Klasse. Mir erschließt sich nicht alles logisch genug.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Japaner heißen eben wie Japaner ?!? Aber jeder so, wie er meint. Ich habe alle Storys sehr lieb gewonnen. Jeder hat hier auf seine Art ein großes Talent.
      ich bin schon so gespannt auf alle Reaktionen nach dem 1.3.23

      Löschen
  9. Bei dieser Geschichte wäre der Hinweis "NICHT JUGENDFREI!" dringend nötig gewesen. Schon auf halber Strecke eskaliert das Ganze in einen Tentakelporno. Mag sein, dass das Bild korrekt beschrieben wird, aber der Autor hätte nicht zu sehr in die anatomischen Details gehen müssen. So fühle ich mich an die dritte Staffel von "The Boys" erinnert, in der The Deep mit einem Oktopus...

    Der Rest ist wiederum durchaus interessant, weist allerdings einige Logiklücken auf. Seiji weigert sich erst, ins Sperrgebiet zu gehen, weil er glaubt, dass das Alien Menschen frisst. Für eine entsprechend hohe Summe springt er dann aber freiwillig auf den Teller. Das Alien argumentiert derweil, dass es Menschen essen muss, was glatt gelogen ist. Es gibt sogar zu, dass seine Spezies auf der Heimatwelt keine Menschen isst, weil es diese dort schlichtweg nicht gibt.

    Schlussendlich outet sich das Wesen plötzlich als Soziopath, der gerade Bock auf Menschen hat. Irgendwie muss ich dabei an Lamas mit Hüten denken. Hat das Lama halt Bock auf Hände ... oder frittierte Gesichter. Warum auch nicht? Als grotesker Humor würde das sicherlich gut funktionieren, aber leider verliert die Geschichte dadurch ihre Ernsthaftigkeit. Was kein Problem wäre, wenn sie gleich von Beginn an als verrückte Komödie geschrieben worden wäre.

    Wenn die Geschichte etwas konsequenter in einem Stil durchgezogen worden wäre, könnte ich mehr Sterne vergeben. Für die an sich gute Grundidee vergeben ich noch 2,5.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Das Gemälde: Der Traum der Fischersfrau ist Kunst und kein Tentakelporno. Deshalb erscheint auch keine Pornowarnung. Gern kannst Du über das Kunstwerk hier nachlesen: https://www.meisterdrucke.de/kunstdrucke/Katsushika-Hokusai/32282/Der-Traum-der-Fischersfrau.html

      Löschen
  10. Sehr interessant. Etwas unangenehm an einigen Stellen aber das soll Literatur ja mitunter sein. Haben Kraken Schnäbel?
    Insgesamt 3,5 Sterne weil irgendwie groß und toll, aber mir wird nicht alles klar vor allem die Beweggründe der Figuren.

    AntwortenLöschen
  11. Aufregend und fast zu detailreich an einigen Stellen. Wilhelm Busch und die Fischersfrau haben mich eher aus der Story herausgebracht, weil ich mich dann gedanklich von der Geschichte entfernt habe. Das mag dazu beigetragen haben, dass ich sie zweimal lesen musste und immer noch nicht sicher bin, ob ich sie verstanden haben. Die Atmosphäre ist fesselnd. Möglicherweise bin ich nicht klug genug. 3/5 Sterne.

    AntwortenLöschen

نموذج الاتصال