Leseprobe ROSE BUSH - Ein Hauch von Sandelholz


ROSE BUSH 
Ein Hauch von Sandelholz




 
Ein Sommertag in Colmar

Anja betrat die Terrasse des idyllischen Cafés am Kanal und ging zielstrebig auf den für sie stets reservierten Platz zu. Von den vollbesetzten Tischen folgten ihr viele bewundernde Blicke, denn in ihrem farbenfrohen Sommerkleid, auf dessen Rock Schmetterlinge um knallrote Rosen tanzten, war sie eine auffällige Erscheinung. Ihr ausladender Sommerhut und die übergroße Dior Sonnenbrille ließen sie aus der Masse herausstechen. 

Bevor sie sich setzte, schob sie den Stuhl näher an das Geländer, um einen besseren Blick auf das Wasser zu haben. Die Sonne schien gleißend vom Himmel an diesem letzten Donnerstag im Juli. Sie hob ihr Gesicht und genoss die wärmenden Strahlen.

»Guten Morgen Frau Gerlach, schön, Sie zu sehen. Bitte sehr, Ihr Kaffee und das Eclair. Ganz frisch.« Die Kellnerin, die Deutsch mit französischem Akzent sprach, stellte beides behutsam auf den Tisch.

»Vielen Dank, Geraldine.« Anja lächelte ihr zu. Geraldine - der Name gefiel ihr und sie nutzte jede Gelegenheit, ihn auszusprechen. »Bei Ihrer tollen Figur essen Sie sicher kein Eclair, oder?«

»Oh doch! Ich nehme mir jeden Abend einige mit, wenn welche übrigbleiben. Meistens zwei, manchmal aber auch drei.«

»Wirklich? Das hätte ich nicht gedacht. Machen Sie viel Sport, oder wie schaffen Sie es, dabei so schlank zu bleiben?«

»Nein, nicht viel. Ich jogge morgens eine halbe Stunde, dann habe ich Pilates, zweimal die Woche gehe ich schwimmen und einmal in die Kletterhalle.«

»Und das nennen Sie nicht viel? Haha, ich gehe einmal in der Woche zum Yoga, wenn ich denn tatsächlich hingehe. Vielleicht sollte ich es mal mit Pilates versuchen.«

Ein älterer Herr hob die Hand und signalisierte Geraldine, dass er zahlen wollte.

»Entschuldigung, ich muss kassieren. Bis später.«

»Ja, bis später. Vielen Dank.«

Wie alt das Pärchen wohl ist?, dachte Anja und schaute verträumt zu den beiden Alten rüber, die wie eine verschmolzene Einheit auf sie wirkten, die nichts auseinanderbringen kann. Es erinnerte sie an Björns Versprechen, dass sie im Alter regelmäßig in Cafés gehen und anschließend im Park die Enten füttern würden. Dieses alte Paar erinnerte sie an jenen Traum, der für sie schon seit Jahren ausgeträumt war. Ihre Ehe hatte die besten Zeiten hinter sich und sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich die Scheidung noch lange hinauszögern ließ. Keine Zärtlichkeiten oder Umarmungen mehr, nicht einmal ein paar nette Worte hatte es in der letzten Zeit zwischen ihr und Björn gegeben. Wenn einer von ihnen einen Annäherungsversuch unternommen hatte, war das spätestens nach ein paar Minuten in einen ausgewachsenen Streit wegen Nichtigkeiten übergegangen.

Sie schaute nachdenklich auf den Kanal und ließ das Ambiente auf sich wirken. Immer donnerstags besuchte sie dieses Café, von dessen Sitzplätzen aus man das Gefühl hatte, man könne seine Hand leicht in das sonnengewärmte Wasser des Kanals halten. La Petite Venice ›Das Kleine Venedig‹, hieß dieses zauberhafte Fleckchen Erde. Eine beschauliche Menge bunt zusammengewürfelter Fachwerkhäuser, schmaler Brücken und ein prächtiges Blütenmeer machten diesen Ort für Anja zum romantischsten, den sie kannte. Einen besseren Platz hätte sie sich zum Schreiben ihrer Bücher nicht aussuchen können, auch wenn drei Monate eine sehr lange Zeit waren und ihr die Kinder schrecklich fehlten. Was wäre sie für eine Mutter, wenn dem nicht so wäre? Auch wenn die Sommermonate dadurch einen bitteren Beigeschmack hatten, fühlte es sich richtig an, die Zeit hier zu verbringen. Allein, ohne ihre Familie und vor allen Dingen … ohne Streit.

Sie setzte ihren Hut ab und legte ihn auf den Stuhl neben sich. Sie roch an ihrem Kaffee, trank einen Schluck, schloss für einen Moment die Augen und dachte an die letzten Jahre zurück. Ihrer Ehe mit Björn war das gleiche Schicksal beschieden, wie so vielen Paaren. Im Laufe der Zeit war genau das passiert, was sie sich nie hätte vorstellen können: Die einst so große, unendliche Liebe war in Gleichgültigkeit umgeschlagen.

Trotzdem hatte Björn zu ihrer Verwunderung auf einer Paartherapie bestanden. Auch, wenn sie die Idee zuerst absurd gefunden hatte, war sie mitgegangen, obwohl sie sich sicher gewesen war, nichts zum Scheitern ihrer Beziehung beigetragen zu haben. Björn allein war für all ihre Probleme verantwortlich. Nach und nach hatte sie dann aber erkennen müssen, dass sie mindestens genauso viel Schuld daran trug wie er. Die Therapeutin hatte das nie ausgesprochen, trotzdem war es ihr gelungen, sie zu diesem Eingeständnis zu bringen. Das Schreiben stand für Anja an erster Stelle. Dadurch war es ihr entgangen, dass sie sich immer weniger am Familienleben beteiligt hatte. Ihre Kinder und Björn waren zu Randfiguren in ihrem Leben geworden. Sie waren daher übereingekommen, dass es erstmal keine Scheidung, sondern nur einen Abschied auf Zeit geben sollte. Nichts Endgültiges, man wollte abwarten, ob ihre Beziehung nach einer räumlichen Trennung eine zweite Chance hatte. Nach einigem Hin und Her hatten sie sich darauf geeinigt, dass sie während der drei Sommermonate das gemeinsame Haus verlassen würde. Gleich der erste Sommer trug Früchte und tat der Familienharmonie gut. Bereits in den ersten Tagen hatte sie zu ihrer eigenen Verwunderung gespürt, wie sehr sie ihre Familie vermisste. Das Getrappel der Kinderfüße ihrer kleinen Erstklässlerin Miriam, ihre vielen, nicht enden wollenden Fragen, Marcs neunmalkluge Sprüche, sogar die Zankereien mit Björn fehlten ihr. Auf der anderen Seite schätzte sie die unbegrenzte Zeit, die ihr zum Schreiben zur Verfügung stand und die Ruhe, die herrliche Ruhe. Abgesehen von gelegentlichen Wochenendbesuchen blieb sie allein in Colmar und konnte sich ihre Zeit frei einteilen. Rabenmutter, Egoistin – sie konnte sich vorstellen, dass die Leute so über sie dachten, denn genau so fühlte sie sich oft. Dann versuchte sie sich davon zu überzeugen, dass in ihrer kleinen Familie die Rollen eben vertauscht waren. Sie verdiente mit ihrem Schreiben das Geld, wofür sie einen langen und steinigen Weg hatte gehen müssen. Das war der Preis für den Durchbruch, der erst kurz vor Marcs Geburt gekommen war. Hochschwanger - im achten Monat – hatte sie mit zitternden Fingern den Brief eines großen Publikumsverlags geöffnet und fing sofort an, vor Freude zu jubeln, obwohl sie nur die eine Zeile erfasst hatte: Wir würden uns freuen, mit Ihnen zusammen … Mehr hatte sie damals nicht lesen können. Man wollte sie kennenlernen, um sie unter Vertrag zu nehmen. Auch wenn sie mit ihrem dicken Bauch kaum hinter das Steuer gepasst hatte, war sie zum Verlag gefahren und alles war so verlaufen, wie sie es sich erträumt hatte. Mit dem unterschriebenen Vertrag in der Hand war sie singend und überglücklich nach Hause gefahren. Wer hätte damals ahnen können, dass sie im Anschluss einen Bestseller nach dem anderen schreiben würde? Außer ihrer Lektorin und Björn hatte es vorher niemanden gegeben, der an sie geglaubt und sie unterstützt hatte. Alles hatte sie selbst in die Hand nehmen müssen. Die eigenständige Veröffentlichung und Vermarktung ihrer Bücher hatte sich als komplizierter Lernprozess herausgestellt, bei dem sie immer wieder von unerwarteten und negativen Erfahrungen ausgebremst worden war. Außerdem fand sie es schrecklich demütigend, betteln zu müssen, wenn es darum ging, Lesungen zu organisieren oder die eine oder andere Buchhandlung dafür zu gewinnen, ihren Roman sichtbar auszulegen. Immerhin hatten sich ihre Anstrengungen so weit ausgezahlt, dass sie bei Vertragsabschluss mit dem Verlag genügend fertige Manuskripte und eine eingeschworene Fanbase vorweisen konnte.

* * *

Nun saß sie also wieder hier an ihrem Lieblingsplatz, das orangene Notizbuch und ihren Bleistift bereitgelegt und wartete auf Inspiration. Für gewöhnlich ließ diese nicht lange auf sich warten. Oft strömten die Worte schon aus ihr heraus, bevor sie das erste Stück ihres Eclair abgebissen hatte. Wie viel kalt gewordener Kaffee in den letzten Sommern unberührt zurückgegangen war, ließ sich kaum schätzen. Geraldine war geschickt darin, ihre Tasse von Zeit zu Zeit durch eine frische zu ersetzen.

Auch heute lief es wie an allen vergangenen Donnerstagen, denn auf Inspiration musste sie in diesem Café nicht lange warten. Anja beobachtete zwei Tauben beim Turteln, woraufhin ihr sofort eine Idee für ihr aktuelles Buch ›Ein Frühlingstag in Venedig‹ kam. Sie stenografierte in ihr Notizbuch. Sie liebte diese beinahe in Vergessenheit geratene Kurzschrift, weil sie dazu keines dieser furchtbaren Smartphones brauchte. Sie bevorzugte die klassischen Methoden des Schreibens, ihr einziges Zugeständnis an die Technik war ein federleichtes Laptop, welches sie ausschließlich zu Hause und in der Ferienwohnung benutzte. Immer online und erreichbar sein wollte sie auf keinen Fall. Deshalb besaß sie, als vermutlich letzter Mensch auf Erden, kein Mobiltelefon.

In einem Interview zu ihrem letzten Roman ›Taxi nach Rom‹ hatte der Reporter wissen wollen, warum sie am liebsten in Colmar schrieb. Anja hatte sich auf viele und eben auch auf diese Frage vorbereitet, denn ihr Privatleben sollte privat bleiben, ihre Antwort trotzdem spontan klingen, obwohl sie von Anfang bis Ende auswendig gelernt war: »Meine Schwester Birgit hat sich vor sechs Jahren hier eine Wohnung gekauft, weil sie kurz vor einem Burnout stand. Einen Telefonanschluss und das Internet konnte sie in solchen Krisen nicht gebrauchen. Es gibt noch nicht einmal ein Küchenradio, geschweige denn einen Fernseher. Als ich sie kurz nach der Renovierung zur Wohnungseinweihung besuchte, stellte ich fest, dass ich dort an einem Tag über zwanzig Seiten schreiben konnte und diese im Nachhinein auch nur geringfügig überarbeiten musste. Wer meine Bücher kennt, weiß, dass ich in den vergangenen zwei Sommern jeweils einen kompletten Roman fertiggestellt habe. Dies verdanke ich unter anderem meiner Schwester, die mir diesen herrlichen Platz der Ruhe zur Verfügung stellt, sooft ich ihn benötige.«

Anfang Juli schrieb sie gewohnheitsgemäß spärlich, dafür gefiel ihr das wenige, was sie in dieser Zeit zu Papier brachte, umso besser, denn die einzige Unterbrechung ihrer geschätzten Ruhe war die Musik. Jeden Sommer, wenige Tage vor dem französischen Nationalfeiertag am 14. Juli, fand das Klassik-Festival in Colmar statt. Sie konnte es kaum erwarten, das Russische National-Orchester unter der Leitung von Vladimir Spiwakow zu hören. Die komplett ausgebuchten Konzerte zu besuchen, füllte ihre Lebensenergie auf magische Weise auf. Außerdem war es eine der Gelegenheiten, zu denen sie sich hübsch machen konnte. Während sie im Alltag fast ausschließlich Jeans und T-Shirt oder Pullover trug, gehörte ein besonderes Outfit zum Besuch eines Klassikkonzerts oder der Oper. Sie fand es traurig, dass manche dort in ihrer Straßenkleidung, ja sogar in Jogginghosen, erschienen. Für sie kam das nicht infrage, sie liebte die elegante Abendgarderobe, wie das diesjährige hellblaue Kleid, das zu ihren roten Haaren und den Sommersprossen hervorragend passte. 

Sie verstand ein wenig Russisch, da ihr Vater – in der DDR aufgewachsen – während seines Lehramtsstudiums unter anderem Russisch gelernt und es ihr später beigebracht hatte. Neben der Sprache hatte ihr Vater ihr die Kultur der Russen nähergebracht. Die Menschen, die ihre Eltern in Anjas Kindheit besucht hatten, waren herzliche Leute wie du und ich gewesen. Anja hatte damals mit dem Eisernen Vorhang wenig verbinden können und hoffte bei dessen Fall, dass es nie wieder zu einem Krieg zwischen europäischen Völkern kommen würde. Sie war der Ansicht, dass ihr Vater ein weiser Mann war, der ihr unter anderem beibrachte, dass Kriege von Führern und deren Propaganda gemacht wurden.

Bei jedem Konzertbesuch hielt sie ihr Notizbuch griffbereit und schrieb in den Pausen die eine oder andere Steno-Zeile. Klassische Musik, gespielt in einem Konzertsaal, hatte sogar schon so manche Schreibblockaden bei ihr gelöst. 

* * *

Jetzt saß sie wieder in dem kleinen Café und notierte die bei Weitem beste Idee seit Wochen.

Im Restaurant, auf der gegenüberliegenden Seite des Kanals, beobachtete sie ein junges Paar. Er trug einen schicken taubenblauen Anzug, wirkte von Kopf bis Fuß wie aus dem Ei gepellt. Seine ordentlich frisierten Haare passten zum glattrasierten Gesicht. Er goss seiner Angebeteten Wein ein, der in einem Kühler neben dem Tisch stand. Sie saß ihm in ausgeleierten Jeans und weitem Top gegenüber und passte gar nicht zum Look des jungen Mannes. Ununterbrochen hielt sie ihr Smartphone in der Hand und tippte darauf herum. Sie schaute nicht einmal auf, als er ihr sein Glas zum Anstoßen entgegen hob. Nach wenigen Minuten war sein Glas leer und er starrte auf die Wasseroberfläche. Fragte er sich, was ihr so viel wichtiger war als ihr gemeinsames Rendezvous? Vermutlich bemerkte sie seinen Blick, machte schnell ein Foto von ihm und schrieb gleich darauf weiter in ihr Handy. Nach wenigen Sekunden kam offenbar eine Antwort, denn die junge Frau lachte laut auf, ohne den Blick vom Display zu nehmen. 

Jetzt schien es ihm zu reichen. Er stand abrupt auf. Sein Glas fiel vom Tisch und er eilte aus dem Restaurant. Erst als er fast den Ausgang erreicht hatte, blickte sie auf, sprang in die Höhe und folgte ihm Hals über Kopf.

Anja schrieb wie vom Teufel besessen auf, was sie soeben beobachtet hatte. In ihrem Buch würden die beiden italienische Namen bekommen und die Szene sollte sich in einem Café auf dem Markusplatz in Venedig abspielen. In Gedanken formulierte sie bereits, was sie später schreiben wollte.

Heute wollte Ludovico Peppina sagen, wie sehr er sie liebte, darum war dieses Treffen am heutigen Nachmittag für ihn so wichtig gewesen. Es sollte der perfekte Heiratsantrag werden, ein Moment, an den sich beide ihr Leben lang erinnern würden. Für den teuren Wein hatte er tief in die Tasche greifen müssen, für den Ring in der Hosentasche seines geliehenen Designeranzuges hatte er ein Vermögen ausgegeben. Ludovico war aufgeregt, das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er wollte cool wirken und schaute scheinbar gelangweilt über den Piazza San Marco. Wo er auch hinsah, überall waren verliebte Paare, sogar zwei gurrende Täubchen, die umeinander herumtanzten, entdeckte er. 

Plitsch! Etwas war auf ihre Schulter gefallen und hatte dabei ein paar Spritzer auf das Papier abgegeben. Ein kurzer Blick brachte Anja Gewissheit. Eine Taube hatte es sich auf dem Rand der Markise bequem gemacht, um dort ihr Geschäft zu verrichten. Ein kurzer Blick nach links und Anja wusste, dass das ein Volltreffer auf ihr schickes Kleid war.

»Mon Dieu! Frau Gerlach!« Geraldine kam mit einem Tuch angelaufen. »Das tut mir leid.«

»Ach was, Geraldine! Das schafft meine Waschmaschine schon. Ich gehe mich nur schnell umziehen.«

Geraldine stand am Tisch und drehte den Lappen in den Händen. Ein Witz wird sie aufmuntern, dachte Anja. »Zum Glück können Kühe nicht fliegen. Stellen Sie sich mal das Malheur vor.«

Es dauerte eine Sekunde, dann kehrte das Lächeln auf das Gesicht der Französin zurück. »Den kannte ich noch nicht. Haha. Kühe! Flügel!«

»Machen Sie sich keine Sorgen wegen einem bisschen Vogeldreck. Wenn uns so etwas schon aus der Fassung bringt, was sollen wir erst bei echten Problemen machen?« Anja entfernte die festen Bestandteile des Vogelkots mit einer Serviette, zögerte einen Moment, nahm dann Notizbuch und Stift auf und schrieb eilig hinein. Dabei ging sie langsam in Richtung Treppe und rief über ihre Schulter: »Wer sagt’s denn, dass Vogelscheiße Glück bringt? Ich habe gerade eine tolle Idee für meinen neuen Roman. Die muss ich sofort aufschreiben.«

»Der Kaffee und das Eclair gehen aufs Haus. Passen Sie bitte auf der Treppe auf.«

»Ja, natürlich … und vielen Dank für die Einladung.« In ihre Notizen versunken, überquerte sie, ohne nach rechts oder links zu schauen, die Straße.

»Merde!« Schlagartig wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, weil hinter ihr eine kräftige Männerstimme ertönte, der ein blechernes Scheppern folgte. Erschrocken drehte sie sich um und konnte gerade noch sehen, wie ein Mann über die Brüstung der schönen Kanalbrücke flog.

Es klatschte … eine Wasserfontäne schoss empor. Danach war alles still.

»Oh mein Gott!« Anja begriff, dass sie diesen Unfall verschuldet hatte. Den heranradelnden Mann hatte sie nicht bemerkt. Um sie nicht über den Haufen zu fahren, hatte er ausweichen müssen, weil ihm zum Bremsen keine Zeit geblieben war. 

Ach du meine Güte, was habe ich da angerichtet?

Aus dem Wasser schaute sein behelmter Kopf und er blickte zornig zu ihr hoch.

Ojeh, Ojeh. Was mache ich denn jetzt?

Sie fürchtete, dass der Mann ernsthafte Verletzungen davongetragen haben könnte. Ihr Puls raste, und sie hielt sich verkrampft am Brückengeländer fest. Tief durchatmen. Ein ... Aus ... Ein … Aus ...

In der Zwischenzeit waren Gäste des Cafés herbeigelaufen und halfen dem Mann aus dem Wasser. Anja beobachtete die Aktion über den oberen Rand ihrer Brille und stellte fest, dass der Verunglückte humpelte. Er musste sich am Knie verletzt haben, denn durch seine eingerissene Radlerhose bahnte sich Blut seinen Weg. Er bedankte sich höflich bei seinen Helfern, humpelte dann mühsam die Treppe hinauf, während er gleichzeitig eine Tirade französischer Schimpfworte auf Anja losließ.

Sie sah ihm schuldbewusst entgegen und versuchte zu lächeln. Es gelang ihr nicht. Das muss der Schock sein, dachte sie, ich stehe völlig neben mir. Sie starrte den Mann an, der ohne Unterlass auf sie einredete.

»Ist alles gut? Haben Sie sich verletzt? Lassen Sie mal sehen!« Anja hatte ihre Sprache wiedergefunden, ging auf ihn zu und zeigte auf seine zerrissene Hose über dem linken Knie. Dort war alles voller Blut.

»Aïe, ça fait mal!« Er drückte ihre Hand weg und sah sie dabei vorwurfsvoll an.

Hilflos zuckte sie mit den Schultern und ärgerte sich, dass sie viel zu wenig Französisch verstand.

»Frau Gerlach, was ist passiert?« Geraldine war zu ihnen gekommen und legte Anja die Hand auf die Schulter, ließ aber schnell wieder los, als sie bemerkte, dass sie in die Reste der Taubenscheiße gegriffen hatte.

»Der Mann, er ist plötzlich …« Weiter kam Anja nicht, da der Franzose wie ein Maschinengewehr auf sie einredete. Geraldine hörte ihm zu und antwortete, wenn er sie zu Wort kommen ließ. Wild gestikulierend zeigte er auf das alte Rennrad, das im Geländer der Brücke verkeilt war. Er beschrieb seinen Weg, den er gekommen war, deutete auf Anja und anschließend auf die Brücke. Dann schwieg er und zeigte Geraldine mit einer Handbewegung, dass sie das Gesprochene übersetzen solle.

»Er hat mir gerade erzählt, dass Sie plötzlich auf der Straße gestanden hätten – wie aus dem Nichts sollen Sie aufgetaucht sein. Er hätte noch versucht, zu bremsen, aber bei diesen alten Modellen reagieren die Bremsen erst sehr spät. Deshalb habe er nur noch ausweichen können und sei dabei über den Rand der Brücke geflogen. Es sei ein Wunder, dass er diesen Sturz ohne Schaden überlebt hat. Aber er beklagt auch, dass das Fahrrad einen unersetzbaren Wert für ihn habe.«

»Ach du liebe Güte.« Schnell wechselte Anjas Blick zwischen Geraldine, dem Verletzten und dem Fahrrad. »Mein Gott … was machen wir denn jetzt? Ich weiß nicht, was ich …« Dann kam ihr eine Idee. »Geraldine, haben Sie ein Telefon dabei? Wir sollten einen Krankenwagen rufen und vielleicht die Polizei. Jemand muss doch den Unfall aufnehmen, oder? Ich komme natürlich für alles auf, sagen Sie ihm das bitte!«

»Ich habe eine bessere Idee. Sie wohnen doch hier um die Ecke. Haben Sie Verbandszeug?«

»Ja, ich glaube schon, aber das muss sich doch ein Arzt ansehen. Bitte fragen Sie ihn, was er möchte.« Anja war verwundert, dass die Französin die Idee mit dem Notruf nicht aufnahm, wusste aber, dass im Elsass einiges anders lief. Hier gab es einen Verletzten und die Wunde musste gereinigt werden.

Geraldine wechselte ein paar Worte mit dem Fremden, woraufhin der energisch den Kopf schüttelte.

»Er sagt, so schlimm sei das nicht, ein Pflaster würde völlig reichen. ... Okay, dann gehen wir. Sie links, ich rechts. Die Wunde muss desinfiziert werden.«

»Müssen Sie denn nicht weiter bedienen?«

»Ich helfe Ihnen. Mein Chef übernimmt das schon für ein paar Minuten.«

»Ja, dann los. Es scheint nicht aufzuhören zu bluten.«

Geraldine erklärte ihm kurz, was sie vorhatten, dann stellte sie sich links neben ihn und forderte Anja auf, an der anderen Seite zu stützen. Er zeigte auf sein kaputtes Fahrrad: »Mon vélo!«

»Darum kümmern wir uns später.« Er schaute sie fragend an. »Later!«, sagte Anja in der Hoffnung, dass dieser Mann Englisch verstand.

»Later? It is very important to me.«

»Das klaut schon keiner. Jetzt kümmern wir uns erst einmal um Ihr Bein.«

Es war nicht weit zu Anjas Wohnung. Der Franzose war sportlich und hüpfte, gestützt von Geraldine, auf einem Bein hinter ihr die schmale Treppe hinauf. Zielstrebig steuerte sie mit ihm ins Badezimmer und bat ihn, auf dem Rand der Wanne Platz zu nehmen. Ihre Schwester war auch in Colmar gut ausgestattet, was die Versorgung von kleinen Verletzungen anging. Typisch Deutsch – kam für Birgit das Thema Sicherheit an erster Stelle, sie war auf alle Eventualitäten vorbereitet. Es gab immer einen Verbandskasten, eine Flasche Desinfektionsmittel und diverse Salben in ihrem Vorrat.

»Geraldine, im Kühlschrank müssten Eiswürfel im Gefrierfach liegen. Könnten Sie die bitte holen?« Sie machte sich keine Sorgen, Geraldine unbeobachtet in der Wohnung herumlaufen zu lassen und die Wunde musste versorgt und gekühlt werden.

»Natürlich. Mache ich sofort.«

Zuerst schnitt Anja das zerfetzte Hosenbein ein Stück auf, damit es nicht mehr die Wunde überdeckte. Dann tupfte sie vorsichtig mit einem nassen Lappen das Blut weg. Sie sah sofort, dass es sich um eine ältere Wunde handelte, die anscheinend beim Aufprall wieder aufgeplatzt war. Schnell desinfizierte sie die verwundete Stelle und legte kurz danach einen mit Wundsalbe beschmierten Mullverband an. Der Unbekannte ließ die Prozedur geduldig über sich ergehen.

»Kommen Sie mit!«, sagte Anja nach dem Anlegen des Verbandes. Sie half ihm ins Wohnzimmer und bereitete ihm einen Platz auf der Couch, wo er sein Bein hochlegen konnte.

Geraldine hatte ein Küchentuch mit zerstoßenen Eiswürfeln gefüllt. Anja nahm es entgegen und legte es behutsam auf das Knie.

»Ich kann Ihnen nicht sagen, wie leid es mir tut. Normalerweise bin ich nicht so unaufmerksam unterwegs. Ich habe einfach nur noch Augen für das Schreiben meiner Liebesgeschichte gehabt.«

Er schaute sie mit großen Augen fragend an.

»Je m’appelle Thierry«, sagte er und zeigte mit dem Finger auf sich.

Sie zuckte mit den Schultern und seufzte.

»Et toi?« Er wartete einen Moment und wiederholte dann seinen Namen »Thierry!«

»Anja. Ich bin Anja.« Ihr wurde es plötzlich heiß. Hitzewallungen? Dafür bin ich noch zu jung. 

Das Handtuch mit den Eiswürfeln verrutschte. Anja wollte es auffangen, aber Thierry griff schon danach. Als ihre Hände sich berührten, fühlte sie eine plötzliche Vertrautheit. Sie konnte es nicht glauben, irgendetwas an diesem Mann hatte eine anziehende Wirkung auf sie. Seine Haut fühlte sich gut an und da war noch dieser Duft … war das Sandelholz? Oh, ja … Sandelholz. Was geht denn mit mir ab? Hallo?

Hastig sprang sie auf und zog eilig ihre Hand zurück. Was um Himmelswillen sollte das, was passierte hier? Das ist nicht wahr! Was sind das plötzlich für Gefühle? Das muss der Schock sein, ich bin doch kein 14-jähriges Pubertier. Auf der anderen Seite erinnerte sie sich, dass sie dieses Kribbeln aus ihrer Jugend kannte. Sie war nicht oft verliebt gewesen und es hatte für gewöhnlich länger gedauert, bis ein Junge dieses Gefühl bei ihr ausgelöst hatte. Aber es war genau das, was sie vorhin gespürt hatte.

Trotzdem – das war lächerlich. Anja Gerlach, 38 Jahre alt, Bestsellerautorin – verliebt sich in einen sicher 10 Jahre jüngeren Mann, der wegen ihr in einen Kanal gestürzt ist und sich dabei verletzt hat. Sie konnte die Schlagzeilen in den Boulevardblättern vor ihrem geistigen Auge sehen. So wie der aussah, hatte der garantiert eine Frau oder Freundin oder sogar beides. Nein, lächerlich.

»Ich mache uns einen Tee«, sagte sie, nur um irgendetwas zu sagen.


Sein Blick wurde plötzlich distanziert, er lehnte den Tee kopfschüttelnd ab und bestand darauf, sich jetzt um sein Fahrrad zu kümmern. Obwohl sie immer noch kein Wort von dem verstand, konnte sie nicht verhindern, den Klang seiner Stimme zu genießen.

»Er sagt, dass er gehen möchte, um sich um sein Fahrrad zu kümmern.«

Geraldine! Die habe ich ja völlig vergessen. 

»Äh … Ach so, ja, natürlich, wir gehen sofort los. Die Wunde scheint nicht mehr zu bluten.« Sie zeigte nochmal zaghaft in die Kochecke: »Wollen Sie wirklich keinen Tee oder Kaffee?«

Er wollte nicht. Umständlich stand er auf, humpelte, gestützt von Geraldine, die sich mit einem unauffälligen Winken verabschiedete, in Richtung Tür und drehte sich im Rausgehen zu ihr um. »Merci, Anja. Au revoir.« Gleich darauf fiel die Tür ins Schloss. Sie wollte dem Impuls folgen, ihm hinterherzulaufen, unterließ es aber, starrte nur auf die geschlossene Tür. War der Franzose so schnell aus ihrem Leben verschwunden, wie er hineingeplatzt war? Würde sie ihn noch einmal wiedersehen, wollte sie ihn wiedersehen? 

Ihr Herz schlug schnell, so schnell, dass sie das Klopfen im Hals spüren konnte. Sie hob das nasse Küchenhandtuch vom Boden auf, die Eiswürfel darin waren bereits geschmolzen. Als sie damit in Richtung Kochecke ging, um Teewasser aufzusetzen, roch sie an dem Handtuch und bildete sich ein, Sandelholz daran zu riechen. Den Geruch nach Thierry. 

»Heiligs Blechle, das Kleid! Das habe ich ja völlig vergessen.« Sie lief ins Badezimmer, um es in die Waschmaschine zu stopfen. Dann zog sie sich bequeme Kleidung an und setzte Teewasser auf.


Diesen Zustand muss ich ausnutzen! Diese Intensität von all dem um mich herum! Genau so will ich mich fühlen, wenn ich einen Liebesroman schreibe.

Sie öffnete ihr Notizbuch, blickte über den Rand ihrer Brille und las ihren kurzen stenografierten Text, den sie unverändert abtippen konnte. Ein Strich am Ende ihrer Notizen, quer über zwei Seiten gezogen, hielt den Moment fest, in dem sie diesem Traum von einem Mann begegnet war. Sanft streichelte sie mit ihren Fingerspitzen über das Papier und dachte an ihn. Entspannt lehnte sie sich zurück, fixierte die letzten Zeilen auf dem Display ihres Laptops und setzte den Text fort:

Peppinas Augen waren auf ihr Smartphone gerichtet. Sie bemerkte nicht, wie erwartungsvoll und verliebt Ludovico sie ansah. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass er sein Weinglas erhob und darauf wartete, dass sie seinen Blick erwiderte. Sie nahm ebenfalls ihr Glas, ihre Augen blieben fest auf das Handy gerichtet, deshalb entging ihr, dass Ludovico in seine Hosentasche griff und eine Schatulle hervorzog. Sie lachte über eine Nachricht, die sie gerade von ihrem Arbeitskollegen Paolo bekam. Erneut griff sie nach dem Glas und schüttete den Rest Wein in sich hinein, als sei es Wasser.

Ludovico starrte sie mit offenem Mund an. So hatte er sie nie zuvor erlebt oder hatte er nicht richtig hingeguckt? Peppina fotografierte ihn und tippte sofort wieder in ihr dämliches Handy. Es dauerte nicht lange, bis das Gerät erneut vibrierte. Nach einem kurzen Blick auf das Display lachte sie laut und blickte Ludovico provozierend an, damit er garantiert mitbekam, dass es um ihn ging. Jetzt reichte es! Abrupt sprang er auf und überquerte enttäuscht und wütend den Markusplatz. Erst als er fast in der Menge verschwunden war, blickte Peppina von ihrem Handy auf und bemerkte, dass er weg war. Ihr Blick fiel auf die geöffnete Schatulle, in der der schönste Ring der Welt steckte. Sie sprang so hastig auf, dass ihr Stuhl umfiel und rannte Ludovico hinterher, nicht ohne den Ring mitzunehmen.

In einem Café am Markusplatz standen zwei Gläser auf einem Tisch. Das eine voll, das andere leer. Ein Smartphone vibrierte verloren unter einer Serviette. 


Zufrieden setzte Anja ihre Computerbrille ab, klappte das Laptop zu und lehnte sich zurück. Geschafft.


Rachmaninow

Anja legte das Notizbuch in die weiße, Strass besetzte Clutch, die zu ihrem hellblauen Abendkleid passte. Obwohl sie insgesamt ihr Schreibpensum deutlich erhöht hatte, heute fehlte ihr die innere Ruhe. Ob es an Thierry lag, dass sie wie auf Wolken durch den Tag schwebte? Sie war gut drauf. Und diesen Drang, rauszugehen, dorthin, wo viele Menschen waren, kannte sie in solcher Intensität noch nicht. Sie war eher menschenscheu und fühlte sich mitten in der Menge nicht besonders wohl. Manchmal litt sie geradezu unter klaustrophobischen Zuständen, die vorwiegend dann auftraten, wenn sie sich an die Massenpanik erinnerte, die vor Jahren grundlos auf einem Volksfest ausgebrochen war. Sie war gestürzt, hatte für endlose Sekunden Todesangst gefühlt, bevor sie zum Glück ein Freund in die Höhe gerissen hatte. Seither hatte sie oft ein ungutes Gefühl dabei, sich in einer ungeordneten Menschenmenge aufzuhalten. 

Heute war das alles anders. Nicht einmal ihr Outfit bereitete ihr Kopfzerbrechen. Sie stellte es zielsicher und gekonnt zusammen. Mit der Halskette, dem Erbstück von Tante Hilde, fing sie an. Sie holte sie aus der Schatulle, in der sie all ihren Schmuck aufbewahrte. Heute also diese Kette mit den gefassten blauen Steinen, bei denen es sich angeblich um echte Saphire handelte. Dazu den passenden Ring mit dem größeren Stein der gleichen Art. Auf Ohrringe würde sie heute Abend verzichten müssen, da sie das dazu gehörende Paar nicht fand, obwohl sie sicher war, das Set früher komplett gesehen zu haben. Birgit! Sie hatte vermutlich den Schmuck getragen und nicht zurückgelegt. Unter normalen Umständen hätte sie das geärgert, aber nicht heute. Selbst die Nachlässigkeit ihrer Schwester konnte Anjas gute Laune nicht trüben. Egal, dachte sie, die Kette ist ohnehin der Hingucker, da brauche ich nicht noch Ohrringe. Sie hielt das Collier vor ihr Abendkleid, das mit seinem Hellblau die Farbe der Saphire noch funkelnder erscheinen ließ. Einzig die Schuhe bereiteten ihr Kopfzerbrechen, denn die, so hatte sie es in einem Modemagazin gelesen, mussten unbedingt das Highlight sein. Wie sollte das gehen? Ihr Schuhschrank in Stuttgart hätte sie ebenso im Stich gelassen wie die Auswahl, die ihr hier in Colmar zur Verfügung stand. Im Gegensatz zu den allermeisten Frauen spielten Schuhe in ihrem Leben keine Hauptrolle. Hauptsache, sie waren bequem. Sie starrte einen Augenblick in das Regal und holte dann tief seufzend die neuen weißen Pumps heraus. Diesen Abend würden ihre Füße ihr erst nach ein paar heißen Fußbädern und viel Wundsalbe verzeihen, aber wer schön sein wollte, musste eben leiden. Sie hielt Kette, Schuhe und Kleid aneinander. »Perfekt! Jetzt noch die Clutch … und den weißen Blazer … oder nein … dafür ist es zu …« 

… warm … Was ist eigentlich los? Seit wann rede ich mit mir selbst … langsam wird’s wirklich albern! Dieser Mann hat mich offenbar völlig aus dem Konzept gebracht.

»Echt albern!«, rief sie und musste lachen. Wann hatte sie in letzter Zeit über sich selbst schmunzeln können? Sie erinnerte sich nicht an einen einzigen Augenblick und genoss es daher umso mehr.


Rachmaninow stand auf dem Programmflyer. Den Pianisten kannte sie bisher nur aus dem Fernsehen. Ein Bär von einem Mann, bei dem man Angst um den Flügel bekam, wenn er sich ihm näherte. Sie freute sich gerade aus diesem Grund darauf, Rachmaninow von diesem Russen gespielt zu hören, weil er die nötige physische Kraft mitbrachte. Das Konzertprogramm kannte sie auswendig, so bekannt waren ihr all die wunderbaren Passagen. Heute standen unter anderem die 23 Variationen auf ein Thema von Paganini auf dem Programm. Sie konnte sie hören, wenn sie die Augen schloss. Beschwingt tanzte sie durch die Wohnung und schwang dabei einen imaginären Taktstock – so, als dirigiere sie das Stück selbst.


Heute war einer dieser Abende, an denen kräftige Regengüsse hinter den Hausfassaden warteten, bis man rauskam und sich weit genug vom Haus entfernt hatte. Dann schütteten sie sich über einem aus, als gäbe es nichts Schöneres als diese kühle Erfrischung an einem schwülen Sommerabend. Trotz des Donnerns, das auf ein bedrohlich nahes Gewitter schließen ließ, schaffte sie es trocken bis an ihre Lieblingsecke hinter der Kirche St-Mathieu. Dort standen die Orchestermusiker, rauchten, unterhielten sich, tauschten sich mit ihren angereisten Verwandten aus und begutachteten gegenseitig ihre Einkäufe des Tages. Anja liebte es, sie dabei zu beobachten, ihnen heimlich zuzuhören, wenn sie sich über die Probleme des Alltages unterhielten. Es war eine kleine, aber reale Welt, in der die Musiker so waren, wie sie nie ein Zuschauer zu sehen bekam. Ob es die junge Dame war, die sich Hals über Kopf in einen der Kollegen verliebt hatte, oder der kräftige Herr, der von seinen Freunden liebevoll Kapitän genannt wurde, welcher stolz seine Enkelfotos herumreichte. In diesem Moment waren es normale Menschen … Sterbliche, die sich mit anderen Sterblichen unterhielten. Nur einen Augenblick später würden sie in ihrer Abendgarderobe auf der Bühne sitzen und durch ihren Dirigenten zu einem perfekt abgestimmten Orchester werden. Als Große Künstler, scheinbar aus dem Himmel herabgestiegen, waren sie mit ihrem Können in der Lage, jeden einzelnen Zuhörer des Konzertes aus dem Hier und Jetzt zu entführen.


Ein heftiger Regenschauer brachte die Musiker dazu, eilig in Richtung der Umkleideräume aufzubrechen, die hinter dem benachbarten Parkplatz lagen. Anja lief, so schnell es ihr möglich war, zu der Prominenz hinüber, die geschützt und trocken am Seiteneingang mit Sekt und Amuse-Gueule empfangen wurde. Sie trank lieber ein Wasser. Auf Essen und sonstige Kalorien – von dem Eclair abgesehen – hatte sie den ganzen Tag verzichtet, damit ihr Bauch in dem enganliegenden Abendkleid nicht zu sehen war.

»Anja! Hello, how are you?« Eine ältere Dame winkte ihr zu. Das Gesicht kam ihr bekannt vor, der Name war ihr entfallen. Nach einem Moment erinnerte sie sich an einen netten Abend mit ihren Freundinnen bei Flammkuchen und Wein. War das letztes Jahr oder schon vorletztes? Sie wusste es nicht, da ihr die meisten hier anwesenden Gäste nur bei den Konzertabenden in Colmar begegneten. Dennoch fühlte sie sich heute weniger gehemmt als sonst und spielte die ungeschriebenen Regeln der Konversation mit.

»Oh … Hello, you look great! Sie sehen großartig aus, wie machen Sie das nur?« 

»I do my best.« Sie trug eine Rüschenbluse mit passendem rosa Blazer. Über ihrer Schulter entdeckte Anja einen rötlichen Faden. Sie wollte dezent danach greifen, um ihn zu entfernen, als sie erkannte, dass daran das Preisschild eines Geschäftes befestigt war. Eilig zog sie ihre Hand wieder zurück und tat, als habe sie sich die Haare gerichtet. Eine der Anwesenden hatte trotzdem mitbekommen, dass sie das Schild bemerkt hatte und flüsterte der Trägerin etwas ins Ohr. In Windeseile war das Schildchen im Inneren des Blazers verschwunden. Es zu beschädigen, hätte die Rückgabe im Laden nach diesem Wochenende unmöglich gemacht.

Okay, wir spielen sehen und gesehen werden, dachte Anja amüsiert. Bei manchen kann man erkennen, dass es ihnen nicht ausschließlich um die Musik geht. Das sollte ich mir für einen der nächsten Romane merken und an entsprechender Stelle einbauen. 

Sie selbst freute sich mehr auf das Konzert als auf die anderen Gäste.

Ein Raunen ging durch die Menge, als eine schwarze Luxuslimousine langsam über das Kopfsteinpflaster heranrollte. Der Dirigent war angekommen. Besucher holten ihre Smartphones heraus, um Fotos von ihm zu machen, mit denen sie zu Hause prahlen konnten.

»Heiligs Blechle!« An den Blicken der Umherstehenden bemerkte Anja, dass sie das laut gesagt hatte. Im Moment war ihr das egal, sie stand wie versteinert da und starrte mit offenem Mund auf den Mann, der gerade der Frau des Dirigenten aus dem Wagen half. Das war er! Thierry! Er trug einen Smoking und sah prächtig darin aus. Es gefiel ihr noch viel besser als die Sportkleidung. Sie wedelte sich mit dem Programmflyer hektisch Luft zu, denn es schien urplötzlich heiß geworden zu sein. Dann sah sie, wie er mit der Dame auf sie zukam. Sati Spiwakowa bewegte sich fast schwebend …, wie auf einem Laufsteg kam sie näher.

»Добрый вечер, Сати! Guten Abend, Sati.«, sagte Anja, bemüht, Thierry nicht anzustarren

Der flüsterte der Frau etwas ins Ohr, die lächelnd nickte.

»Good evening.« Sie griff nach Anjas Hand und hielt diese im Weitergehen fest. »You look so beautiful.« 

Hat Sati mir jemals ein Kompliment gemacht? Ich glaube, es ist das erste Mal.

»You too. Sie auch.« Das entsprach der Wahrheit. Ein ausgezeichneter Modegeschmack war nur eins der Talente der gebürtigen Armenierin. In den Modehäusern der Welt zuhause, wusste sie sich in Szene zu setzen. Nach einem früheren Konzert hatte Anja sie gegoogelt und erfahren, dass sie eine professionell ausgebildete Schauspielerin und darüber hinaus Produzentin und zugleich Moderatorin der Klassiksendung »Nicht langweilige Klassik« im russischen Fernsehen war. Ihre Gespräche hatten sich bisher auf die üblichen Begrüßungsformeln beschränkt. Heute war es anders.

»May I introduce you to …« 

»Thierry. Wir haben uns schon getroffen … beinahe.«

»Pardon?«

»We’ve met. Ein Unfall … Havaria … auf der Brücke …. Most … Sein Bein. Das war meine Schuld.« Obwohl Anja Hände und Füße benutzte, um Sati den Vorfall zu erklären, schien diese kaum zu verstehen. Meine Güte, bin ich aufgeregt, bekomme nicht mal ein Wort auf Englisch oder Russisch hin. Ich muss mich endlich beruhigen. Thierry hatte mitbekommen, dass sie sich immer noch schuldig fühlte und wehrte ab: »No problem, Anja.« 

Als Anja seine Stimme hörte, überzog Gänsehaut ihren Körper und sie schaute verlegen zur Seite.


Die Kirche war gut besetzt. In den ersten Reihen befanden sich die reservierten Plätze für die Ehrengäste, zu denen auch Thierry zu gehören schien. Er wird ein guter Radfahrer sein. Vielleicht ist er bekannt. Ein schönes Lächeln hat er auch, heute Morgen war er ja nur wütend.

Sie wollte zu ihrem Platz in der dritten Reihe gehen, wurde aber von ihm aufgehalten. Er zeigte nach vorne und bedeutete ihr, mit ihm zu kommen. Zögernd folgte sie ihm und setzte sich auf den Stuhl neben ihm. Als er so nah bei ihr stand, konnte sie sein Aftershave riechen und sie schloss genießerisch die Augen! Die Musiker betraten die Bühne und wurden mit kräftigem Applaus begrüßt. Eine ältere Dame am Rand rief laut auf Russisch >Söhnchen, wir lieben dich!<, woraufhin der Angesprochene seiner Mutter zurückhaltend zuwinkte. Zusammen mit dem Pianisten erschien der Dirigent, der Applaus schwoll an, das Licht im Saal wurde gedimmt. Kaum hatte sich Vladimir Spiwakow verbeugt und wieder den Musikern zugewandt, verstummte das Publikum. Ein Regenschirm fiel zu Boden. Man hörte ein flüsterndes Schimpfen, dann nichts mehr. Stille.

Der Maestro hob die Arme. Mit den Fingerspitzen einer Hand hielt er seinen Dirigentenstab, für Anja ein Zauberstab, denn dieses Orchester hatte Magie und der Dirigent war ein Zauberer.

Kaum hatte er angefangen, erfüllten Rachmaninows Klänge den Saal und entführten die Zuhörer in eine andere, friedvolle Welt. Der Pianist schaffte es mit wundersamer Leichtigkeit, die 23 Variationen auf das altbekannte Thema von Paganini zu spielen, das von Kennern der Materie als größte Herausforderung gesehen wurde. Rachmaninow hatte einem Reporter berichtet, dass die Variation für einen Komponisten die höchste Kunst sei. Wie recht er damit hatte, da in den Abwandlungen des Themas kontrastreiche Emotionen dargestellt wurden. Erst voller Eleganz, wie in einem Ballsaal, gleich darauf donnerte das Thema voller animalischer Stärke durch die Kirche. Wärme erfüllte Anja, als Thierry mit seinem Knie an ihren Oberschenkel stieß. War das ein Versehen? Wieso zieht er sich zurück? Das fühlt sich gut an. Langsam legte sie ihre Clutch in die Lücke zwischen sich und Thierry. Wie zufällig ließ sie ihre Hand darauf liegen und hoffte, er würde diese ergreifen. Als hätte er ihren Wunsch gehört, bewegte er seine Hand ebenfalls zur Seite und verharrte ein paar Millimeter neben der ihren. Sie konnte kaum widerstehen, ihn zu berühren. Sie spürte seine Wärme und es kostete sie all ihre Kraft, nicht hinzugreifen. Endlich berührten sich ihre Finger und da war es: Dieses lange vergessene Kribbeln, dass ihren Körper erfasste. Dazu die Musik, die elegante Kleidung, die besondere Umgebung und als Zugabe nicht zuletzt dieser Duft von Sandelholz seines Aftershaves. Anja musste sich einen Seufzer tiefster Zufriedenheit verkneifen. Wann hatte sie sich das letzte Mal so glücklich gefühlt? Er nahm ihre Hand in die seine, hielt sie fest, spielte mit ihren Fingern, streifte ihren Ring und streichelte dann mit dem Daumen sanft über ihren Handrücken. Ein nie erlebtes Gefühl von Glück durchströmte sie. Hätte eine Fee ihr einen Wunsch gewährt, sie hätte gewählt, dass dieser Moment niemals enden möge. Es kam keine Fee, dafür stellten sich Schuldgefühle ein. Was sie hier tat, war nicht in Ordnung, ganz und gar nicht okay. Björn saß mit den Kindern zu Hause und wartete auf ihre Rückkehr nach dem Sommer. Unendlich lange Monate, wie er sich ausdrückte. Aber diesem Gefühl hier, süß und verlockend, dem Wissen, dass es verboten war trotzend, konnte sie nicht widerstehen. Vielleicht lag es daran, dass sie insgeheim ahnte, woher ihre neue Kreativität kam. Hatte sie in diesem Mann endlich ihre Muse gefunden? Erst als Thierry die Hand wegzog, wachte sie wie aus einem Traum auf. Um sie herum tobte der Applaus, sie musste völlig weggetreten gewesen sein, dass sie das Ende des Stückes nicht mitbekommen hatte. Schnell begann sie in die Hände zu klatschen und warf dabei einen kurzen Blick zur Seite. Seine Augen, sein Lächeln. Er sieht einfach umwerfend aus, dachte sie und für einen Augenblick wünschte sie sich, für immer in seiner Nähe bleiben zu können. Du spinnst, Anja, du bist verheiratet und hast zwei Kinder, also hör auf zu fantasieren und starr den Mann nicht so auffällig an. Was, wenn jemand etwas mitbekommt?, rief sie sich selbst zur Ordnung und zwang sich, den Blick von Thierry abzuwenden. Entschlossen richtete sie stattdessen ihre Aufmerksamkeit auf das Orchester, den Dirigenten und den Pianisten, der mit seiner Kraft dieser Musik die nötige Energie verliehen hatte. Matzuev … Denis Matzuev. Jetzt fiel ihr der Name wieder ein. Von ihm besaß sie eine CD, auf der er virtuos sein Jazz-Talent unter Beweis stellte. Ein kurzer Blick zur Seite … Was haben denn die zwei zu tuscheln? Sati wisperte Thierry etwas ins Ohr, worauf er mit einem, für Anjas Geschmack zu nettem Lächeln reagierte und ihr ebenfalls ins Ohr flüsterte. Sie grinste dabei Anja an und zog ihre Augenbrauen hoch. Hey! Hört sofort das Getuschel auf, hätte sie am liebsten gerufen, konnte sich aber gerade noch beherrschen. Spielt er etwa ein Spiel mit mir wie in diesem Film, wie hieß der doch noch? Gefährliche Liebschaften! Und ich bin dumm genug, darauf reinzufallen? Sie verschränkte die Arme. Der Applaus war verstummt. 

Matzuev saß wieder am Flügel, Spiwakow wartete auf absolute Stille, setzte dann zum ersten Klavierkonzert Rachmaninows an. Anja spürte, wie es in ihr brodelte. Den Blick starr nach vorne gerichtet, hörte sie den klagenden Klang des Flügels, verletzt, verwundet, genauso, wie sie sich gerade fühlte. Thierry hatte ihr leises Schluchzen gehört und hielt ihr ein Stofftaschentuch hin, doch sie zog ihre eigenen Papiertücher aus der kleinen Handtasche. Hatte er nicht bemerkt, dass sie das Getuschel mitbekommen hatte, oder lag sie mit ihrer Interpretation falsch? Ich bin so naiv. Verdammt, ich muss mich zusammenreißen, ich darf mich nicht lächerlich machen! Am liebsten wäre sie aufgesprungen und aus der Kirche geflüchtet, um die Schwermut der Musik und die aktuelle Situation hinter sich zu lassen. Was war nur mit ihr los? Warum fuhren ihre Gefühle plötzlich Achterbahn? Da! Er legte seine Hand geöffnet zwischen ihre Plätze. Das war eine offene Aufforderung, danach zu greifen, aber das konnte er vergessen, obwohl sie sich insgeheim nach seiner Nähe sehnte. Sie würde aber nicht zulassen, dass er sich auf ihre Kosten amüsierte. Sie konzentrierte ihren Blick auf Matzuevs Spiel, das einem energetischen Höhepunkt entgegenflog. Der Versuch, in die Musik abzutauchen, gelang ihr nicht, sie war wie blockiert. All ihre Sinne hatten sich verschlossen, da war nur noch physische Anspannung. Außerdem taten ihre Füße weh. Unerwartet empfand sie Sehnsucht nach den Kindern, nach Björn, ihrem Zuhause. Sie wollte weg, zurück nach Stuttgart zu ihrer Familie.

Es kam ihr vor, als würde das Stück vom Orchester länger und getragener gespielt als sonst. Endlich senkte Spiwakow seinen Dirigentenstab und drehte sich zum Publikum um. Matzuev erhob sich und empfing zusammen mit den Musikern den Applaus. Viele der Zuhörer standen auf und jubelten, einige der Besucher kamen mit Blumensträußen an die Bühne, um sie zu überreichen. Anja dagegen blieb sitzen und klatschte nur kurz. Gleich darauf nahm sie ihr Notizbuch aus der Handtasche und begann hastig etwas aufzuschreiben. Es waren nicht die Zeilen für ihr Buch, was sie stenografierte. Sie schrieb ihre Wut und Enttäuschung über sich selbst auf. 

Wie konnte ich nur so naiv sein und glauben, dass ein junger, attraktiver Mann sich für mich interessieren könnte? Offensichtlich haben Sati und er sich über mich lustig gemacht. Ich muss meine Phantasiewelten mehr von der Realität trennen. Warum bin ich plötzlich so blauäugig geworden?

Auf ihrem Platz zu bleiben, erschien ihr die einzige Möglichkeit, Thierry und Sati aus dem Weg zu gehen, die gleich nach den Musikern den Saal verließen, um draußen was auch immer zu tun. Anja hatte sich so vertieft gezeigt, dass es niemand gewagt hatte, sie anzusprechen. Kurz danach saß sie fast allein in der verlassenen Kirche und atmete tief ein und aus, um ihre Enttäuschung zu verdrängen. Leider brachte es ihr nicht die erwünschte Ruhe. Die nächste Seite ihres Notizbuches blieb leer. Genau so leer, wie ich mich fühle, dachte sie und sehnte sich nach einer Zigarette. Seit ihrer Familientherapie hatte sie wieder angefangen, in stressigen Situationen zu rauchen, da es sie irgendwie beruhigte. Vorher hatte sie Björn zuliebe aufgehört, weil er – ehemals Kettenraucher – von einem Arzt den dringenden Rat dazu erhalten hatte.

»Anja?« Das war unverkennbar Thierrys Stimme. Sie hob ihren Kopf und sah, dass er sein Smartphone in ihre Richtung drehte.

»Soll ich euch auch noch fotografieren?«

»Quoi?« Er schüttelte den Kopf, zeigte auf sein Handy, als würde er den Text lesen, der dort stand und hielt es ihr auffordernd hin.

»Okay. Ich weiß zwar nicht, was …« Abrupt schwieg sie und las den Text.

>Anja. Habe ich etwas falsch gemacht? Warum bist du plötzlich so abweisend? Magst du es mir verraten?<

Was soll das Theater? Wieso tut er so unschuldig?

Thierry drückte auf ein Mikrofonsymbol und tat, als würde er in ein imaginäres Gerät sprechen. Anja verstand und sprach ihre Antwort in das Handy: »Erst hältst du meine Hand und gleich darauf machst du dich mit Sati über mich lustig? Was war denn bitte so witzig? Das hat mich verletzt!« Während die App ihre gesprochenen Worte aufnahm, erschien darunter synchron die französische Übersetzung. Er schaute über ihre Schulter auf das Display. Seine Nähe brannte schmerzhafter auf ihrer Haut als ihre Ahnungslosigkeit. Thierry sprach in das Telefon und Anja sah den deutschen Text: >Das hast du ganz falsch verstanden. Sati hat gefragt, ob du mir gefällst. Ich habe ihr geantwortet, dass du eine noch nie erlebte Anziehung auf mich ausübst.<

»Und warum hat sie dann so gelacht?«

>Ich sollte keine Zeit verlieren, hat sie gesagt Aber sie kennt mich. Verheiratete Frauen sind für mich tabu.<

»Also besteht keine Gefahr?«

>Nicht von meiner Seite, obwohl es mir schwerfällt.<

Sati kam lächelnd auf sie zu, drehte jedoch wieder ab, als Thierry ihr etwas auf Französisch entgegenrief.

>Darf ich dich nach dem Konzert zum Essen einladen? Es gibt da keinen Hintergedanken, außer, dass ich etwas Zeit mit dir verbringen will. Deine Nähe tut mir gut.<

»Ja, sehr gern. Komm! Setzen dich zu mir!« Ihre Gefühle waren wieder umgeschlagen. Sie war sehr erleichtert, jetzt, nachdem Thierry ihr Misstrauen beseitigt hatte. Gleichzeitig verfluchte sie ihre ewige Skepsis, ihre ständige Vermutung, dass sie das Pech anzog wie ein Magnet. Übertrug sie die Erfahrungen, die sie mit Björn gesammelt hatte, auf jede erdenkliche Lebenslage?

Die zweite Hälfte des Konzertes, die Leningrader Sinfonie von Schostakowitsch hatte eine solche Tiefe und Energie, dass Anja alles um sich herum vergaß und mit schräg nach links geneigtem Kopf zuhörte. Thierry – dass konnte sie aus den Augenwinkeln erkennen – schaute immer wieder zu ihr herüber. Für ihn war nachher genug Zeit. Er soll nicht glauben, dass ich nur auf ihn gewartet habe. 

Die Sinfonie bestand aus vier Sätzen und dauerte 80 Minuten. Nicht nur die Musik faszinierte Anja an diesem Abend, es war das disziplinierteste Publikum, das sie seit langem erlebt hatte. Das Orchester, das diesen Konzertmarathon bis zum Ende in voller Kraft durchspielte, hatte den größten Applaus verdient, den es je erleben sollte. Den gab es auch. Sie konnte dem Dirigenten ansehen, dass er in dieser tosenden Begeisterung badete und seine verlorene Energie wieder auftanken konnte. Für das Publikum war es selbstverständlich, dass es an diesem Abend keine Zugabe geben würde. Unter noch immer frenetischem Klatschen verließen die Musiker die Bühne. Gleich darauf verabschiedete sich Sati und Anja glaubte für einen Moment, einen Luftkuss in ihre Richtung erkannt zu haben.

Thierry sagte etwas, hielt ihr seinen Arm hin und zeigte Richtung Ausgang. Sie hakte sich ein und spürte mit ihren Fingerspitzen seinen festen Bizeps. Beruhig dich, wir gehen heute nur essen, es wird nichts passieren. Das war die Stimme der Vernunft, ihr Herz hatte andere Argumente. Ich bin viel zu angespannt. Vielleicht sollte ich Wein trinken, dann werde ich lockerer und es klappt mit dem Englisch besser. Gemütlich – soweit sie das mit den Schuhen konnte – schlenderten sie die Grand Rue entlang. Er redete unentwegt, zeigte mal hierhin, mal dorthin. Anja verstand kein Wort, trotzdem genoss sie es, mit ihm diese Straße entlangzugehen und seine Stimme zu hören. Gelegentlich winkten ihnen Passanten zu, die ihr unbekannt waren, oder zumindest zu sein schienen. Es konnte sich um regelmäßige Besucher des Klassikfestivals handeln, die sie irgendwann in einem der früheren Jahre kennengelernt hatte. Außerdem hatte sie eine beachtliche Menge Bücher verkauft, die auch auf Französisch übersetzt worden waren. Deshalb konnte es sein, dass ihre Leser ihren Weg kreuzten. Es gefiel ihr bis zu dem Augenblick, als einer der Entgegenkommenden sein Smartphone hochhielt und ein Bild von ihnen machen wollte. Abwehrend hob sie die Hände und sagte: »Keine Fotos bitte.« Daraufhin steckte der Mann das Handy wieder weg und ging. 

Als es von irgendwoher blitzte, zuckte Anja zusammen. Er legte seinen Arm schützend um sie, Donner folgte. Sie hatte einen weiteren Fotografen befürchtet, dieses Mal hatte es sich aber um einen echten Blitz gehandelt. Der Wind wehte stärker und ein paar Minuten später rannten Thierry und sie durch strömenden Regen auf der Suche nach einem Unterschlupf. Lachend fanden sie Schutz in einer Toreinfahrt. Klatschnass standen sie einander gegenüber und schauten sich tief in die Augen, bis er den Kopf zur Seite drehte und sein Handy hervorholte. 

>Ich rufe uns ein Taxi<, übersetzte seine App.

»Nein, bitte nicht, ich möchte so in kein Restaurant gehen. Sieh mich doch an, ich bin ganz nass. Vielleicht gehen wir zu mir? Während unsere Sachen trocknen, können wir einen Kaffee trinken.«

Er las die Übersetzung und sprach wieder in das Telefon.

>Das kann gefährlich werden.<

»Warum? Wir trinken doch nur Kaffee.«

Erst jetzt fiel ihr auf, dass er ihr Angebot anders verstanden haben konnte. Hatte ihr Unterbewusstsein sie dorthin gelenkt? Würde sie sich auf einen Fremden einlassen? Diesen Gedanken dachte sie im Augenblick nicht weiter. Nur der Moment zählte und in dem entschied sie, was als Nächstes passiert. Seit sie Björn geheiratet hatte, bestand ihr Leben nur aus Planung und Voraussicht. Heute sollte alles anders sein, sie wollte jung sein, verrückt und spontan.


Nur ein Kaffee

Als sie die enge Treppe zu ihrer Wohnung hochging, spürte Anja seinen Blick in ihrem Nacken, was ein Kribbeln auf ihrer Haut auslöste. Sie stellte sich vor, wie er sie von Kopf bis Fuß betrachtete. Seine Augen glitten dabei über ihren Hals, ihre Schultern, das enganliegende Kleid auf ihren Hüften, ihren Po. Verdammt, die Miederhose! Warum, um Gottes Willen, hatte sie diesen Liebestöter angezogen? Unter einem Kleid sah der zwar toll aus, aber ein Hingucker war er wahrlich nicht. Als sie den Schlüssel in das Türschloss steckte, wärmte sein Atem ihren Nacken. Er atmete schnell. Sie öffnete die Tür und entledigte sich als Erstes dieser Schuhe, die sie den ganzen Abend gequält hatten. Gleich darauf verschwand sie im Bad, warf Thierry ein Handtuch zu und verschloss dann schnell die Tür von innen. Und nun zu dir, Mr. Sloggy, dachte sie, während sie sich das Kleid, welches klatschnass an ihrem Körper klebte, auszog. Sie trocknete sich ab, zum Föhnen blieb keine Zeit, deshalb kämmte sie ihre nassen Haare zurück und band sie zu einem Pferdeschwanz. Als sie ihr Make-up erneuerte, stellte sie wieder einmal fest, wie gut ihr diese eher strenge Frisur stand. Sie hob das fast perfekte Oval ihres Gesichts hervor und betonte ihre hohen Wangenknochen. Durch die geschlossene Tür hörte sie Thierry ein melancholisch klingendes Lied singen, dessen Text sie nicht verstand. Mein Gott, singen kann er auch noch, ging es ihr durch den Kopf, während sie einen Schritt zurücktrat und ihren Körper im Spiegel betrachtete. Ihre Brustwarzen ragten spitz hervor und sie hatte keine Ahnung, ob das an dem frischen Gefühl ihrer Nacktheit oder an der längst verloren geglaubten erotischen Spannung lag, die sich in ihr ausbreitete. Wie sollte sie das auch unterscheiden können, auf diesem Gebiet war seit Jahren nichts mehr passiert. Jetzt teilte ihr Körper ihr offenbar unmissverständlich mit, dass er bereit war, das heute zu ändern. Gedankenverloren griff sie sich ihren Kimono von der Türgarderobe und zog ihn über. Er war ein Geschenk von Björn. Auf dem roten Seidenmantel tanzten bunte Kolibris um sommerliche Blüten. In besseren Tagen hatten sie zusammen viele Tierdokumentationen gesehen. Eine davon hatte von diesen Vögeln gehandelt und da er ihre Begeisterung gespürt hatte, bekam sie zu ihrem zehnten Hochzeitstag diesen Kimono geschenkt. Was solls? Jetzt bloß nicht sentimental werden und kneifen. Erstens wird Björn es nie erfahren und zweitens fühle ich, dass es richtig ist. Was ist denn schon dabei? Ich tue niemandem weh damit, möchte einfach nur endlich einmal wieder begehrt werden. Außerdem scheint Thierry auch nicht nur wegen des Kaffees mitgekommen zu sein, schließlich hat er mich eingeladen, mit ihm nach dem Konzert in ein Restaurant zu gehen.

Mit einem entschlossenen Ruck zog sie den Gürtel zu, schaute in den Spiegel und dachte dabei: Auf in das Abenteuer! Es gibt kein Zurück mehr. Sie öffnete die Tür und verließ das Badezimmer. Thierry stand nur mit Boxershorts bekleidet am Wohnzimmertisch und stellte gerade zwei Schalen Kaffee auf den Tisch. Anja entdeckte sofort die Kerze, die er in der Küche gefunden, auf eine Untertasse gestellt und angezündet hatte. Als er sie bemerkte, schaute er zu ihr und fragte: »Is this okay?« Er zeigte dabei an sich herunter, und obwohl sie sich darüber im Klaren war, dass es die Spannung nur steigerte, nickte sie, denn sie brachte kein einziges Wort heraus. Er zog einen Stuhl zurück und bot ihr den Platz an. Was für ein Gentleman. Erst nach ihr setzte er sich ihr gegenüber und zog sein auf der Mitte des Tisches liegendes Smartphone zu sich. Bevor er es entsperrt hatte, hielt Anja ihre Hand über das Handy und sagte: »Leg das bitte weg. Das zerstört diesen Moment. Lass uns nur dasitzen und gemeinsam einen Kaffee trinken.«

Thierry zögerte kurz, dann schien er verstanden zu haben, was sie ihm mit ihrer Berührung sagen wollte. Nachdem er das Telefon mit dem Display nach unten wieder auf den Tisch gelegt hatte, hob er seine Schale und schlürfte den Kaffee. Auch wenn Anja solche Geräusche gewöhnlich nicht leiden konnte, bei ihm fand sie es süß. Er schaute sie an und versank mit seinem Blick tief in ihren Augen. 

»What are you thinking about?« Sie wunderte sich über sich selbst, aber ihre Hemmungen, Englisch zu sprechen, waren verschwunden. Die Befreiung, die sich in ihr ausbreitete, lag sicher an der Entscheidung, ihren Gefühlen nachzugeben.

Die Unterhaltung ließ sich – wenn auch etwas holprig – auf Englisch fortsetzen. Das gefiel Anja besser als der Austausch via Handy.


»Es mag sich für dich merkwürdig anhören«, sagte er und zögerte einen Moment, »aber ich fühle mich hier bei dir geborgen.« 

»Wie meinst du das … geborgen?«

»Damit meine ich das Gefühl, das man hat, wenn man im engsten Kreis seiner Familie ist. Ich habe dieses Gefühl oft vermisst. Seit dem Tod meiner Eltern bin ich allein auf dieser Welt und habe mich oftmals sehr verlassen gefühlt. Auch wenn ich viele Gelegenheiten hatte, nicht allein zu sein, wenn du verstehst, was ich meine. So geborgen, wie hier bei dir, habe ich mich nie gefühlt. Schon als wir uns das erste Mal begegnet sind … hast du bemerkt, dass ich schon kurz nach dem Unfall wieder die Ruhe selbst war? Das lag an deiner Ausstrahlung. Das ist auch jetzt gerade so. Bei dir fühle ich mich wohl.«

Ihr schien es, als spräche er aus ihrer Seele. Auch er hatte eine Wirkung auf sie, die sie vorher nicht hätte in Worte fassen können, doch jetzt, wo er es ausgedrückt hatte, fielen ihr die Worte sogar auf Englisch leichter: »Ich fühle ähnlich. Du übst eine wahrhaft magische Anziehungskraft auf mich aus. Auch wenn wir uns überhaupt nicht kennen, habe ich das Gefühl, als wären wir eine lange Zeit getrennt gewesen und hätten uns jetzt wiedergefunden.«

Er schaute in die Kerze: »Aber es darf nicht mehr daraus entstehen. Sehr gern würde ich einen Schritt weiter gehen, aber da gibt es ein moralisches Gesetz, das ich nicht brechen werde.«

Wärme stieg in ihr auf. Vielleicht hat er Recht und wir dürfen das nicht? Doch! Ohne ihren Blick von seinem Gesicht zu nehmen, führte sie die Müslischale, die vor ihr stand, an ihren Mund. Bah … Milchkaffee! Tee mit Milch, das ging noch, aber bei Kaffee fiel es ihr schwer, sich vorzustellen, wie ein Mensch das jemals runterbekommen sollte. Sie probierte, aber es war genauso widerlich, wie sie es in Erinnerung hatte. Sie stellte die Schale weit von sich weg, vielleicht ein bisschen zu weit.

»Stimmt etwas nicht?« 

»Ich mag keine Milch im Kaffee.«

Thierry stand auf, um ihr einen frischen Kaffee ohne Milch zu holen. Anja versuchte, schneller zu sein: »Bleib sitzen, ich mache das schon.« 

War es Zufall oder ihr Schicksal? Zumindest sah es zufällig aus, dass sich das Ende ihres Kimono-Gürtels am Tischbein verhakte und mit dem Seidenstoff die letzte Hürde zwischen ihr und dem attraktiven Franzosen beseitigte. Mit offenem Mund starrte er sie an.

»Du bist so schön, Anja!«, flüsterte er, während er sich langsam erhob und näher kam. Er blieb vor ihr stehen und sah ihr tief in die Augen, bevor er sie in seine kräftigen Arme zog. Mit leicht geöffnetem Mund und strahlend grünen Augen wartete er auf ihren ersten Kuss. Heiligs Blechle. Was mache ich nur, was mache ich nur? Ich darf nicht … Oh mein Gott, dieser Duft. Sandelholz, wie ich ihn liebe. Sich ihrem Verlangen in den Weg zu stellen, schien völlig unmöglich. Ihr Widerstand war längst gebrochen und als ihre Lippen die seinen berührten, verschwand auch der letzte Zweifel und die Zeit blieb stehen. Dieser Moment sollte ihr süßestes Geheimnis werden.


Leises Tippen in der Nacht

Außer Atem setzte sie sich an den Esstisch und öffnete ihr Notebook. Wie lange war es her, dass sie so hemmungslos geliebt hatte und all ihr aufgestautes Begehren erwidert worden war? Wann hatte sie das letzte Mal einen solchen Zustand erlebt? Beinahe hatte sie vergessen, wie sich dieses Erlebnis auf ihr Selbstwertgefühl auswirkte. Heute Nacht hatte sie alle moralischen Ketten gesprengt. Thierry schien ihre geheimsten Wünsche zu erraten und war gern bereit, sie zu erfüllen. Im Nachhinein kam es ihr vor, als befände sie sich in einem ihrer Bücher, dessen Protagonist lebendig und zu Thierry geworden war. Adonis gleich lag er jetzt in ihrem Bett und schlief. Sie ließ ihre Augen über seinen athletischen Körper wandern und konnte ihr Glück nicht fassen. Die Erschaffung des Adam kam ihr in den Sinn. Das Gemälde, das an der Decke der Sixtinischen Kapelle Millionen Besucher zum Staunen brachte, war eines ihrer Lieblingsgemälde, verglichen mit Thierry war Adam nur halb so anziehend. 

Gedankenverloren zündete sie die Kerze an und goss sich eine Tasse heißen Espresso ein, den sie vor einigen Minuten aufgesetzt hatte.

Die Anzeige ihres Notebooks zeigte 4:30 Uhr, draußen brach ein neuer Tag an. Sie setzte sich, trank ein Schlückchen und las die letzten Zeilen, die sie geschrieben hatte. 

In einem kleinen Café am Markusplatz standen zwei Gläser auf einem Tisch. Das eine war voll, das andere leer. Ein Smartphone vibrierte verloren unter einer Serviette, doch das sollte heute niemanden mehr interessieren.

Der letzte Absatz gefiel ihr nicht. Die aufkommende Müdigkeit kam dazu. Es fiel ihr schwer, ihre Gedanken zu sortieren. Suchend glitten ihre erschöpften Augen über die Zeilen und fielen hin und wieder zu. Hastig nippte sie an ihrem Espresso, dann erinnerte sie sich schlagartig an den Tablettenschrank ihrer Schwester. In einer »Heißen Phase« an der Börse hatte Birgit immer eine von den Gelben geschluckt. Wenn das ihr hilft, warum sollte es bei mir nicht funktionieren? 

Sie stand auf und schlurfte zum Medikamentenschrank. In einer Schublade fand sie die Pillen, ordentlich von Birgit sortiert. Der Ordnungsdrang ihrer Schwester, der sie sonst so amüsierte, kam ihr heute sehr recht. Sie öffnete die Lade und fand ein Sortiment runder Plastikdöschen. Auf jeder war ein Aufkleber befestigt, auf dem Birgit handschriftlich notiert hatte, wofür oder wogegen die Tabletten wirkten. Da stand z.B. Kopfschmerzen, Durchfall, Schlaftablette oder Wachmacher ... Wachmacher! Das war es! Genau die hatte Anja gesucht. Hastig fingerte sie eine der gelben Kapseln aus der vollen Dose und spülte sie mit Wasser aus der Leitung hinunter. Hoffnungsvoll kehrte sie ins Wohnzimmer zurück und setzte sich erneut an den Laptop. Sie trank den letzten Schluck Espresso. Der Rest der Nacht war Schreiben.

Die Story strömte aus ihr heraus, ihre Konzentration war wiederhergestellt. Ab und zu wanderte ihr Blick beim Nachdenken hinüber zum Bett, in dem Thierry sich im Schlaf drehte und dabei Unverständliches murmelte. 

Ihre Verliebtheit machte die nächsten Kapitel um Klassen authentischer, verglichen mit dem, was sie bisher geschrieben hatte. Sie erinnerte sich daran, dass die großen Künstler dieser Welt ihre besten Werke in Begleitung ihrer Musen geschaffen hatten.

Die Story entwickelte sich fließend, die Protagonisten handelten eigenständig. Sie ließ es zu und beobachtete, wie sich Worte auf dem Bildschirm formten, über die sie sonst ewig nachgedacht hätte. Es gab nur noch sie und die Geschichte der Liebenden vom Markusplatz. Manchmal wünschte sie sich, noch schneller schreiben zu können, doch ihre Finger flogen jetzt schon über die Tastatur und komponierten eine Romanze, die direkt aus ihrem Herzen kam. Ihr Schulfreund Olli kam ihr in den Sinn, der eine wahre Rakete an der Schreibmaschine gewesen war. Damals hatte er versucht, den Mitschülern zu helfen, ihre Geschwindigkeit zu steigern. ›Ihr müsst euren Händen vertrauen und aufhören, ihnen vorzugeben, was sie schreiben sollen. Wenn ihr zu viel denkt, dann werdet ihr langsamer.‹ Heute Nacht war es genauso, wie Olli es damals erklärt hatte. Da waren nur sie und die Story. Keine Tastatur, kein Umfeld, keine Hindernisse. 

»Bonjour, ma Chérie!« Thierry stand vor ihr und lächelte sie an. Obwohl sie erschrak, weil er sie mitten aus dem Schreibprozess gerissen hatte, sah sie ihn bewundernd an, während ihr Herz vor Freude schneller schlug. Sie stand auf und lehnte sich an seine Brust. Er streichelte ihr sanft über den Kopf, küsste sie liebevoll auf beide Mundwinkel, sagte etwas wie ›petit déjeuner‹ und ging seine inzwischen getrocknete Kleidung zusammensuchen. Gleich darauf küsste er sie sanft auf die Stirn und verließ die Wohnung.

Sie schaute ihm einen Moment lang lächelnd nach, bevor sie sich wieder ihrem Laptop zuwandte. Ihre Finger flogen über die Tastatur, sie war kreativ wie schon lange nicht mehr, vielleicht wie nie zuvor. Zu ihrem Termin beim Verlag in zwei Wochen hoffte sie, mehr als nur den angekündigten neuen Roman abliefern zu können. Sie hatte viele gute Ideen für Kurzgeschichten und schrieb sich diese als Notizen in ein paar neue Dokumente. Ihre Gedanken in dieser Art auf das Laptop übertragen zu können, war ihr neu. Wenn das an der einen Tablette lag, stellte sich ihr nur die Frage, warum sie die nicht früher genommen hatte.

Von draußen schien die Sonne in die Wohnung. In den Strahlen tanzten kleine Staubpartikel hin und her, die dadurch Licht und Schatten noch plastischer voneinander trennten. Das Leben und alles um mich herum besteht nur aus Wundern, dachte Anja und schrieb erneut ihre romantischen Gedanken in die Zeilen des Buches nieder.

Peppina saß weinend auf einer Treppe, die in ein Wohnhaus führte. Sie war beim Laufen umgeknickt. Nun schwoll ihr Knöchel an und sie wusste nicht, wie sie sich Hilfe holen sollte. Ihr Smartphone lag im Café, dabei hätte sie es jetzt dringend gebraucht.

Wo nur Ludovico war? Sie hatte es ganz schön verbockt. Er hatte den romantischen Tag geplant und sie hatte überhaupt nichts verstanden. Ob er ihr wohl jemals verzeihen würde? Sie hatte da ihre Zweifel. In letzter Zeit war sie zu sehr auf sich und ihre Social Media Gruppen bedacht, hatte nicht verstanden, dass ihr Glück und ihre Zukunft ihr gegenüber saßen. Die letzten fünf Minuten hatte sie nicht nur der Schmerzen wegen heftig geweint. 

»Lass mal sehen!« Ludovico war wie aus dem Nichts aufgetaucht und kam, um sie zu retten.

»Oh, Ludovico! Es tut mir so leid. Bitte, kannst du mir verzeihen? Ich schmeiße das Handy weg. Du wirst mich nie wieder so unaufmerksam …«

Aus Ludovicos Jackentasche ertönte ein Signalton. Es war ihr Handy. 

Sie streckte ihm ihre Hand entgegen und er gab ihr zögernd das Gerät.

Ohne einen Blick auf das Telefon zu werfen, schmiss sie es mit voller Wucht an die gegenüberliegende Hauswand.

Ludovico lächelte seine große Liebe an und sagte: »Ausschalten hätte mir auch gereicht.«

Er nahm sie fest in die Arme und küsste sie voller Leidenschaft.

Zart hauchte sie ihm ihr »Ja« ins Ohr.


Anja hatte seine Schritte schon gehört, bevor der Schlüssel, den er mitgenommen hatte, um sie bei seiner Rückkehr nicht beim Schreiben zu stören, die Wohnungstür öffnete. Er trug jetzt ein schickes Designerhemd und einen dazu passenden Anzug. Die Wildlederhalbschuhe, die, wie alles andere auch, teuer aussahen, rundeten das Outfit perfekt ab. In Sachen Eleganz hatte er ein gutes Gespür.

»Nice suit«, sagte Anja.

Thierry lächelte und ging in die Kochecke, in der er seine Einkäufe abstellte. Auch bei den Lebensmitteln hatte dieser Mann einen exklusiven Geschmack. 

Während Anja noch schrieb, bereitete er das petite déjeuner. Auch wenn er nicht verstehen konnte, dass es Menschen gab, die ihren Kaffee ohne Milch tranken, hatte er sich das gemerkt.

Sie spürte ihren Hunger erst, als sie das frische Baguette und die Tarama-Creme vor sich stehen sah. Sogar den geruchsstarken Munsterkäse mochte sie heute gern riechen. Lag das an den Aktivitäten der vergangenen Nacht?

Während sie aßen, überlegten sie, was sie mit dem vor ihnen liegenden Tag anfangen wollten und entschieden sich für einen Ausflug. Thierrys Verletzung heilte gut. Er war der Meinung, dass Bewegung das Beste für ihn sei. Anja wollte gern nach Munster auf den Markt. Als sie das Haus verlassen hatten, führte Thierry sie zu einem kleinen Parkplatz unter Kastanienbäumen, holte eine Fernbedienung aus der Hosentasche und öffnete damit ein Porsche Cabrio. Langsam bekam Anja Zweifel, woher ein so junger Mann sich solchen Luxus erlauben konnte, aber auf ihre diesbezügliche Frage erzählte Thierry ihr, dass seine Eltern ihm eine nicht unbeträchtliche Menge Geld hinterlassen hatten. Sie fuhren mit offenem Verdeck durch die schöne Landschaft. Thierry fuhr sportlich, hielt sich aber an alle Tempolimits.

In Munster angekommen, parkte er den Wagen am Marktplatz und lief um das Auto herum, um Anja die Tür zu öffnen und ihr die Hand zu reichen. Was für ein Kavalier - oder denkt er womöglich, dass ich es in meinem Alter nicht mehr aus dem Flitzer schaffe? Als er aber mit ausgestreckter Hand vor ihr stand, sah sie an seinem glücklichen Blick, dass er es genoss, keine Gelegenheit auszulassen, ihr seine Liebe und seine Aufmerksamkeit zu schenken. Kann er vielleicht meine Gedanken lesen? Viele finden das altbacken, aber ich stehe da total drauf. 

Hand in Hand gingen sie über den Marktplatz und kauften am Käsestand und bei den Gewürzen einige Kleinigkeiten. Sie schaute auf das Dach der Kirche, deren Glocken gerade zu läuten begannen. Auf der Spitze waren Plattformen angebracht, auf denen Störche ihre Nester bauen konnten. Allein auf dem Kirchdach zählte sie vier ausgewachsene Exemplare. Insgesamt kamen Thierry und sie auf elf Vögel, die sich auf den umliegenden Dächern häuslich niedergelassen hatten. 

Ihre imposante Größe und Eleganz erkannte man erst, wenn einer von ihnen seine Flügel ausbreitete und losflog. Kein Wunder, dass sie das Wahrzeichen des Elsass waren. Anja hatte dazu einmal gelesen, dass die Vögel schon fast ausgestorben waren. Um das zu verhindern, gab es seit 1983 einen Verein in Colmar, dessen einzige Aufgabe die Rettung der Störche war.

Heute sahen sie, dass die Rettung gelungen war.

Der verträumt wirkende Marktplatz wurde plötzlich von einem der Störche gestört, der ausgesprochen angriffslustig zu sein schien. Mit wildem Geklapper drohte er einem anderen Paar, das ebenso lautstark sein Nest verteidigte. Ein weiterer Artgenosse kam dem Pärchen zur Hilfe und pickte ihn mit seinem spitzen Schnabel. Jetzt sah der Angreifer ein, dass seine Chancen auf einen Sieg zu gering waren. Er hob ab und flog weg, nicht ohne ein paar Federn zu verlieren. Thierry fing eine davon und gab sie Anja, nachdem er lachend eine Schreibbewegung in der Luft damit gemacht hatte. 

Müde nach der vergangenen Nacht, der vielen frischen Luft und ihren Einkäufen, setzten sie sich zufrieden in ein Straßen-Café und bestellten Kougelhof, eine elsässische Spezialität aus einem Briocheteig, die Anja noch nie zuvor probiert hatte. Generell ließ sie im Supermarkt die Süßigkeiten links liegen. Nicht aus Angst vor den Kalorien, sondern eher, weil sie die herzhafte Küche bevorzugte. Heute, an diesem besonderen und außergewöhnlichen Tag, würde sie eine Ausnahme machen. 

Thierry, der sich zu ihr an den Bistrotisch gesetzt hatte, ließ sie keine Sekunde aus den Augen. Zärtlich nahm er ihre Hand und küsste sie. »You are my colibri.«

Es gefiel ihr, einen Kosenamen zu bekommen, sicher hatte er die Kolibris auf ihrem Kimono bemerkt, doch Thierry hatte schon damit begonnen, eine andere Erklärung in sein Telefon zu diktieren, um ihr die Übersetzung vorzuspielen. Es handelt sich beim Kolibri um einen beeindruckenden Vogel, der nicht allein durch seine Schönheit hervorsticht; seine Flugfähigkeiten sind perfekt auf den jeweiligen Moment abgestimmt. In Thierrys Augen war sie das Idealbild einer Frau. Ihre Grazie, jeder Blick, jede Geste, lösten in ihm Gefühle aus, die ihn ins Herz trafen. Die Art und Weise, in der Kolibris vor einer prächtigen Blüte in der Luft verharrten, waren für ihn ein Zeichen dafür, dass sie die Schönheit eines Momentes erfassen konnten. Auch sie sei in seinen Augen ein solcher Mensch, der immer den richtigen Blick für die schönen Dinge habe. Als Letztes erwähnte er das Herz des Kolibris, welches so schnell schlage, um all die Liebe und Schönheit erst zu ermöglichen.

Anja war berührt. Wann hatte sie zuletzt von einem Mann so viele Komplimente erhalten?

Während sie ihn noch dankbar anlächelte, fiel ihr Blick auf die andere Straßenseite. Dort sah sie eine Familie, die mit ihren beiden Kindern in Richtung Marktplatz ging. Schlagartig trat Ernüchterung ein. Sie dachte an Björn und die Kinder und war sich ihrer Schuld bewusst, eine Ehebrecherin zu sein. Bevor das Schicksal ihr Thierry über den Weg geführt hatte, wäre es für sie undenkbar gewesen, sich auf ein solches Abenteuer einzulassen. Sie war eine verheiratete Frau und Mutter und damit waren andere Männer für sie tabu gewesen. In ihrem bisherigen Leben war das etwas, was es nur in amerikanischen Fernsehserien gab, bei der jeder mit jedem herum machte, aber doch nicht im echten Leben. Da ging so etwas viel langsamer und erforderte Gefühle, die sich über eine längere Zeit aufbauten. Es war dieser Funke, der überspringen musste, dieser besondere Moment, der einem für immer in Erinnerung blieb, den es brauchte, um das innere Feuer zu entfachen. Bei Thierry hatte sie darauf nicht lange warten müssen. Schon im ersten Augenblick auf der Kanalbrücke hatte sie es gefühlt. Das jemandem zu erklären, der es nicht erlebt hat, schien unmöglich. Da war diese Verbindung, als gehörten sie seit einer Ewigkeit zueinander. Ob es ihm auch so ging? Sie wollte ihn gern fragen, entschied sich aber dagegen, da sie befürchtete, dadurch den Reiz des Fremden, des Unbekannten, zwischen ihnen zu zerstören. Ihr rudimentärer Austausch, der in ihren Augen durch die App mehr gestört als unterstützt wurde, war um vieles intensiver als die meisten Konversationen, die sie mit Björn geführt hatte. Darin ging es hauptsächlich um die Kinder oder aktuelle Probleme, aber nie mehr um ihre Beziehung. Bei Thierry hingegen hatte sie das Gefühl, sich völlig fallen lassen zu können und dabei sicher zu sein, dass er ihre Offenheit nicht missbrauchte. Es hatte nur ein paar Stunden mit einem anderen Mann gebraucht, eine frische Liebe, ein paar Aufmerksamkeiten, dass sie die Antworten auf die Fragen, die sie nun schon länger beschäftigt hatte, die ganze Zeit tief in ihrem Inneren gespürt hatte. Warum hatten Björn und sie nicht mehr miteinander harmoniert? Warum hatten sie ihre Liebe einschlafen lassen? Was hatte überhaupt dazu geführt, dass sie mit einem Fremden in einem Café im Elsass saß, obwohl sie eine verheiratete Frau war? Es waren der Alltag, die Probleme, die vielen Aufgaben, die sie gemeinsam zu bewältigen hatten und nicht zuletzt die unausgesprochene Forderung, ihre eigenen Gefühle zu unterdrücken oder hintenanzustellen. 

»Anja? Are you okay?« Die Wärme seiner Stimme holte sie zurück in ihren Traum, den sie gerade erlebte. Sie wollte alle Bedenken über Bord werfen. Man lebt nur einmal und diesen wunderbaren Moment sollte ihr niemand mehr nehmen.

»Yes, I’m fine.« Lächelnd gab sie ihm einen Kuss auf die Wange.

Gemeinsam aßen sie ihren elsässischen Kougelhof und tranken Kaffee. Dabei schauten sie einander verliebt an, vergaßen die Zeit und alles, was um sie herum passierte.


Dunkle Wolken über Stuttgart

Björn Gerlach saß in seinem geparkten Toyota und starrte auf das Armaturenbrett. 

Sein Handy klingelte zum wer weiß wievielten Mal. Er hielt es in der Hand, ging aber nicht ran. Was sollte er auch sagen, was sich anhören? Im Moment gab es für ihn keine Information, die ihn aus dem Loch ziehen könnte.

Er hatte gerade erfahren, dass er in ein paar Wochen nicht mehr leben würde. Schilddrüsenkrebs und Metastasen hatte er noch gehört, dann hatte er zugemacht, als Professor Grünling angefangen hatte, ihm die Vorteile einer guten Palliativmedizin zu erklären. Ab und zu hatte er ›Ja‹ gesagt, war aber in Gedanken bei seinen geliebten Kindern Miriam und Marc gewesen. Was sollte jetzt aus ihnen werden? Anjas Verhältnis zu den beiden war anders als seines. Natürlich liebte sie sie, aber nur er wusste, welches Kuscheltier Miriam mit ins Bett nahm und welcher Superheld Marc am besten gefiel. Von solchen Details hatte sie keine Ahnung. Sein Alltag, in dem er sich wie ein alleinerziehender Vater vorkam. Anjas unermüdliche Arbeit an ihren Büchern hatten dazu geführt, dass sie kaum noch miteinander sprachen und dass dort, wo einst Liebe war, moralische Verpflichtungen und Routinen eingezogen waren. Dennoch spürte Björn, dass er seine Ehefrau in dieser letzten Phase seines Lebens dringend brauchte. Es gab noch so viel zu sagen, so viel zu tun, doch im Moment fehlte ihm dazu jegliche Kraft. Mit starrem, leerem Blick auf das Handy sah er acht verpasste Anrufe. Alle waren von der Studentin Josephine. Sie hatte mit ihren 20 Jahren nicht die nötige Reife, um längere Zeit auf seine M&Ms aufzupassen. M&Ms, so nannten Anja und er Miriam und Marc. Marc war neun Jahre, Miriam sieben. Vor allem der Junge tanzte ihr auf der Nase herum und spielte ihr einen Streich nach dem anderen. Erst letzte Woche war sie ihm wieder auf den Leim gegangen, als er den Zuckerstreuer mit Salz gefüllt und auf ihre Reaktion beim Kaffeetrinken gewartet hatte. Sie hatte den Kaffee quer durch die Küche gespuckt und dann mit den Kindern gelacht. Josephine atmete jedesmal auf, wenn Björn nach Hause kam, denn seine Anwesenheit schien die Kinder zu beruhigen.

Heute fürchtete er sich davor, die kleine Allee herunterzufahren und seinen Wagen wie jeden Tag in die Einfahrt zu stellen. Krampfhaft überlegte er, wie und vor allem ob er es den Kindern sagen sollte. Doch selbst darüber konnte er im Moment nicht nachdenken, denn er schaffte es nicht einmal, einen klaren Gedanken zu fassen. Wieder klingelte das Handy. Auf dem Display erschien Birgits lächelndes Gesicht. Anjas Schwester hatte oft so ein Gespür, das Björn als übersinnlich bezeichnete. Er wusste, dass er sich auf ihre Hilfe beim Sortieren seiner Gedanken verlassen konnte.

Erst zögerte er, doch nach dem siebten Klingeln nahm er schließlich den Anruf wortlos an.

»Hallo Björn, mein Lieber. Ich bin auf dem Weg zu euch. Ich habe den Kindern ein paar Geschenke aus den ...«

»Ich werde sterben«, unterbrach er sie mit tonloser Stimme.

Stille.

»Entschuldigung. Ich habe das, glaube ich, falsch verstanden. Hast du gerade gesagt, dass ...«

»Ein paar Wochen gibt mir der Arzt noch.«

Wieder Stille. 

»Wo bist du jetzt?«, fragte sie ernst.

»Auf dem Parkplatz vor der Post.«

»Ich komme.« Es knackte in der Leitung. Sie hatte aufgelegt. Er mochte das schon immer an ihr. Sie redete nicht lange, sondern glänzte durch Taten.

Er stieg aus dem Auto. Es goss in Strömen. Die Regentropfen fühlten sich gut an auf seiner Haut. Alles fühlte sich gut an, wenn man sich bewusst war, dass es das letzte Mal sein konnte, dass man dieses Gefühl erlebte. Teilweise kam es ihm vor, als würden die Tropfen für ihn in Zeitlupe vom Himmel fallen, um dann auf seinem Handrücken zu explodieren. Vom Tod Auserwählte fühlen anders, dachte er gerade, als Birgit auf den Parkplatz einbog und neben ihm hielt. 

Sie sprang aus dem Wagen, lief ebenfalls wie in Zeitlupe auf ihn zu. Als sie ihre Jacke auszog, um sie beiden als Regenschutz über den Kopf zu halten, nahm die Zeit wieder an Geschwindigkeit zu. Mit der freien Hand ergriff sie seinen Arm und führte ihn zu ihrem Auto. »Du holst dir ja den Tod!«

»Den Tod holen, witzig wie immer.«

Birgit blieb stehen und ließ die Jacke sinken. »Oh mein Gott. Das habe ich jetzt nicht so gemeint. Tut mir leid. Das war taktlos von mir.«

»Hey, schon gut. Mach dir keinen Kopf!« Er setzte sich in den Wagen, dessen Beifahrertür sie inzwischen geöffnet hatte.

Sie schloss die Tür und stieg auf der Fahrerseite ein. Das Auto roch nach feuchtem, kaltem Qualm, genauso eklig wie ihre Jacke. Auf dem Armaturenbrett lag eine Zigarettenschachtel. Er holte sofort zwei heraus und drückte den Anzünder bis zum Anschlag rein. Mit trübem Blick steckte er sich beide in den Mund und wartete auf das erlösende Klicken. Birgit sah ihn vorwurfsvoll und zugleich mitleidig an. Vor zehn Jahren hatte er mit dem Rauchen aufgehört, als der Arzt ihm eine Kehlkopfentzündung diagnostiziert hatte.

»Es ist besser, Sie hören auf zu rauchen. Sonst droht Ihnen Stimmverlust«, hatte der Doktor ihm gesagt.

Björn zog den Anzünder aus der Halterung und machte damit beide Kippen an. Nachdem er die glühende Spirale wieder in die Hülse zurückgeschoben hatte, gab er Birgit eine, nahm einen tiefen Zug von seiner eigenen und musste furchtbar husten. 

»Die erste war immer die schlimmste«, sagte er, nachdem er sich vom Husten erholt hatte. Routiniert zog er an seiner Zigarette. Es schien ihn zu beruhigen.

»Sag bitte den Kindern nichts davon.«

»Dass du rauchst?«

»Ja, das auch.« Er zog an der Zigarette, atmete den Rauch tief ein und ließ ihn langsam durch seine Nase austreten. »Ich meinte das mit dem Krebs. Sie sollen es nicht wissen.«

»Du kannst es ihnen nicht verheimlichen.«

»Verheimlichen nicht, aber ich brauche etwas Zeit, damit ich die richtigen Worte finde. Die Kinder sollen sich sicher fühlen. Aber im Moment habe ich überhaupt keine Idee, wie ich ihnen eine sichere Zukunft garantieren soll. Anja ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Ich fürchte, dass sie ihren Unmut über die Situation an den Kindern auslassen wird. Die Arme hat sich alles so schön aufgebaut und nun das.«

»Jetzt hör aber mal auf! Dein ewiger Altruismus macht mich noch wahnsinnig. Du erfährst, dass du todkrank bist und hast nichts Besseres zu tun, als an alle anderen zu denken, statt an dich.«

Björn antwortete nicht. Er war mit seiner Zigarette beschäftigt, an der eine lange Aschespitze darauf wartete im vollen Aschenbecher zu landen. Die Mission ging schief. Die Asche verteilte sich auf den Armaturen. Er begann, daran herumzuwischen. Birgit bremste seine Hand und hielt sie fest.

»Wir haben jetzt Wichtigeres zu tun.« Sie sah ihm tief in die Augen. 

Ihrem Blick standzuhalten, war ihm noch nie gelungen. Er drehte seinen Kopf weg und schaute auf die inzwischen von innen beschlagene Windschutzscheibe. Er hielt seinen Handballen gegen die Scheibe, machte am oberen Ende einen Punkt mit dem Daumen und vier kleine Punkte mit dem Zeigefinger. Die Figur ähnelte einem kleinen Kinderfuß. Als er einen zweiten Fuß daneben gemalt hatte, fing er endlich an zu weinen. 

»Die Kids sind doch noch so klein. Sie werden es nicht verstehen.«

»Erst du, habe ich gesagt. Hast du den Befund?«

»Im Auto. Auf dem Rücksitz.«

Kaum hatte er das ausgesprochen, sprang sie aus dem Wagen, holte den Befund und begann sofort, ihn zu studieren.

Sie blätterte dabei mehrfach hin und her, machte sich Notizen in ihrem Handy, suchte nach Fachbegriffen, bis sie den Bericht beiseitelegte.

»Wie genau hast du deinem Onkologen zugehört?«

»Ehrlich gesagt nur am Anfang, weil …« 

Birgit unterbrach ihn. 

»Im Arztbericht steht, dass es zwei Formen der Therapie gibt, die dir helfen können, den Krebs zu besiegen. Es heißt, dass zwei von zehn Patienten die Therapie inzwischen schon zehn Jahre überlebt haben und praktisch krebsfrei sind. 

Bei einer Studie der Universitätskliniken in Halle hat man diese Ergebnisse mit Entfernung der betroffenen Organe und Lymphknoten und einer anschließenden hochthermischen Chemotherapie erreicht. Die sagen, dass es noch Chancen gibt!

Eine weitere Studie läuft gerade in Israel, von der sich die Besucher eines onkologischen Kongresses in Paris noch viel mehr versprechen. 

Beide Behandlungen werden nicht von der Krankenkasse übernommen. Halle kostet 40 000 Euro und Tel Aviv 95 000 Euro.«

»Ist alles Quatsch!« Er hatte sich die nächste Zigarette angezündet. Dieses Mal, ohne Birgit eine anzubieten. »Die wollen doch nur abkassieren.«

»Glaub ich nicht. Ich bin mir zumindest beim Universitätsklinikum in Halle sicher, dass es da so etwas wie eine Überwachung gibt. Das werden die echten Kosten sein, die die Kasse nicht übernehmen kann, weil es ein noch nicht zugelassenes Verfahren ist.«

Björn blies kleine Ringe mit dem Rauch seiner Zigarette und schien zu überlegen, doch Birgit war sich sicher, dass sie ihn noch nicht überzeugt hatte. Das durfte nicht das Ende sein.

»Björn, ich habe für Notfälle wie diesen gespart. Sicherlich kann ich nicht die gesamte Summe bezahlen, aber zusammen schaffen wir das. Du musst unbedingt nach Israel. Zwanzig Prozent ist mir zu riskant.«

»Wir sollten diesen Quatsch lassen und unser Geld für die Erziehung und Ausbildung der Kinder anlegen. Lass uns lieber einen Plan schmieden, wie wir die M&Ms versorgen!«

»Verdammt, Björn! Jetzt hör aber mal mit deinem ewigen Fatalismus auf! Wir sollten jede Chance nutzen.«

Er kaute auf seinen Fingernägeln. Dann drückte er die Zigarette energisch auf dem Stapel im Aschenbecher aus, als sei seine Entscheidung gegen weiteres Nikotin gefallen. Birgit hatte recht, er musste kämpfen, für seine Kinder da sein. Es gab keine Zeit für Selbstmitleid. Solange es Hoffnung gab, musste man sie nutzen.

»Anja muss kommen. Ohne sie kann ich keine Entscheidung treffen. Es sind schließlich auch ihre Kinder.«

»Und du bist ihr Mann. Ich werde sie holen. Es wird echt mal Zeit, dass sie mein altes Handy bedienen lernt. Das liegt doch bestimmt hier in Stuttgart auf ihrem Schreibtisch.«

»Du kennst deine Schwester sehr gut. Ja, sie hat es wieder einmal nicht mitgenommen.«

»Typisch. Komm, wir fahren zu dir nach Hause und ich mache uns einen schönen Kaffee.«

»Das klingt nach einem Plan. Danke, dass du immer für mich da bist, Birgit.«

Sie startete den Motor. 

»Ich fahre mit meinem …«

»Du solltest in diesem Zustand nicht selbst fahren. Ich hole den Wagen später.«

»Danke.«

Sie öffnete die Fenster, da es inzwischen aufgehört hatte zu regnen. Das Regenwasser verdampfte auf dem Asphalt. Das hatte einen so speziellen Duft, der sie an ihre Kindheit erinnerte, sie konnte es fast schmecken.

Nach einem tiefen Seufzer lehnte Björn den Ellbogen aus dem Fenster, legte seinen Kopf auf den Arm und genoss den Fahrtwind.


— Ende der kostenlosen Leseprobe -


Weiter geht es bei   


https://www.amazon.de/Ein-Hauch-Sandelholz-Rose-Bush-ebook/dp/B0B1JDW4NH


Kommentar veröffentlichen

Neuere Ältere

+++Werbung +++

Bücher von Axel Aldenhoven

نموذج الاتصال