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Seriosha war auf dem Weg ins Kino ...

 ... als sie ihn plötzlich umzingelt, zusammengetreten und auf die Pritsche des Militärtransporters gezwungen hatten.

Im RUP-Verlag erscheint in Kürze eine Antikriegs Anthologie mit Beiträgen von mindestens 40 Autoren. Meinen Beitrag darf ich – in Absprache mit dem Verleger – schon vorher veröffentlichen.

Wenn ihr den traumatisierten Menschen etwas gutes tun wollt, könnt ihr an folgende Aktion spenden:


Hilfe für traumatisierte Kinder, Jugendliche und Eltern aus Kriegsgebieten


https://www.betterplace.org/de/projects/29078-hilfe-fuer-traumatisierte-kinder-jugendliche-und-eltern-aus-kriegsgebieten

Betreff:   
Spende – Antikriegsbuch RUP – und euren Namen

Auf das folgende Konto überweisen: Roland Adelmann IBAN DE50 4305 0001 0133 3007 64


MILITÄRISCHE SONDEROPERATION

Foto: 464014086 von depositphotos.com

 

  »Mama?« Den Kopf eingezogen steht er da in seiner eingepissten Militäruniform. Die junge Frau hat ihm eine Decke umgelegt, nachdem ihn Nachbarn aus dem Graben gezogen hatten, in dem er bewusstlos gefunden worden war. Er weiß nicht, wie er in ihr Dorf gekommen ist, aber irgendwann war er auf dem Rücksitz des alten Polo aufgewacht. Das Väterchen hatte bemerkt, dass er sich bewegt hatte und ihm gesagt, dass er keine Angst haben müsse. Sein eigener Sohn wäre auch in diesem Scheißkrieg.

  »Seriosha, ach mein Seriosha.« Mama weint. Wie schön es ist, ihre Stimme zu hören, wenn denn überhaupt noch irgendwas schön sein konnte. Er hatte nach drei endlos wirkenden Tagen und Nächten aufgehört zu zählen, wie lange er da draußen wohl gelegen hatte. Hauptsache überleben, hatte er sich immer wieder gedacht. Hauptsache überleben.

  »Alle sind tot, das ganze Bataillon. Nur mich haben sie nicht erwischt, weil ich unter Grisha gelegen habe.« Seine Kehle fühlt sich kratzig an. Er war nicht verletzt worden, er war einfach schwach. Übermüdet, ausgebrannt und völlig dehydriert.

  »Grisha?« Er hört Mamas Stimme so gern. Sie beruhigt ihn etwas. Die Sorgen, die sie sich immer unbegründet gemacht hatte … jetzt hat sie allen Grund dazu.

  »Tot!« Genau so kalt wie Grishas Körper ist dieses Wort aus ihm herausgebrochen, digitalisiert worden, um an Mamas Ohr in voller Grausamkeit wieder als analoges Grauen zu materialisieren.

  »Aber ihr wolltet doch nur ins Kino, und als du nicht nach Hause gekommen bist, habe ich versucht, dich anzurufen, Junge.« Mama war schon immer gut darin, eine heile Welt sehen zu wollen. Ja … sie wollten nur ins Kino. Da gab es ´nen neuen Kriegsfilm, in dem es richtig abgehen sollte. ´n bisschen Alkohol hatten sie vorher getrunken. Nüchtern kamen solche Filme nur halb so gut und im Kino war der Alk zu teuer. Meistens gab´s billigen Schnaps, aber an dem Abend hatte Boris zwei Flaschen Jägermeister aus seinem Rucksack geholt. Es war ihnen gut gegangen, bis plötzlich der LKW neben ihnen angehalten hatte. Arme Schweine, hatte er noch gedacht, aber dann …

  »Die haben mir alles weggenommen, Mama. Mein Handy, meinen Pass.« Er schluchzt und bekommt Atemnot. Wie einen Verbrecher hatten sie ihn behandelt. Gleich nachdem sie seinen Pass kontrolliert hatten, hatte er nach ein paar Tritten und Schlägen auf der Pritsche zwischen all den anderen Jungs gesessen. Sein Handy, Autoschlüssel, Geld, alles einkassiert. Sein Gesicht hatte gebrannt. Einer der Soldaten hatte es auf den, vom Schwager des Bürgermeisters frisch gepflasterten Gehweg geknallt und sich dann draufgekniet, während seine Kameraden zugetreten hatten, bis er sich nicht mehr zur Wehr gesetzt hatte.

  »Grisha, Boris, Maxim … sie haben uns alle auf den LKW gejagt, haben gesagt, es gäbe eine Militärübung. Dann haben sie uns in einer Kaserne eingekleidet. Da waren viele andere junge Männer … keiner wusste was los ist.« Er trinkt einen Schluck gesüßten Tee, der ihm von der freundlichen jungen Frau gereicht worden war. »Mama, sie haben uns in einen Zug gesteckt, zusammengepfercht wie Tiere.« Keiner hatte gewusst, was auf sie zukam. Der Typ neben ihm hatte sich eingeschissen. Seriosha hatte gewusst, dass das nicht das größte Übel sein sollte, das er in der kommenden Zeit erleben würde.

  »Junge! Wann kommst du nach Hause?« Nach Hause? Ob sie es immer noch nicht weiß?

Er lacht irre und hört sich an wie eine verhungernde Hyäne: »Nach Hause? Gibt es das noch? Zuhause? Sie wollen ihr ganzes Arsenal abfeuern. Mama! Die bringen den ganzen scheiß Planeten um!« Er hatte es von Boris gehört. Boris war Hacker und hatte sich in einem unbemerkten Moment ein Handy aus der Tasche eines gefallenen Leutnants geklaut. In der Nacht hatte er sich dann in einigen internationalen Foren informiert. 

  Die haben uns angelogen, hatte er geflucht. Die hauen alles raus, was es gibt, auch Atomwaffen. 

Seriosha und die anderen Jungs hatten ihm nichts geglaubt, dann hatte Boris die Videos und Chats gezeigt. 

  Ich muss Mama anrufen, hatte Seriosha gesagt. 

  Die anderen hatten ihn ausgelacht. 

  Damit sie sich versteckt?, hatten sie gefragt. 

  Wofür?, hatten sie gefragt. 

  Danach gibt es nichts mehr!, hatten sie ihn angebrüllt.

  »Wie kannst du sowas sagen, Junge?« Sie weiß absolut nichts. Vielleicht ist es besser so. Besser, sie stirbt in dem Glauben an das Gute im Menschen, dem Glauben, dass ihre Kinder ein Leben in Frieden leben können. Mama hatte die Berliner Mauer fallen sehen. Sie hatte das Ende des Kalten Krieges miterlebt. Es war falsch gewesen, sie anzurufen, aber er hatte ihr doch nur sagen wollen, dass er es bis hierhin geschafft hatte.

  »Hinter unserer Truppe war eine weitere. Die haben die Verwundeten erschossen. Die eigenen Leute, Mama. … ich habe ganz ruhig dagelegen unter Grisha. Boris hat mich verzweifelt angesehen und gestöhnt. Dann haben sie ihm den Schädel weggeballert … unsere Leute, Mama.« Er wollte, er hätte diesen traumatischen Moment ausgeblendet.  Davon gehört hatte er schon, dass Menschen sich später an traumatische Erlebnisse nicht mehr erinnern konnten. Die hatten dann einfach einen Filmriss gehabt. Aber dieses Glück hatte Seriosha nicht. Eigentlich hatte er noch nie Glück gehabt und dachte das auch in diesem Moment. Hätten sie mir doch den Schädel weggeschossen, ich hätte Mama nicht angerufen und beunruhigt, ich hätte nicht die Erinnerung an Boris und an das Projektil, das ihm die halbe Schädeldecke wie in Zeitlupe weggeschoben hat. Außerdem müsste ich nicht den Weltuntergang miterleben.

  »Das bildest du dir ein, Junge. Das kann nicht…«

  »Jede einzelne verdammte Silbe ist wahr, Mama. Hinter den Soldaten kamen Laster. Dann ein feindlicher Beschuss, den Moment habe ich ausgenutzt … bin weggekrabbelt in einen Graben, der mit viel Gras bewachsen war. Da habe ich mich versteckt.« Mit letzter Kraft hatte er es geschafft, das will er Mama nicht sagen. Die macht sich eh schon zu viele Sorgen.

  »Junge, ich freue mich so sehr, dass du noch lebst.« Wie hatte er das vermisst? Wie sehr hatte er sich das gewünscht? Mama sollte ihrem braven Jungen ein Eis kaufen und mit ihm im Park sitzen und er wollte wieder sechs Jahre alt sein. Das war eine der schönsten Erinnerungen, eine Erinnerung an damals, damals als die Welt noch in Ordnung gewesen war.

  »Ich nicht, Mama. Das werde ich nie vergessen.« Er trinkt noch einen Schluck Tee, dann bricht es aus ihm heraus. »Die Schweine haben meine Freunde aufgehoben … vielmehr das, was noch von ihnen übrig war … dann haben sie in Röhren gesteckt, die hinten in den Lastern standen. Klappe zu und dann auf ´nen Knopf gedrückt. Dann hat es gequalmt und gestunken. Oben aus dem Laster kam ekeliger Rauch. Die haben meine Kameraden verbrannt. Die haben Grisha, Boris und Maxim verbrannt.« Er trinkt noch einen letzten Schluck Tee aus dem neuen Becher, der ihm gerade gereicht wurde. Er hat einen solchen Durst. »Mama. Die hätten mich auch verbrannt, wenn sie mich erwischt hätten.« Aus seinem leeren Kopf fließen die Tränen, während er sich daran erinnert, wie es war, als er im Graben gelegen hatte, im Graben gelegen und einfach nur zugesehen … was sie mit seinen Freunden gemacht hatten … mit seinen Freunden, mit denen er doch eigentlich nur ins Kino hatte gehen wollen … mit seinen Freunden, mit denen er im Rekordtempo zwei Flaschen Jägermeister geleert hatte. 

Seine Freunde … sind … tot. 

Aber es gibt keine Beweise dafür.

  »Das kann doch unmöglich stimmen.« 

Seriosha kommt eine Idee. Mama muss die Stadt verlassen. Sie kann mit dem Zug aufs Land zu Tante Irina fahren. Das ist weit genug weg.

  »Mama. Pack eine Tasche und sieh zu, dass du da wegkommst. Der ist verrückt geworden, Mama. Dieser Putin ist unbe … Mama?« Panik steigt in ihm auf. »Mama!! Mama!!!!«

  Die Leitung ist tot.

 

 

 

In einem Krieg sind alle Opfer

 

3 Kommentare

  1. Hi Axel!
    Ich habe das gerade erst gefunden. Gut geschrieben, aber zwei Kritikpunkt:
    1 - Die Erwähnung von Putin am Ende nimmt durch die Konkretisierung der Geschichte das symbolhaft Atmosphärische, das trotz der Namen beinahe Anonyme und Allgemeingültige für einen Krieg. Grisha, Boris und Seriosha können jeder sein. Jedes arme Schwein. Dann plötzlich eine reale Figur zu nennen passt hier meiner Meinung nach nicht und macht die Geschichte zu sehr persönlich und auf Putin zugeschnitten. Die Aussage der Geschichte geht jedoch über das hinaus, was momentan in der Ukraine geschieht.
    2 - Der letzte Satz (in einem Krieg...) ist schlicht überflüssig. Gib dem Leser keine definierte Schlussfolgerung vor. Lass sie einfach auf ihn wirken!

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    1. Danke Dir, Cliff. Putin zu erwähnen als aktuell größtes Risiko für einen Atomkrieg, sehe ich in dem Kontext nicht als verkehrt. Die Story ist ja konkret auf die aktuelle Situation in der Ukraine geschrieben. Dennoch gilt nach wie vor die richtig interpretierte Schlussfolgerung, dass im Krieg Menschen durch Menschen sterben. Die Namen könnte man auch auf andere Spezies anwenden, wenn es nicht gerade die Menschen wären, die es nicht verdient haben, diesen wunderschönen Planeten zu bevölkern. Vor allem die Gierhälse, die über Leichen gehen. Aber ich freue mich immer über jede Art von Kritik. Der Krieg den die Großmächte schon seit Ewigkeiten auf immer wieder anderen Territorien führen, ist eine unverschämtheit. Alle paar Jahre werden die Tatsachen verdreht, um weiter die alten Waffenbestände zu zerstören und der Waffenindustrie die Gelegenheit zu geben, noch mehr, noch besser zu töten. Einfach widerlich.

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  2. Hi Axel!
    Ich habe das gerade erst gefunden. Gut geschrieben, aber zwei Kritikpunkte:
    1 - Die Erwähnung von Putin am Ende nimmt durch die Konkretisierung der Geschichte das symbolhaft Atmosphärische, das trotz der Namen beinahe Anonyme und Allgemeingültige für einen Krieg. Grisha, Boris und Seriosha können jeder sein. Jedes arme Schwein. Dann plötzlich eine reale Figur zu nennen passt hier meiner Meinung nach nicht und macht die Geschichte zu sehr persönlich und auf Putin zugeschnitten. Die Aussage der Geschichte geht jedoch über das hinaus, was momentan in der Ukraine geschieht.
    2 - Der letzte Satz (in einem Krieg...) ist schlicht überflüssig. Gib dem Leser keine definierte Schlussfolgerung vor. Lass sie einfach auf ihn wirken!

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