ZACSF2024_045

Der Heiligenschein

von
Anja Stürzer 





„Aber wieso diese Flügel...?“

Verständnislos flackernd umkreiste der leuchtende Bewusstseinspunkt den androgynen Cyborg, der, magnetisch an den Metallboden gebannt, reglos in der Lichtschleuse des Raumschiffs stand. Lediglich die schwarzen Augen des Cyborgs rotierten schwerelos in ihren Höhlen und versuchten, die beiden fliegenden Lichter im Blick zu behalten, die ihn erschaffen hatten. 

Abgesehen von einem ärmellosen, fließenden Überwurf, dessen silbriger Saum den Boden berührte, war der Cyborg unbekleidet. Die Haut seiner nackten Arme schimmerte rötlich und täuschend lebendig im Schein der aufgehenden Sonne, die duch die Lichtschleuse ins Innere des Raumschiffs drang. Seinen schmalen Kopf zierte ein metallisch glänzender Helm. Über den makellosen, geschmeidigen Schultern ragten zwei schneeweiß befiederte Flügel in die Höhe.

Der flackernde Punkt verharrte über den Flügeln. „Physiologisch vollkommen sinnlos, da viel zu klein dimensioniert, um das Gewicht in der Luft zu halten! Außerdem unnötig. Wir nutzen doch einen lunaren Landestrahl, der die Schwerkraft aufhebt. Oder etwa nicht?“ 




Der zweite Lichtpunkt verblasste kurz ob der impliziten Kritik, fing sich aber sofort wieder. „Selbstverständlich nutzen wir weiterhin das bewährte Landestrahlverfahren,“ pulste er zurück. „Was die Flügel betrifft: Das hat kulturelle Ursachen, Euer Eminenz. Die dominante Spezies auf diesem Planeten imaginiert den Weltraum als sakrale Sphäre und Wohnort einer allmächtigen und allwissenden Gottheit, welche von Zeit zu Zeit Geistwesen als Gesandte zu ihnen auf die Erde schickt. Traditionell sind diese imaginären Geistwesen mit rückwärtigen Flügeln ausgestattet. Ein rein optisches Merkmal.“

„Das ist mir selbstverständlich bekannt,“ sendete die Eminenz, „aber was interessiert uns dieser ganze Zirkus? Sie wissen doch, dass ich Metaphysik verabscheue. Warum nicht ein einfaches, bipedisches, an die dominante Spezies angepasstes Modell nutzen? Nach dem zweigeschlechtlichen Fortpflanzungssystem? Ein besonders attraktiver Sexualpartner würde doch für unsere Zwecke vollkommen ausreichen!“

„So einfach ist es leider nicht,“ pulste sein Gegenüber zurück. „Unglücklicherweie reagiert die dominante Spezies ausgesprochen intolerant auf nicht sozial angepasstes beziehungsweise kulturell divergentes Verhalten einzelner Individuen, insbesondere was den Sexualbereich betrifft… Wir haben bereits mehrere äußerst vielversprechende Fortpflanzungsobjekte verloren, weil diese kurz nach unserem Besuch von ihren Artgenossen mit Steinen erschlagen wurden.“

Die Eminenz signalisierte flackernd einen Seufzer. „Nun gut. Dann also mit Flügeln… Gehen Sie runter, ich gebe die Mission frei. Wie ist die zeitliche Prognose?“

„In etwa neun Mondumläufe, Euer Eminenz, sofern die Paarung diesmal wie vorgesehen funktioniert und keine weiteren Zwischenfälle eintreten.“

„Weitere Zwischenfälle…?“

„Mit Verlaub Eurer Eminenz, die dominante Spezies zeigt leider nicht nur den arteigenen Fortpflanzungsobjekten gegenüber ein intolerantes Verhalten.“ Zu Demonstrationszwecken flog Lichtpunkt Zwei nah an den Cyborg heran und umrundete ihn von oben bis unten. „Wie Ihr sehen könnt, Euer Eminenz, haben wir die beiden Antennen unter den seitlichen Schutzscheiben des Helms versteckt, hier, hinter den beiden akustischen Organen, und die magnetischen Füße haben wir unter einem langen Rock verborgen.“ Sein Pulsieren wurde hektischer. „Diese konstruktiven Anpassungsmaßnahmen sind eine Reaktion auf die Zerstörung der beiden Prototypen, die wir im letzten Sonnenlauf auf den Planeten geschickt hatten.“

„Erhellen Sie mich. Was genau war das Problem?“ 

„Nun, nach der Landung schien zunächst alles nach Plan zu verlaufen. Unsere beiden Cyborgs begaben sich zu den Wasserstellen in der Nähe der Dörfer und nahmen Kontakt zu möglichen Fortpflanzungsobjekten auf. Wenig später riss jedoch die Verbindung ab. Wir schickten eine Kontrollleuchte runter.“ Der Lichtpunkt wurde blass und sein Pulsieren verlangsamte sich. „Alles, was wir finden konnten, waren zertrümmerte und oxidierte Überreste. Wir führten eine weitere kulturelle Recherche in den nicht biologischen Datenregistern durch. Anscheinend imaginiert die dominante Spezies nicht nur gutartige göttliche Boten, sondern auch malevolente Geistwesen, die sie an Hörnern und Klumpfüßen zu erkennen glaubt – Körpermerkmalen anderer, für unsere Zwecke ungeeigneter Lebensformen auf diesem Planeten. Diesen hybriden Geistwesen gegenüber verhält sich die dominante Spezies leider ausgesprochen aggressiv. Zwei unserer Lichter sind erloschen.“

„Dann ergreifen Sie doch entsprechende Maßnahmen.“ Die Eminenz strahlte energisch. „Wie Sie wissen, sind wir nur noch sehr wenige, und die Vermehrung unserer Spezies hat oberste Priorität! Wir können uns keine weiteren Verluste dieser Art leisten!“

Lichtpunkt Zwei leuchtete auf. „Heißt das, ich habe endlich Autorisierung zur Aufhebung der Naturgesetze?“

Die Eminenz verdunkelte sich einen Moment lang. Dann signalisierte sie ein entschlossenes „Wenn-es-sein-muss-und-gar-nicht-anders-geht – Ja!“ 

Optisch jubilierend flog Lichtpunkt Zwei um den geflügelten Cyborg herum, bis dieser seine Augen nach hinten drehte und die Schaltzentrale in den leeren Augenhöhlen sichtbar wurde. Lichtpunkt Zwei schwebte hinein und verschmolz mit dem Elektronenhirn, woraufhin die Augen des Cyborgs wieder in ihre ursprüngliche Position zurück rotierten. Jetzt waren sie nicht mehr schwarz, sondern glänzten hell. 

„Ich werde die Mission diesmal persönlich leiten“, pulste es aus den Augen des Cyborgs, als er sich nach Aufhebung der magnetischen Sperre mit schwerelos gleitenden Schritten zur Landekapsel begab. „Euer Eminenz kann sich auf mich verlassen!“

„Das tue ich!“, entgegnete die neben ihm herschwebende Eminenz. „Aber behalten Sie das Prozedere für sich. Normalerweise widerspricht die Aufhebung der Naturgesetze ja unserem Verhaltenskodex. Nach dem Desaster auf Dgl939wutAy0b denke ich jedoch, dass eine Ausnahme in diesem Fall gerechtfertigt ist. Hauptsache, Sie infizieren endlich eine biologische Einheit!“


***


Im folgenden Sonnenumlauf wurde an einem heißen, trockenen Ort auf dem blauen Planeten Terra am Kreuzungspunkt des zweiundreißigsten nördlichen Breiten- und des fünfundreißigsten östlichen Längengrades ein ungewöhnliches Kind geboren, das sich bald durch frühreife Weisheit, wundersame Taten und revolutionäre Ansichten auszeichnete. Schon in ganz jungen Jahren ging ein inneres Leuchten von ihm aus, das den kargen Raum erstrahlen ließ, in dem die kleine Familie aufgrund der herrschenden Wohnungsnot gemeinsam mit ihrem Vieh hauste. Gern und oft erzählte seine Mutter von der denkwürdigen Begegnung mit einem überirdisch schönen, geflügelten Himmelsboten, die der Geburt ihres Kindes vorausgegangen sein sollte. 

Aufgrund seines außergewöhnlichen Charismas sowie seiner verblüffenden Fähigkeit, die Naturgesetze auszuhebeln, scharte der Heranwachsende schnell eine große Schar Anhänger um sich, die ihm auf Schritt und Tritt folgten und jedes Wort aufzeichneten, das er von sich gab. Sein Leben stand ganz offensichtlich unter einem besonderen Stern. Gern sprach er in Rätseln und Bildern, die sich der Metaphorik des Lichts bedienten. So lehrte er unter anderem, dass man selbiges nicht unter den Scheffel stellen dürfe, vielmehr mit guten Taten als leuchtendes Beispiel vorangehen müsse. Auch behauptete er mitunter, er sei „das Licht der Welt.“ 

Mit der Zeit wuchs sein Einfluss ebenso wie sein Ruhm, und wo immer er hinkam, wartete schon eine große Menge, die den wundertätigen Propheten sehen wollte. Einige sahen einen zukünftigen politischen Führer in ihm, andere glaubten gar, er sei göttlichen Ursprungs. So oder so erhoffte man sich Großes von ihm. 

Insbesondere seine Ansichten eine immaterielle, unsterbliche „Seele“ betreffend, die dem Körper innewohne, sowie seine kompromisslose Ablehnung weltlicher Macht machten ihn etlichen einflussreicheren Zeitgenossen jedoch so suspekt, dass ein geheimes Komplott gegen ihn geschmiedet wurde. Mitten in der Nacht wurde er in einem dunklen Garten festgenommen, am Tag darauf öffentlich verhört und unter fadenscheinigen Vorwänden exakt dreißig Jahre nach seiner Geburt zum Tode verurteilt. 

Aufgrund der am Exekutionstag herrschenden gewittrigen Wetterlage war dabei ein seltsames Phänomen deutlich zu erkennen, das in späteren Darstellungen des Ereignisses als „Heiligenschein“ interpretiert wurde: eine große Anzahl von Lichtpunkten, die den Sterbenden in Scharen verließen und um seinen Kopf herum eine leuchtende Aureole bildeten. 

Das Raumschiff hingegen, das einen erdnahen, stationären Kurs in der Umlaufbahn hielt und die himmelwärts fliehenden Lichtpunkte aufnahm, blieb an diesem Tag hinter der dichten, bedrohlich dunklen Wolkendecke verborgen – anders als dreißig Jahre zuvor bei seiner Geburt, wo es einem leuchtenden Stern gleich weithin sichtbar am Firmament gehangen hatte. 


8 Kommentare

  1. Toll! Für mich mit eine der besten Stories hier!

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  2. Die Story an sich ist gut angelegt, verliert aber in der zweiten Hälfte leider an Fahrt. Mir gefiel die Motivation und die Überlegungen dazu. Mir hätte weiter gefallen zu erfahren, vielleicht nur ein Halbsatz, wie die Lichtpunkte mittels des Androiden ein irdisches Kind zeugen wollen.

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  3. Zwei Drittel Exposition, ein Drittel Plot. Und der kommt dann auch nicht sonderlich überraschend daher ...

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    1. Hi, auch hier -- wie schon bei anderen Kommentaren/Textbeiträgen -- fällt auf, dass du bei allen Geschichten nur EINE Form zu akzeptieren scheinst: Die realistisch wirkende, klassische SF-Story. Damit schneiden alle humoristischen, satirischen oder grotesken Geschichten als 'miserabel' ab.
      Du scheinst die Sorte Text entweder nicht zu mögen oder nicht zu verstehen. Klar, auch dieser hier hat ein paar 'Löcher, aber sollte nicht eisern an oben genannten Parametern zerschellen ;) Das erscheint mir als 'oberflächlich' bzw. unzutreffend.

      Gruß von Flac

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  4. Ich habe die Story gern gelesen. Natürlich gibt es auch hier den üblichen 'Logikfehler', dass nur eine Religion bedient wird, und den Zusammenhang zwischen Cyborgkonstruktion und Jesus-Geschichte habe ich nicht recht verstanden. Am Beginn der Story ist es zudem etwas verwirrend, dass nicht sofort klar ist, dass es ZWEI Lichter sind, die sich unterhalten (da könnte man nachbessern). Und ja, der zweite Teil hätte knackiger und auch kürzer sein dürfen. Dennoch, viele wunderbar witzigen Formulierungen und damit verbunden 'Verfremdungseffekte' machen die Geschichte zu einem unterhaltsamen Spaß. Daher vn mir insgesamt Daumen hoch.

    Gruß von Flac

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  5. Die Jesusgeschichte "neu" gedacht.
    Nun, wenn man sich mit der Erfindung der Religion(en) auskennt, weiß man, dass die "Jesus-Geschichte" auf alle Götter der letzten 40 000 Jahre passt. Von Horus angefangen, über Mithras, Dionysos, Krishna, Balder und auch Jesus. Die Lore ist immer die gleiche, stets immer ein wenig angepasst. Da hätte die Autorin besser recherchieren sollen und vlt eine auf dieser Lore basierende Story um den Ursprung, als vor Horus ansetzen sollen, anstatt explizit auf Jesus zu verweisen.

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  6. Hm, ich wüsste nicht, was sich durch Jesus verbessert hätte. Im Religionseifer wurden viele Kriege begangen. Auch wenn er friedvolles Handeln/Reagieren als Grundlage des christlichen Glaubens propagiert hat, ganz im Gegensatz zum Alten Testament. Aber die ganze Idee gefällt mir und es ist auch spannend und flüssig geschrieben.

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  7. Nachtrag: Die Darstellung des Teufels mit Hörnern und Hufen ist eine sehr moderne, die es zu Zeiten von Jesus noch nicht gab. Luzifer war ein gefallener Engel, also auch in der Gestalt her engelsgleich. Er soll sogar einer der schönsten Engel gewesen sein. Abseits davon gab es aus der antiken Überlieferung noch die Schlange als Verführer im Buch Genesis. Aber die Vorstellung eines roten Teufels a la Hellboy ist definitiv jüngeren Datums.

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