Misch dich nicht ein!
vonClaas Gerald Gerdsen
„Was ist Vergangenheit? Könnte es sein, dass die Unverrückbarkeit der Vergangenheit nur eine Täuschung ist? … dass die Vergangenheit ein Kaleidoskop ist, ein Bildermuster, das sich bei jeder Störung durch einen plötzlichen Windhauch, durch ein Lachen, einen Gedanken verändert?“
Gedanken des Menschen A. Lightman in dem Buch:
„Und immer die Zeit. Einsteins Dream.“
Erde / München, Europa – 1994 Lokalzeit
Langeweile
Warteraum - Lokalzeit
„Besuchen Sie die Erde, solange es noch geht!“ Der Slogan ist albern und die MarketingBots von OmniCluster wissen das. Seit wir die Zeit rekombinieren können, ist es egal, wann wir starten. Ich habe mich dennoch überreden lassen. Was soll ich sonst tun, mit meiner Zeit?
Also sitze ich im Transfer-Raum und warte. „Die Erde ist etwas besonderes“, flüstern mir die HoloAdds ins Ohr. Wen wollen sie eigentlich überzeugen? Ich habe doch schon gebucht. Am Ende ist es immer das Gleiche. Jeder Planet ist besonders. Ich frage mich trotzdem, ob das eine gute Idee war. Meine wievielte Reise ist das eigentlich? Wie viele Planeten habe ich gesehen? Erinnerungen reihen sich aneinander wie Perlen auf einer Schnur und verschwimmen wieder im Nebel vergangener Zeit. Mir ist langweilig und weil ich nichts anderes zu tun habe, frage ich QuantAssist, meinen persönlichen Assistenten, über den Link nach den fehlenden Informationen. Gedächtnis ist nicht so wichtig, solange der Quantenlink steht. Also seit ich geschlüpft bin.
[Frage:] „Wie viele Planeten habe ich bis jetzt besucht?“
Das QuantAssist liefert mir eine Zahl, mit der ich nicht viel verbinden kann. Mehr als zweitausend. An die meisten dieser Planetenreisen kann ich mich kaum erinnern.
Jetzt also die Erde. Ich erspare es mir, im Katalog nach dem echten Namen zu schauen und übernehme den einheimischen Namen. Die HoloAdds geben mir Einzelheiten: Dritter Planet einer Sonne vom Typ-G1, 72% der Oberfläche besteht aus flüssigem Wasser, es gibt fünf Kontinente mit Kontinentaldrift. Ich habe lange keine vulkanische Welt mehr besucht. Die Atmosphäre besteht aus Stickstoff, Sauerstoff und ein paar Edelgasen. Zu der Zeit, in die ich reisen will, ist das alles ohne Schutzanzug für mich atembar. Der Planet hat ein Magnetfeld, das kosmische Strahlung ablenkt. Das ist gut, sonst hätte ich meinen Schutzanzug anziehen müssen. Ich hasse dieses Ding. Die Mikrobenfilter reichen mir.
Die technologisch beherrschende Spezies heißt Mensch. Sie ist irgendwo zwischen Kohle- und der Kernfusion stecken geblieben. Sonnenstrom und Windgeneratoren haben sie zwar, aber sie nutzen sie kaum. Rückständig, wirklich rückständig. Soweit waren wir vor über viertausend Jahren. Sie sind nicht fortschrittlich genug für die Aufnahme in den OmniCluster. Sie messen sogar die Zeit noch anhand der Sonneneinstrahlung. Eine Eigendrehung des Planeten heißt Tag. Das gleiche Wort verwenden sie auch für die Hellphase. Wie einfallslos. Wenn ich es richtig verstehe, schalten sich viele Lebewesen während der Dunkelphasen in eine Art Standby-Modus, den sie Schlaf nennen.
[Ergänzung des QuantAssist:] Der Schlaf genannte Standbymodus wird genutzt, um Erlebnisse dauerhaft zu Speichern. Dabei haben die Menschen und viele andere Lebewesen psychedelische Visionen oder Halluzinationen, die Traum genannt werden.
Na, das klingt immerhin interessant. Vielleicht kann ich Aufnahmen davon machen. Mein Freund Siss’un hatte so was von seiner letzten Reise mitgebracht. Das war tatsächlich ganz unterhaltsam. Ich werde den Neuroscanner mitnehmen.
Da fällt mir ein, dass ich vor dem Sprung nochmal schauen sollte, was Siss’un, Tenk’o und die anderen so treiben. Ich blinzle und das QuantAssist blendet die letzten Nachrichten meiner Freunde ein. Das meiste davon ist so belanglos, wie immer. Beim nächsten gemeinsamen Klick wollen wir uns tatsächlich mal wieder persönlich treffen. Nett. Das letzte Treffen muss schon ein paar Klicks her sein. Bis zum nächsten werde ich zurück sein, also schicke ich eine Bestätigung. Die Nachrichten von OmniCluster blende ich aus. Wenn was wichtiges dabei sein sollte, wird mich das QuantAssist darauf aufmerksam machen.
Andererseits ist mir immer noch langweilig. Also scrolle ich ein bisschen durch den News-Feed. Eigentlich ist das überflüssig. Seit der kombinierte OmniCluster mit seinen Algorithmen die Regulation übernommen hat, passiert nichts wirklich Neues. Er sorgt für unser Wohl, kümmert sich um Ressourcen und Energie und organisiert unsere Reisen. Wir müssen nur auswählen, womit wir unsere Zeit verbringen. Warum müssen Wesen, die die Zeit manipulieren können, eigentlich die eigene Zeit totschlagen, frage ich mich zum x-tausendsten Mal.
[Anmerkung:] Persönliche Zeit lässt sich nicht rekombinieren. Deine Lebenszeit musst du linear durchleben, persönliche Zeit kann nicht verändert, Entscheidungen nicht revidiert werden.
Die offizielle Antwort des OmniCluster. Das habe ich schon x-tausend Mal gehört. Seufzend scrolle ich weiter, bis der TravelBot mit daran erinnert, dass ich für diese Reise noch die Nichteinmischungs-Klausel quittieren muss. Ich lasse die Belehrung über mich ergehen, auch wenn ich den Text inzwischen selbst sprechen könnte. Bla-bla-bla … den Deflektorschild auf keinen Fall ausschalten … wir dürfen auf unseren Reisen nicht gesehen werden … bla-bla-bla … zeitliche Anomalien melden, wenn welche auftreten … bla-bla-bla … auf keinen Fall in den temporalen Ablauf eingreifen … die Geschichte des Planeten darf nicht verändert werden … bla-bla-bla … Eingriffe der Stufe eins führen zu einer Sperrung für fünf Klicks … Eingriffe der Stufe zwei führen zu einer Sperrung für fünfundzwanzig Klicks … bla-bla-bla … Eingriffe in der Stufe drei … Veränderung der planetaren Geschichte … führen zu endgültigen Verlust der Reise-Berechtigung und Sperrung aller Privilegien.
Ich kann mich nicht erinnern, dass schon einmal irgend jemand gesperrt worden wäre. Das würde heißen, wir müssten bleiben, wo und wann wir sind. Außerdem würden wir den Kontakt zu Quant-Assist verlieren. Das will ich mir nun wirklich nicht ausmalen. Alleine die Vorstellung, ohne den Quantenlink zu leben lässt mich schaudern. Also quittiere ich die Belehrung mit einem verschlüsselten Scan meiner rechten Iris. Natürlich.
Dann geht es endlich los.
Schönheit
Erde/Great Blue Hole, Karibik – 05/11/2026
„Rekombination erfolgreich, Zeitlinie stabil, Ziel erreicht“, meldet der TravelBot. Der Deflektorschild ist eingeschaltet, also öffne ich die Augen und schaue mich um. Der Ort ist tatsächlich spektakulär. Great Blue Hole nennen die Indigenen diesen Ort, großes blaues Loch. Eigentlich einfallslos für so etwas Unglaubliches. Der TravelBot hat mich direkt 50 Meter unter dem Meeresspiegel rekombiniert und ich sehe verschiedene tiefe Blau- und Indigo-Töne. Über fallen Strahlen der lokalen Sonne ins Wasser und bilden lange, wechselnde Streifen von Türkis. Der Anblick berührt mich. So etwas habe ich lange nicht mehr gesehen. Im Ultravioletten Spektrum sehe ich Korallen und fischartige Lebewesen. Sie schimmern und flitzen hin und her. Weiter unten wird es dunkler und alle paar Meter ändert sich die Mischung aus Pflanzen, Korallen und Meeresbewohnern.
Es dauert eine Weile, bis ich in dem Gewimmel die Oktopusse entdecke. Sie sind beeindruckend gut getarnt. Ihre Haut passt sich an den Untergrund an und sogar ihre Bewegungen gleichen denen der Pflanzen, in denen sie sich verstecken. Mir erscheinen sie wunderschön. Mit einem meiner Arme hole ich den Neuroscanner aus meiner Tasche und scanne ihre Gehirne. Der Scanner registriert Bewusstsein, Selbstwahrnehmung und Ansätze von planerischem Denken. Ich bin fasziniert und glücklich, dass ich diese Reise gebucht habe. Über meine Haut läuft ein Schauer und ich verfärbe mich. Als ich es sehe, muss ich schmunzeln. Ich habe ganz automatisch die Muster und Farben der indigenen Oktopusse nachgeahmt. Intelligente Oktopusse! Wer hätte das gedacht. In ein paar Tausend Jahren könnten sie volles Bewusstsein und echte Kultur erreichen. Ich muss noch einmal herkommen.
[Memo:] „Wenn wir zurück sind, buchen wir die nächste Reise hierher zurück. Abstand zweitausend Jahre.“
Die Antwort des QuantAssist entsetzt mich. Die zunehmende Erwärmung der irdischen Ozeane wird das Ökosystem des Great Blue Hole innerhalb der nächsten 50 Jahre zerstören. In zweihundert lokalen Jahren wird es hier keine intelligenten Oktopusse mehr geben. Sie werden aussterben. Ich kann es nicht fassen. Dann erinnere ich mich an die Erläuterung des TravelBots: Die Menschen verbrennen Kohle und Öl aus fossilen Lagerstätten. Dabei wird zusätzliches CO₂ freigesetzt. Das machen sie seit hunderten von Jahren so, ohne sich darum zu kümmern, was sie ihrer Atmosphäre und ihrem Heimat-Planeten damit antun.
[Frage:] „Wie ist der aktuelle Zustand der irdischen Atmosphäre? Wie ist die Prognose?“
Das QuantAssist braucht nur wenige Augenblicke, dann hat er aus den Datenströmen der irdischen Nachrichten und aus den Archiven des OmniClusters die entsprechende Informationen abgerufen. Das Ergebnis ist erschütternd. Die Erdatmosphäre ist im Vergleich der letzten Jahrhunderte deutlich zu heiß und im komplexen System des Planeten drohen mehrere Kipp-Punkte. Sie haben Permafrost in den nördlichen Regionen, der über tausende von Jahren stabil war und jetzt auftaut. Das setzt große Mengen an Methan frei. Kurz darauf wird es zum Auftauen von Methaneis an den Kontinentalsockeln kommen, was weitere Rückkoppelungs-Effekte auslöst.
Der Datenstrom wird komplexer und ich versuche zu verstehen, was hier passiert. Sie scheinen die Regenwälder zu roden, die an ihrem Äquator wachsen, die Ozeane versauern und können kaum weiteres CO₂ aufnehmen. Die zirkumpolare Strömung, die sie „Golfstrom“ nennen droht zu kippen. Mit der Erkenntnis wird mir schlecht. Das QuantAssist gibt ihnen nur noch wenige Jahrzehnte, bis die großen Ökosysteme unter der zunehmenden Hitze kollabieren.
Ohne dass ich es unterdrücken kann, zeigt meine Haut verlaufende Muster von Braun und Rot. Die Trauer färbt mein Äußeres, auch wenn niemand von meiner Spezies hier ist, der es wahrnehmen kann. Am liebsten würde ich aktiv werden. Irgendetwas tun. Die Katastrophe aufhalten. Das Quant¬Assist erinnert mich daran, dass Einmischung nicht erlaubt ist. So schlimm die Entwicklung auch sein mag, wir dürfen nicht eingreifen. Wir dürfen die Geschichte unabhängiger Planeten nicht verändern.
Für einen Moment betrachte ich die Schönheit meiner Umgebung, die Farben und die Bewegungen der Oktopusse. Menschen würden jetzt weinen, wispert das QuantAssist. Wir können nicht weinen und so lasse ich zu, dass meine Haut die Trauer und Verzweiflung ausdrückt, bevor ich mich abwende und mich auf den nächsten Sprung vorbereite.
Erde/Great Barrier Reef, Australien – 12/10/1765
„Rekombination erfolgreich, Zeitlinie stabil, Ziel erreicht.“
Das Riff ist atemberaubend. Die Vielfalt und Schönheit der unterschiedlichen Lebewesen begeistert mich. Ich bin ungefähr zwanzig Meter unter der Oberfläche, im kristallklaren Wasser sehr ich Schwarm-Wesen, die die Menschen Korallen nennen. Filigran, bunt, elegant. So eine Fülle an Ornamenten, Verzweigungen. Mir fehlen die Worte, um das zu beschreiben. Noch schöner ist es im ultravioletten Spektrum. Die Fische leuchten in wilden, psychedelischen Farben und ich fühle mich berauscht. Meine Haut kommt nicht hinterher mit dem Versuch, all diese Farben wiederzugeben. Wie lange ich in dieser Schönheit schwelge, weiß ich nicht. Ich bin glücklich.
Ich lasse das Wasser durch meine Kiemen strömen und spüre Gleichgewicht und Harmonie. Keine Übersäuerung im Wasser und die Gesundheitsdaten der Korallen sind optimal. Wenigstens dieses Ökosystem ist gesund. Die Artenvielfalt sichert die Stabilität. Dann wird mir plötzlich klar, dass ich über 250 Jahre ‚vor‘ meinem Besuch im Great Blue Hole hier angekommen bin. Die Menschen haben noch gar nicht angefangen, im großen Stil Kohle und Öl zu verbrennen. Mir wird kalt.
Ich schaue mich genauer um. Auch hier gibt es es Oktopusse. Tintenfische nennen die Menschen diese intelligenten achtarmigen Mollusken. Wie arrogant und unwissend. Wieder schalte ich den Neuroscanner ein und wieder sehe ich Bewusstsein, Selbstwahrnehmung und Ansätze von abstrakten Denken. Sie hätten die Chance zu echter Kultur und Erkenntnis.
[Anfrage:] „Zeige mir Bilder von diesem Riff aus den 2030er und -40er Jahren, Hochrechnungen und tatsächliche Bilder.“
Das QuantAssist reagiert ohne Verzögerung und blendet die Bilder ein. Zuerst kann ich nicht glauben, dass die Bilder und Videos denselben Ort zeigen. Da, wo jetzt noch farbenfrohe Korallen, Fische und Oktopusse leben, sind nur die bleichen Kalkskelette der Korallen im trüben Wasser zu sehen. Die eingeblendete Referenz-Skala zeigt Temperaturanstiege von über 8° Celsius. Der Ozean ist übersäuert und die Oktopusse mit allen anderen, die hier lebten, sind weg. Ich sehe eine ausgebleichte Fläche ohne Leben. Da ist nur Tod.
[Anfrage:] „Wann werden die Menschen merken, was los ist? Wann etwas tun? Warum haben sie es nicht vorher gemerkt?“
Wieder kommt die Antwort ohne Verzögerung. Das QuantAssist zeigt mir Analysen, Ausschnitte aus Nachrichtensendungen und Online-Artikel. Dann kommt mir eine furchtbare Erkenntnis. Sie haben es gewusst. Seit Jahrzehnten wussten sie es. Es ist ihnen einfach nur egal. Ich kann es nicht fassen. Das QuantAssist filtert und sortiert die Informationen und ich beginne, es zu ahnen: Persönliche Gier, die Sucht nach noch mehr „Geld“, dem lokalen Zahlungsmittel – und kurzfristiges Denken scheinen die Haupt-Ursachen zu sein.
Wie kann das sein? Die gleichen Wesen haben dieses Bergheiligtum in Göbekli Tepe gebaut und die riesigen Pyramiden im alten Ägypten, die mir der TravelBot während der Reise gezeigt hat. Oder Kirchen und Tempel, an denen tausende von Menschen für hunderte von Jahren arbeiten mussten. Was ist seitdem schief gelaufen? Warum denken sie nicht mehr in Generationen? Woher kommt die egoistische Gleichgültigkeit dieser Zeit?
Sie haben Naturwunder, die diesen Planeten einmalig machen. Und sie vernichten all das für … Geld? Ich verstehe es nicht. Warum macht niemand etwas dagegen? Ungebeten kommt mir ein altes Zitat in den Sinn: „Wer, wenn nicht wir? Wann, wenn nicht jetzt?“ Ich werde unruhig. Meine Herzen pochen und meine Haut wechselt wild durch Farben und Muster.
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich schon einmal so aufgeregt war. Fast verpasse ich den Aufruf des TravelBot für den nächsten Sprung. Ich hatte eine Reise ins Okavango-Delta, gebucht. Ein weiteres, riesiges Ökosystem auf dem Kontinent, den sie Afrika nennen.
Aber ich kann nicht einfach weiter reisen, als wäre nichts passiert.
[Anweisung:] „Stopp den Sprung. Wir bleiben im aktuellen Jetzt. Reserviere mir fünf Einheiten am OmniCore-Rechenzentrum, direkter Quantenlink mit hoher Priorität.“
Entscheidung
Das QuantAssist reagiert und wenige Atemzüge später habe ich Zugriff auf das komplexeste Rechenzentrum der bekannten Galaxis. Das wird mich einen Großteil meiner Credits kosten. Das nehme ich in Kauf.
[Anweisung:] „Suche nach Möglichkeiten, die Überhitzung der Erdatmosphäre und der Ozeane zu verhindern. Zeige die Daten visuell.“
Sofort bekomme ich eine Fehlermeldung:
[Fehler:] „Die abgefragten Daten legen einen Bruch der Nichteinmischungs-Klausel nahe. Zugang verweigert.“
Direkt darunter erscheint eine weitere Anzeige. Das QuantAssist hat die Nachricht rot unterlegt.
[Warnung:] „Die Parameter beschreiben eine Stufe drei – Einmischung. Ein Zeit-Verbrechen dieser Art zieht den Verlust aller Reiseberechtigungen, die Abschaltung des Quantenlinks und den Null-Status nach sich. OmniCluster wird informiert.“
Das wäre eine Katastrophe. Ich muss es stoppen.
[Anweisung/Priorität_1:] Sofort-Stopp: Persönliche Notlage. Unter¬brich den Kon¬takt zum OmniCluster für 10 Micro-Clicks.
Das QuantAssist reagiert sofort. Der Quantenlink wird still. Die plötzlich Leere in meinem Kopf ist schwer zu ertragen. Ohne den kontinuierlichen Strom an Informationen und Verbindung fühle ich mich taub. Abgeschnitten, fast wie tot. Meine Haut wird dunkel. Aber es muss sein.
Ich diskutiere mit dem implantierten Teil des Assistenten. Für einige Minuten wird es ohne den Link funktionieren. Ich versuche zu erklären, worum es mir geht. Seit ich geschlüpft bin, ist das QuantAssist für mein Wohlbefinden zuständig. Er ist zuerst mir verpflichtet und erst an zweiter Stelle dem OmniCluster.
[Antwort:] Der Verlust aller Privilegien würde dich beeinträchtigen. Du müsstest hier bleiben, auf diesem Planeten, in der letzten rekombinierten Zeit. Ohne die Unterstützung des OmniCluster und seiner technischen Möglichkeiten wird es fast unmöglich sein, zu überleben.
Wieder versuche ich zu erklären. Hier habe ich zum ersten Mal in meinem ganzen Leben eine Aufgabe. Was ich tue, wird einen Unterschied machen. Nie war mir irgend etwas so wichtig. Das wird mich glücklich machen. Und tatsächlich lenkt das QuantAssist ein. Es wird die angeforderten Berechnungen anfragen und den OmniCluster solange wie möglich blockieren. Erleichtert lege ich los.
[Anweisung:] „Suche nach Möglichkeiten, die Überhitzung der Erdatmosphäre und der Ozeane zu verhindern. Zeige die Daten visuell.“
Das QuantAssist arbeitet. Es filtert die Daten der irdischen Nachrichtenströme, sucht im Internet, interpoliert und zeigt mir die Interaktionen der irdischen Zeitlinien wie in einem Kaleidoskop. Ich suche nach Kristallisationspunkten. Die Anzeige für globale Temperatur tanzt wild auf und ab. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Wenn das OmniCluster merkt, was ich hier tue, werden sie meinen Status auf Null setzen und meinen Quantenlink abschalten. Meine Haut zeigt die unruhigen Muster der Angst und ich zittere.
[Verfeinerte Anweisung:] „Suche einen minimalen temporalen Eingriff, der trotzdem ein stabiles globales 0,5°-Ziel erreichbar macht. Zeige die Daten visuell.“
Das QuantAssist reagiert tatsächlich. Noch steht meine Verbindung. Das Kaleidoskop wirbelt schneller, die Veränderungen zeigen sich wie Blitze. Dann kommt das Muster zur Ruhe. Es zeigt drei Möglichkeiten. Bejing, China 1935; Braunau, Österreich 1888 und einen dritten Punkt. In China müsste ich töten, in Braunau eine Tür abschließen. So nennen die Indigenen die Zugangsportale zu ihren Wohnungen. Der dritte Kristallisationspunkt erfordert nur einen kleinen Schubs.
Ein Satz meiner Lehrerin kommt mir in den Sinn. „Der zweitbeste Zeitpunkt, etwas zu tun, ist heute. Der beste Zeitpunkt, liegt immer in der Vergangenheit.“ Sie hatte Recht. Also wähle ich eine kurze Vorvergangenheit. Fünf Minuten vor dem Ereignis werden genügen.
[Neue Anweisung:] „Übernimm den dritten Kristallisationspunkt in den Konfigurator!“
Das QuantAssist reagiert. Ich blinzle zur Bestätigung und die Rekombination beginnt.
Erde/Dallas, Texas – 22/11/1963 – 12:25 Ortszeit
„Rekombination erfolgreich, Zeitlinie stabil, Ziel erreicht.“ Ich bin erleichtert. Der OmniCluster hat noch nicht bemerkt, was ich hier tue.
Ich bin in einem staubigen Raum voller Bücher. Ein Buch-Lager. Vor mir steht ein Mann mit einer Projektilwaffe am Fenster und schaut nach draußen. Ich vergewissere mich, dass mein Deflektorschild immer aktiviert ist. Meine Haut zeigt wieder wilde Muster, aber das kann der Mensch vor mir nicht sehen. Er kann mich auch nicht hören.
Langsam und so leise, wie möglich, bewege ich mich vorwärts. Jetzt hebt er die Waffe und blickt konzentriert durch die Optik. Ich muss näher an ihn heran. Der erste Schuss wird sein Ziel verfehlen. Genau im Moment des zweiten Schusses muss ich ihm einen dosierten Schubs geben. Das QuantAssist wird mir ein Signal geben und meine Reaktionszeit einbeziehen. Ich halte die Luft an und bewege mich vorwärts, bis ich direkt neben ihm stehe.
Der erste Schuss kracht enorm. Meine empfindlichen Ohren klingeln von dem Knall. Der Mensch macht sich an der Waffe zu schaffen, er scheint nachzuladen. Dann zielt er erneut. Jetzt kommt es darauf an. In dem Moment, als das QantAssist mir das Signal gibt, drücke ich ganz leicht gegen die Waffe. Und tatsächlich, im selben Moment fällt der zweite Schuss. Von draußen höre ich aufgeregte Schreie. Der Mann schreit etwas wütendes in Erdensprache. Ich verstehe ihn nicht. Wieder lädt er die Waffe nach. Dieses Mal rüttle ich am Lauf der Waffe, bevor er wieder schießen kann.
Erschrocken lässt er die Waffe fallen, schaut sich verwirrt um, ohne mich sehen zu können. Sein Mimik verzerrt sich. Das Quant¬Assist benennt die Emotionen: Verwirrung und Angst, gepaart mit Entsetzen. Der Mann stolpert rückwärts, weg vom Fenster. Dann dreht er sich um und rennt zur Tür. Als die Tür hinter ihm in Schloss fällt, atme ich tief durch und schaue aus dem Fenster.
Ein Mensch, den sie J.F.K. nennen, wird leben und die Vergangenheit verändert sich, führt zu einer alternativen Zukunft. Ich bin zum Zeitverbrecher geworden. Der Quantenlink reißt ab, ich bin allein. Ich werde diesem Planeten nie wieder verlassen können. Mir ist kalt und ich habe Angst. Dann denke ich wieder an die Oktopusse und hoffe, dass diese neue Vergangenheit mein Opfer wert sein wird.
Was bleibt mir noch, außer zu hoffen?
Ich mag "Was-wäre-wenn-Szenarios". Dieses hier entpuppt sich aber Recht spät als solches. Die Story ist flüssig geschrieben und ich empfand sie als schlüssig. Mir fehlt noch etwas an der Motivation des Protagonisten. Es ist ja ein ziemlicher cut-off zu seinem bisherigen Leben. Ein paar Worte mehr hätten der Story gut getan. Ob der beschriebene Zeitpunkt wirklich alles ändert, bleibt ungewiss und ist durchaus diskussionswürdig. Wir werden es eben nie erfahren.
AntwortenLöschenDie Menschen sind also zu doof, die Schönheit der Erde und der Notwendigkeit die zu erhalten zu begreifen. Und es bedarf eines/r Zeitreisenden, um ein wenig von dieser Schönheit zu retten ... Das Absurde an der Rettung Kennedys ist dabei für mich, dass das Rechenzentrum all das, was in den folgenden Jahren und Jahrzehnten aus den Handlungen von Milliarden Menschen erwächst, so berechnen kann, dass am Ende nur eine Erderwärmung von 0,5 Grad heraus kommt. Dass man eben dieses Ziel (0,5 Grad) auch mit Einmischungen 1935 und 1888 erreicht hätte, ach nee, echt jetzt?
AntwortenLöschenIch war beim Lesen fasziniert von dem Stil und dem Wechsel zwischen Alien und der Maschine, die er befragt und die ihm Auskunft gibt. Ich fand es kunstvoll. Bis auf den Schluss. Nie und nimmer glaube ich, dass es an der Umweltzerstörung etwas geändert hätte, wenn John F. Kennedy das Attentat überlebt hätte. Er war nicht dafür bekannt, ein "Naturliebhaber" zu sein.
AntwortenLöschenDie Geschichte gefällt mir gut. Auch schön gelesen. Die Bilder sorgen zusätzlich für Atmosphäre.
AntwortenLöschenDer Beginn der Geschichte ist super und mit einigem Witz geschrieben. Wirklich gut! Ebenso gelungen ist der Part, in dem der zeitreisende Alien die Schönheit der Erde erfasst und sich entschließt, den Planeten zu retten. Bis dahin eine der besten Geschichten des Wettbewerbs.
AntwortenLöschenLeider verhaut das Ende alles. 1. Wie soll das Überleben Kennedys den Klimawandel stoppen? Er hat sich zwar für Frieden mit der Sowjetunion eingesetzt (Stichwort: Kubakrise), aber er war meines Wissens nicht gegen die Ölindustrie und ebenso kein Förderer der Solarindustrie. 2. Lee Harvey Oswald wird hier als der einzig wahre Attentäter beschrieben. Fakt ist jedoch, dass Kennedy aus zwei Richtungen getroffen wurde, sodass es noch einen zweiten Schützen gegeben haben muss. Unabhängig von irgendwelchen Verschwörungstheorien belegt das die Ballistik.
Nun wäre es vielleicht ein Witz gewesen, wenn der Eingriff genau deswegen gescheitert wäre. Ich für meinen Teil hätte jedoch eher die Möglichkeit gewählt, dass sich der außerirdische Besucher als Tesla ausgibt und versucht, mit seinem technischen Knowhow die Erde zu retten. Das wäre die optimale Auflösung gewesen, denn zum einen hatte Tesla Ideen für saubere Energieerzeugung und zum anderen hat man nicht auf ihn gehört, womit die Zeitlinie am Ende intakt geblieben wäre. Der Außerirdische hätte damit sein Bestes gegeben und sogar weiterhin reisen dürfen. Es ist wirklich schade, dass der Besucher eine Entscheidung trifft, die absolut keinen Zusammenhang mit seinem Ziel erkennen lässt.
Hinzu kommt, dass die Geschichte dringend ein Lektorat benötigt. Es gibt einige falsche und fehlende Wörter, wie z. B.: „bis der TravelBot mit daran erinnert (…)“ Müsste es nicht „mich daran erinnert“ heißen?
Oder: „Über fallen Strahlen der lokalen Sonne ins Wasser (…)“ Also entweder „Über mir“ oder „Überall“, denn so ergibt es keinen Sinn.
Und: „im kristallklaren Wasser sehr ich Schwarm-Wesen (…)“ Statt „sehr“ muss es „sehe“ heißen. Bei: „Auch hier gibt es es Oktopusse.“ ist ein „es“ zu viel.
Fazit: Starker Beginn, starker Mittelteil, schwaches Ende, welchem der Bezug zum Thema fehlt. Übrigens ist ein Nachfahre von Kennedy Impfgegner und soll jetzt Trumps Gesundheitsminister werden. Sicher, dass JFKs Überleben das Klima gerettet hätte? Wirklich schade drum…