Die Beobachter
vonStephan Heinrich
Kähte, Käähte, Kääähte, aber Käthe antwortete nicht, weil sie sich immer noch nicht an ihrem neuen Namen gewöhnt hatte. Denn eigentlich wurde sie ja K7312 gerufen, na zumindest zu Hause auf ihrem Planeten XWHY23, viele Lichtjahre von der Erde entfernt. Und überhaupt diese komische Figur, die langen – wie sagen sie noch – Beine unten dran und diese Arme hängen nur rum, reichen noch nicht mal bis zum Boden, wo sie vielleicht das Stehen und Gehen unterstützt hätten. „Standardmaße“ hatten sie gesagt, pah … Daran soll man sich nun gewöhnen?
„Du und dein Mann H9150 wurdet unter vielen anderen Spionen auserkoren, als Beobachter unerkannt auf der Erde zu leben, um die Erdenbewohner zu studieren“, hatten sie ihr gut zugeredet. Das Ziel war es, gesicherte Erkenntnisse zu erlangen, inwieweit die Menschen kriegerisch eingestellt und entsprechende Vorkehrungen für einen etwaigen Konflikt zu treffen wären, oder ob vielleicht sogar freundschaftliche Beziehungen erwartbar waren. Für ihren Feldversuch mit Hilfe von Spionen hatten sie sich im Gegensatz zu ihrem ersten Versuch, der im Erdenjahr 1969 ausschließlich durch Computerprogramme durchgeführt wurde, ein Gebiet in der sogenannten alten Welt ausgesucht, in der Hoffnung, hier auf intelligente Wesen zu treffen. Die Wahl fiel auf eine Enklave namens Deutschland auf dem Kontinent Europa. Alle gesammelten Informationen waren dann an das Informationsministerium ihrer Regierung von XWHY23, Abteilung außerirdische Verhaltensforschung, Bereich „Zweiter Versuch“ unter Verwendung von Formular 1 – 23, inkl. der benötigten Anhänge zur Bearbeitung weiterzuleiten. Zuhause war alles klar strukturiert, das liebte und vermisste Käthe, alias K7312, hier auf der Erde.
Kähte, Käähte, Kääähte. Ja, sie liebte ihn, aber manchmal war sie einfach nur von ihm genervt. Zum Beispiel jetzt: Warum schrie er nur so? Sie war doch gerade erst 133 Jahre alt und im Vollbesitz all ihrer geistigen Kräfte. Zuhause konnte sie mit ihren Kräften jeden beliebigen Körper, mit voll funktionstüchtigem Gehörsinn annehmen. Nur wofür? Es machte keinen Sinn, hatte man sich auf XWHY23 schon lange darauf geeinigt, rein telepathisch – schön leise – miteinander zu kommunizieren. Und jetzt? Jetzt steckte sie in diesem starren, unförmigen Etwas, von dem H9150 alias Hans-Willi wohl annahm, dass die Gehörfunktion nicht ordnungsgemäß arbeitete.
Kähte, Käähte, schallte es von der Eingangstüre ihres kleinen Reihenhauses durchs Wohnzimmer, vorbei an altmodischem Mobiliar aus dicken Hölzern und schwarzen Lederbezügen, jede Menge Dekorationseinheiten und mit großen Blumen bedruckten Papierstreifen an den Wänden, bis hin in die Küche. Standardeinrichtung, laut dem Protokoll vom Erdenjahr 1969, als man sich bereits zum ersten Mal darum bemüht hatte, diesen Planeten näher zu erforschen. Damals hatte man versucht, mit Hilfe von computergestützten Spionageprogrammen mehr über die Erdenmenschen zu erfahren. Leider war die damalige IT-Infrastruktur auf dem Planeten Erde jedoch so primitiv, dass sich die Spionagesoftware Apranet nicht einschleusen ließ. Die Schuld daran gab man den Erdenbewohnern, die in ihrer Entwicklungsstufe noch nicht weit genug fortgeschritten waren. Teilweise waren bei den Menschen vollkommen unkoordinierte Bewegungsabläufe zu erkennen, die jeglicher Intelligenz entbehrten. So liefen sie zum Beispiel unkontrolliert aufeinander zu und wieder voneinander weg, sie sprangen und hüpften, zappelten mit ihren Gliedmaßen und gaben schrille laute Töne von sich, die nur durch den Lärm aus großen rechteckigen Quadern übertroffen wurden. Wilde und massenhafte Fruchtbarkeitsrituale, wie sie häufig währenddessen stattfanden, konnten von den außerirdischen Beobachtern nicht erklärt und aufgrund ihrer hochentwickelten und perfektionistischen Sprache auch nicht beschrieben werden. So ließ man diese Kleinigkeit in den Berichten dann einfach weg.
Das chaotische Gebaren verschreckte die Beobachter vom Planeten XWHY23 so sehr, dass entgegen erster Erkundigungen den Erdenbewohnern jegliche Intelligenz abgesprochen wurde. Man sprach dann später von Instinkt, der die Bevölkerung am Leben hielt. Seltsam war jedoch, dass etwa zur selben Zeit Flugbewegungen in der Nähe des die Erde umkreisenden Trabanten festgestellt wurden. Die Computeraufzeichnungen belegten ganz klar 30 Umkreisungen und Bewegungen eines unbekannten Flugobjektes hin und nach 21 Stunden wieder zurück. Einen Bezug zu den vermeintlich rückständigen Erdenbewohnern schloss man aufgrund der unerklärlichen, instinktbedingten Verhaltensweisen jedoch kategorisch aus.
Kähte, Käähte. Wenn ich jetzt nicht zurückrufe, hört er nicht auf, dachte sie sich und antwortete mit einem: „Ja, was ist?“ „Käthe“, … „Jaaaa“. Wieso beherrschte ihr Mann Hans-Willi das Kommunikationsprotokoll für Eheleute so viel besser als sie? Wahrscheinlich entsprach sein Geist, so würde man es auf der Erde nennen, vielmehr dem Typus Mensch, den er hier verkörpern sollte. „Waaas ist denn?“ Zwischenzeitlich war er in der Küche angekommen. „Käthe, stell dir vor, was mir heute passiert ist.“ „Hans-Willi, was ist dir denn heute passiert?“ „Du hast doch gesagt, dass wenn wir hier auf der Erde leben wollen, wir uns bei äh…Ämtern anmelden müssen.“ „Ja Hans-Willi, das habe ich gesagt und das solltest du heute erledigen.“ „Das habe ich Käthe, also das wollte ich und dann hat Hubert gesagt,“ „Was…? Du warst bei Hubert?“
Hubert, sie konnte den Namen Hubert nicht mehr hören. Hubert führte einen Treffpunkt, bei dem sich die Männer aus der Nachbarschaft häufig trafen und in ihren Augen eine unnütze und verwirrende Kommunikation pflegten, die überhaupt keinen tiefergehenden Sinn ergab. Eine absolute Verschwendung geistiger Ressourcen. Ihre Nachbarin Heidi, mit der sie sich regelmäßig austauschte und ernsthafte Angelegenheiten aus ihrem Umfeld, nämlich den anderen Nachbarn, besprach, sagte dazu: „Wirtschaft“. Ein Begriff, der in ihrem Glossar, welches sie als Unterstützung von ihren Vorgesetzten auf XWHY23 erhalten hatte, etwas ganz anderes bedeutete. Bemerkenswert war dabei, dass Hans-Willi den Weg dorthin, im Gegensatz zu manch anderen Orten, sofort gefunden hatte. Viel später jedoch sollte sich in ihr eine gewisse Dankbarkeit ergeben, dass es diesen Ort „Wirtschaft“ gab. Denn hier konnte sie ihren Mann mit wenigen, einfachen Worten zwischenparken, ohne große Erklärungen abgeben zu müssen. Ein einfaches: „Geh doch zu Hubert ein Bier trinken“ reichte aus, um in Ruhe seine Aufgaben übernehmen zu können und die Berichte über diesen Planeten an ihre Vorgesetzten zu schreiben.
„Was hat Hubert denn gesagt?“ „Hubert hat gesagt, dass wenn wir uns anmelden wollen, wir sehr viele Unterlagen benötigen und komplizierte Formulare ausfüllen müssen.“ Käthe schaute ihn mit großen Augen an, denn genau darüber hatten sie gesprochen, als sie ihn an diesem Morgen aus dem Haus, hin zum Einwohnermeldeamt geschickt hatte. Käthe wusste bereits von ihrer Nachbarin Heidi, dass es auf diesem Planeten sehr bürokratisch zuging und jede Menge wirres Zeug recherchiert, aufgeschrieben, sortiert und dokumentiert werden musste. Da musste sie Hubert sogar Recht geben, denn sie liebte die klar strukturierten und nachvollziehbaren Prozesse, wie es sie auf ihrem Heimatplaneten gab. Aber es war nicht zu ändern, wollten sie hier leben, mussten sie sich eben anpassen. Daher hatte sie in den letzten Tagen und fast Wochen alle notwendigen Unterlagen aus dem erdenumspannenden Datennetzwerk heruntergeladen, ausgefüllt und zweimal unterschrieben. Einmal für sich und einmal für Hans-Willi. Die fehlenden Dokumente hatte man ihr vom Heimatplaneten XWHY23 zugeschickt. Somit war eine dicke Mappe entstanden, die sie Hans-Willi heute Morgen in die Hände gedrückt und ihn dann auf den Weg geschickt hatte. Es gab sogar einen genauen Ablaufplan, der Hans-Willi erklären sollte, was wo und wie zu erledigen sei. Hubert stand nicht darauf, aber was die Wirtschaft anging, war Hans-Willi sehr kreativ. Nun stand er vor ihr und wollte ihr erklären, dass sie noch fehlende Formulare auszufüllen hätte, obwohl in der Mappe schon alles kleinlich sortiert enthalten war. „Hast du denn schon einmal in die Mappe hinein geschaut?“ wollte sie von ihm wissen. „Nein“, antwortete er entgeistert, „aber Hubert! Und er hat gesagt, das wäre ganz schön viel Papierkram.“ Sie nahm sich vor, über diese Situation nochmals mit ihrer Nachbarin Heidi zu sprechen, atmete tief in den ungewohnten Körper hinein und entgegnete ruhig: „Gut Hans-Willi, dann machen wir das jetzt zusammen.“
Käthe war mit ihm nochmals die ganze Mappe durchgegangen, hatte ihm alles ausführlich erklärt, manches sogar öfter und ihn eindrücklich ermahnt, direkt, ohne Pause bei Hubert, mit dem Bus zum Einwohnermeldeamt zu fahren. Nun stand er da, vor dem hellen großen und mit vielen Fenstern ausgestatteten Gebäude namens Rathaus. Als er sich näherte, schwangen die elektrischen Türen in einem weiten Bogen auf und begrüßten ihn somit auf ihre eigene Weise im ersten Haus der Stadt. Er durchschritt das Portal und fand sich in einer riesengroßen Halle wieder, mit meterhohen Decken und weit ausladenden weißen Wänden, die teilweise mit übergroßen Bildern bedeckt waren, die, nun ja, bunte Dinge zeigten. Hans-Willi konnte nicht erkennen, was hier dargestellt werden sollte, und außerdem wurde ihm auch noch ganz schwindelig. Er fühlte sich haltlos und hatte Angst, in dieses übergroße helle bunte Licht hineingezogen zu werden. Überall waren die Stimmen der vielen Menschen zu hören, die hier als Echo von den Wänden widerhallten und gefühlt alle in Hans-Willis Kopf wollten. Es fühlte sich an wie beim Briefing seiner Vorgesetzten, als sie ihn für diesen Beobachterjob rekrutiert und alle gleichzeitig versucht hatten, ihm die Vorzüge eines Lebens als Spion auf der Erde schmackhaft zu machen. Er hatte alles gehört, aber nicht wirklich viel verstanden, und jetzt war er hier. Hier auf der Erde und hier in dieser riesigen Halle, die mehr ihrem Weltenbahnhof auf XWHY23 glich, von dem aus man innerhalb kürzester Zeit via einer Einstein-Rosen-Brücke entfernteste Galaxien besuchen konnte, als einem Einwohnermeldeamt auf der Erde, von dem er sich allerdings eine ähnlich schnelle Bearbeitungszeit erhoffte.
Also durchschritt er tapfer das Foyer und landete daraufhin vor einer breiten Theke, hinter der Leute standen, die durch große Glasscheiben hindurch wiederum mit anderen Menschen sprachen. Auf dem Boden sah er einen grünen und einen roten Teppich vor sich, die zu den Schaltern führten. Auf dem grünen Teppich stand in großen Buchstaben „Herzlich Willkommen Mitbürger mit deutschen Pässen“ und auf dem roten Teppich stand „Herzlich Willkommen Mitbürger mit ausländischen Pässen“. Schnell hatte er ja verstanden, dass dies Wegweiser waren, aber wo war der Teppich für Mitbürger mit außerirdischen Pässen? Am liebsten hätte er sich umgedreht und wäre heim, oder besser noch zu Hubert gefahren. Aber Käthe hatte ihm klar zu verstehen gegeben, was seine Aufgabe war, und dass ein Scheitern nicht geduldet werden würde. Dann sah er glücklicherweise rechts von der Theke einen kleinen Schalter, der zwar keinen eigenen Teppich hatte, aber ein Schild, auf dem „Auskunft“ stand. Sicher, den richtigen Schalter entdeckt zu haben, startete Hans-Willi wie ein Blitz in Richtung Auskunft, umrundete geschickt mehrere Menschen und stand schnell vor der entsprechenden Glasscheibe. Gerade wollte er sein Problem schildern, da hörte er viele laute und teilweise aggressive Stimmen hinter sich. Als er sich umdrehte, gestikulierten die Frauen und Männer wild mit den Armen und zeigten nach hinten. Sein direkter Nachbar schrie ihn sogar an, er solle sich gefälligst am Ende der Schlange anstellen, wie alle anderen auch. Hilfesuchend drehte er sich wieder zu dem Mann hinter dem Schalter um, doch der fragte nur süffisant durch die Glasscheibe hindurch: „Haben Sie schon eine Nummer gezogen?“
Hans-Willi stutzte einen Moment, überlegte, was er anscheinend falsch gemacht hatte, und dachte darüber nach, wie Käthe jetzt wohl reagieren würde. Nun ja, sie würde sehr ungehalten reagieren, wenn er ohne Anmeldung wieder nach Hause käme. Also verließ er den Schalterbereich und suchte die zentrale Registrierungsstelle, die ihn entsprechend seiner Identität in die richtige Warteschlange, an der optimalen Position anmelden und einer entsprechenden Nummer zuteilen würde. Nach vielen Nachfragen und geduldigen Erklärungen von netten Leuten stand er dann vor dem Nummernautomaten. Etwas unsicher ob der richtigen Benutzung, drehte er den Kopf langsam nach links und schaute unter den Automaten, also da, wo die Papierschnipsel zu erkennen waren, und fragte sich, wie jetzt wohl die elektronische Zuordnung zu seinem Identitätsprofil funktionieren würde. Nichts passierte, außer dass mehrere Leute an seinem Kopf vorbei griffen, einen Zettel mit einer großen schwarzen Nummer darauf herauszogen und wieder verschwanden. Da tat er es Ihnen gleich und war augenblicklich im Besitz der notwendigen Befugnis, um sich in der Warteschlange anzustellen. Es dauerte auch gar nicht lange, als er wieder in der Nähe des Auskunftsschalters war. Da hatten eben wohl einige wenige Mitmenschen Radau für ganz viele gemacht. Das wollte er sich merken und an seine Vorgesetzten auf seinem Heimatplaneten XWHY23 berichten.
Wieder am Schalter angekommen, legte er seine Nummer ganz ordnungsgemäß – wie er es bei anderen gesehen hatte – in das dafür vorgesehene, schwarze, runde Tellerchen und achtete – um Missverständnisse zu vermeiden – peinlichst darauf, dass seine Marke mit der sichtbaren Nummer auch oben lag und dass der Schalterbeamte dies registriert und wohlwollend bestätigend genickt hatte. Im Anschluss an dieses Ritual schaute er seinem Gegenüber in die Augen, lächelte weiterhin und erwartete die Aufnahme eines Gesprächs mit den Worten: „Was kann ich für Sie tun?“. Hier schien jedoch der Kommunikationsleitfaden, den er zur Eingliederungshilfe von seinen Vorgesetzten erhalten hatte, wieder einmal fehlerhaft zu sein, denn der Schalterbeamte antwortete nur mit einem lustlosen „Und?“, ohne auch nur ein geringes Lächeln auszusenden. Etwas verwirrt begann Hans-Willi das Gespräch dann mit einem „Einen schönen guten Tag, ich hätte da mal eine Frage…“ und schilderte sein Problem, ungeachtet dessen, dass ihre außerirdische Identität eigentlich geheim bleiben sollte. Beide starrten sich daraufhin regungslos an. Der eine vor dem Schalter unsicher und erwartungsvoll und der andere hinter dem Schalter ungläubig und verärgert über die unerwartete Störung seiner täglichen Routine. Lediglich seine Augen, die sich leicht auf und ab bewegten, ließen erahnen, dass er doch noch andere Gefühle hegte, diese aber geschickt verbarg. Nach einer gefühlten Ewigkeit drehte Hans-Willis Gegenüber sich stoisch um, schritt zu einem großen schwarzen Schrank auf der gegenüberliegenden Seite seines Büros und nahm aus den nahezu unzähligen Schrankfächern etliche Formulare heraus, machte gemächlich kehrt, schwebte zurück zum Schalter und schob diese unter der gläsernen Trennwand hindurch. „Diese Formulare füllen Sie jetzt bitte aus und stellen sich damit auf dem roten Teppich an. Sollen doch die Kollegen entscheiden, wie es mit Ihnen weitergeht. Der Nächste bitte.“ Hans-Willis Hintermann war umgehend zur Stelle, platzierte geschickt und passend seine Nummer auf das schwarze Tellerchen, womit er die vorherige Nummer verdeckte und damit den Staffelstab offiziell übernahm.
So verließ er abermals den Schalterbereich, tangierte den Nummernautomaten, streifte fast das Ende der Schlange und stand wieder in der riesengroßen Halle, und schon wieder wurde ihm schwindelig. Zum Glück sah er auf der anderen Seite der Halle eine Bank, er eilte dorthin und ließ sich erschöpft nieder. Von hier aus wirkten die großen bunten Bilder auf den noch größeren weißen Wänden weitaus bedrohlicher. Wiederum erinnerte er sich an Reisen zwischen den Galaxien mit Hilfe eines Wurmlochs. Auf den Monitoren in den entsprechenden Transportgefährten zeigten sie während der Reise auch immer ähnliche Bilder. Ob diese jedoch realistische Aufnahmen oder künstlich Animationen waren, wusste er nicht, aber er hatte so was auch schon mal im Erden-Fernsehen, in irgendeiner Dokumentation über Raumschiffe mit mehrjährigen Forschungsaufträgen, gesehen. Er lehnte sich zurück und schloss für einen Moment die Augen. Auf einmal spürte Hans-Willi einen starken Schmerz am Schienenbein und riss diese wieder auf. Vor ihm stand ein riesengroßer Kerl, in schwarzer Montur und einem Gesicht wie von dem Erdenhund namens Bullterrier. Ein Mann vom Sicherheitsdienst hatte ihm vors Schienenbein getreten und legte nun mit einer verbalen aggressiven Salve nach. „Ey, das ist hier keine Parkbank du Penner, wenn du dich ausschlafen willst, verschwinde nach draußen.“ Hans-Willi wollte noch antworten, kam aber nur bis: „Aber ich…“. „Jaja, musst deine Stütze noch holen, wa? Da vorne die linke Türe, komm mach hinne und dann verschwinde!“
„Wenn jetzt doch nur Käthe hier wäre“, dachte er sich. Sie würde ihm Bescheid geben. Aber Hans-Willi war nicht der Mutige, der vorangeht. Das war schon bei seiner Ausbildung zum Agenten so gewesen. Alle anderen Mitschüler stürzten sich wild und unerschrocken auf ihre Aufgaben, aber er hatte sich immer zurückgehalten und sich später mit der allgemeinen Auszeichnung für die Gruppe zufriedengegeben. Doch er hatte andere Qualitäten, denn schließlich hatte er die Prüfung zum Agenten trotz allem bestanden. Nun ja, K7312 hatte ihm ein wenig beim Lernen geholfen und ihn stets motiviert durchzuhalten, und irgendwie hatte es dann auch geklappt.
Aber jetzt war er hier auf der Erde und hatte eine wichtige Mission zu erfüllen, also los, auf zum roten Teppich. Die Formulare hatte er, bevor er auf der Bank eingenickt war, noch durchgeschaut und erleichtert festgestellt, dass es die gleichen waren wie die von Käthe. Alles war bereits fertig ausgefüllt und befand sich in seiner Tasche. Auf dem Weg zum roten Teppich stieß er wieder auf den Sicherheitsmenschen, der gerade zwei Kinder maßregelte, weil sie wild herum liefen. Ungeachtet dessen, schritt er zügig und hoch erhobenen Hauptes an ihm vorbei, ohne ihm eines Blickes zu würdigen, passierte den entsprechenden Nummernautomaten, wo er sich im Vorbeigehen routiniert mit einer Hand bediente, und schon stand er in der Schlange am Ende des roten Teppichs, in der linken seine Tasche, in der rechten den Papierstreifen mit der Nummer und im Kopf die feste Überzeugung, sich und Käthe jetzt endlich beim Einwohnermeldeamt anmelden zu können. Geduldig wartete er auf seinen Auftritt, und als es soweit war, legte er selbstsicher den Nummernzettel gut sichtbar oben auf dem Haufen in das schwarze Teller, schaute die Dame hinter der Glasscheibe stringent an und formulierte mit breiter Brust sein Begehr, ohne auf ihre Aufforderung – wie auch immer diese ausgesehen hätte – zu warten. Die Dame mittleren Alters, mit leicht angegrautem Haar, eine absolut dominante Erscheinung, schaute Hans-Willi in die Augen und schoss ihm ihre Worte wie Pfeile mitten ins Gesicht: „Da vorne, an der Auskunft bekommen Sie die entsprechenden Formulare“. Doch Hans-Willi ließ sich nicht beirren, lächelte ganz leicht mit einem winzigen Kopfschütteln, leicht nach rechts, ein wenig nach links, und zog seine Tasche aus Hüfthöhe auf die Theke. „Bitte schön, alles vorbereitet.“ Mit einem unerwarteten respektvollen Blick und einem ganz leichten, anerkennenden Nicken nahm sie die Tasche mit den Worten „dann zeigen Sie mal her“ entgegen. Routiniert stieß sie den Papierstapel, in beiden Händen und leicht nach innen gewölbt, hochkant haltend, auf ihrem Pult auf, legte ihn wieder hin und wiederholte diesen Vorgang mit der Längsseite, so dass anschließend alle Formulare exakt übereinander lagen und diese jetzt mit professioneller Hand und einem mit einer grünen, gerippten Gummihülle überzogenen rechten Zeigefinger, einzeln anhebend, zum Umschlagen vorbereitet werden konnten. Jede Seite wurde dann fachkundig gesichtet und jeder Antragsabschnitt einzeln als eingegangen per Datumsstempel bestätigt. Hans-Willi starrte gebannt auf ihre sich schnell und mit absoluter Präzision bewegenden Hände und er fühlte sich genauso, als wenn Käthe vor ihm stehen, mit dem Finger auf ihn zeigen und ihn für seine Verfehlungen maßregeln würde. Nachdem alle Formulare entsprechend bearbeitet waren, wurden diese wieder sauber und exakt übereinander gelegt. Dann plötzlich würdigte die Dame hinter der Glasscheibe ihn keines Blickes mehr, sondern kramte nur noch auf ihrer Arbeitsfläche herum und nuschelte so etwas wie: „Damit ist der Eingang bestätigt, Ihre Anmeldungsbescheinigung können Sie dann morgen abholen“, in sich hinein. Hans-Willi war nun etwas verwirrt, da er seine Aufgabe eigentlich hätte abschließen und die Anmeldung mit nach Hause bringen sollen. Daher wagte er nachzufragen, kam aber nur bis zum „Entschuldigen Sie bitte, aber …“, da fauchte sie ihn in einem barschen Ton an, der den Drachen aus den alten Erdensagen glich, wie er sie bereits im Erden-Fernsehen gesehen hatte. „Haben Sie schon mal auf die Uhr geschaut, es ist 14.59 Uhr und um 15.00 Uhr schließt dieser Schalter, dann hätten Sie eben früher kommen müssen. Ich habe mir meinen Feierabend redlich verdient.“ Er schaffte es so gerade noch, seinen Kopf nach hinten zu ziehen, als die Rolllade knapp an seiner Nase vorbei herunterfiel und seine letzte Hoffnung, Käthe nicht zu enttäuschen, somit zunichtemachte. Rund um ihn herum wiederholte sich das Geräusch wie ein Echo, und als er sich umsah, erblickte er viele Menschen, die sich zwar schulterzuckend, aber nicht sonderlich enttäuscht dreinblickend herumdrehten und miteinander redend zum Ausgang gingen. Diese Menschen schienen mit derartigen Situationen vertraut zu sein und wahrscheinlich würde er sie am nächsten Tag hier wieder treffen. Also tat er es ihnen gleich und wandte sich um in Richtung Ausgangstüre. Von weitem schon sah er ein großes Schild über den Ausgang, auf dem stand: „Liebe Gäste, vielen Dank für Ihren Besuch! Wir hoffen, dass wir Ihnen weiterhelfen konnten und freuen uns, Sie jederzeit wieder begrüßen zu dürfen. Ihr Serviceteam der Stadtverwaltung“. Unten am Schild stand dann noch der Hinweis: „Geht nicht, gibt es bei uns nicht! Wir sind Mitglied im Bundesverband Freundliche Behörde“.
Nun wurde ihm schon wieder schwindelig, und er suchte nach der Bank, die ihn schon einmal gerettet hatte. Aber von hinten stürmten schon die Mitarbeiter in Richtung Ausgang zu ihrem wohlverdienten Feierabend, drückten ihn durch die Flügeltüren hindurch, überholten ihn auf die Stufen hinunter zur Straße und ließen ihn dann alleine auf der untersten Stufe zurück, wo er sich jetzt endlich hinsetzen konnte. Nicht lange, denn dann stand schon wieder dieser riesengroße Kerl vom Sicherheitsdienst, in seinem schwarzen Anzug – oder vielleicht war es auch ein anderer, der genauso aussah – vor ihm und holte gerade Luft, um mit seinem freundlichen Gezeter zu beginnen. Aber dieses Mal war Hans-Willi schneller, er stand auf und schwankte in Richtung Busstation.
Wie zu erwarten hielt sein Bus direkt vor dem Lokal von Hubert. Hans-Willi stieg aus, um sich bei dem Erdengetränk namens Bier zu überlegen, wie er seiner Frau den heutigen Tag erklären sollte. Interessant war, dass die anderen Gäste, denen er seinen Tagesablauf versuchsweise schon mal erzählt hatte, überhaupt nicht erstaunt waren, sondern ähnliche Geschichten erzählen konnten, die jedoch immer ein Stück schlimmer und aufregender waren als die des vorherigen Erzählers. Ein Phänomen, das ihm bereits schon einmal in einem anderen Zusammenhang aufgefallen war und über das er demnächst bei einem Bier mal nachdenken wollte. Zunächst benötigte er jedoch erst einmal eine brauchbare Version für seine Käthe.
Willkommen auf der Erde. Vermutlich könnten sich Außerirdische wirklich einfach so beim Einwohnermeldeamt registrieren. Mit den entsprechenden bürokratischen Hürden. War ziemlich amüsant zu lesen.
AntwortenLöschenDer Text funktioniert nur dann, wenn man akzeptiert, dass die Beobachter überhaupt nicht hinsichtlich irdischer Gepflogenheiten ausgebildet sind. Denn wären sie ausgebildet, käme es nicht zu Szenen wie im Einwohnermeldeamt. Aber macht es Sinn, unausgebildete Beobachter in den Einsatz zu schicken? Gerade auch weil sie ja unerkannt bleiben sollen. Nein, das macht keinerlei Sinn. Also akzeptiere ich nicht, dass die Beobachter sich mit den irdischen Gepflogenheiten nicht auskennen. Und damit hat sich der Text für mich als uninteressant erledigt, zumal er auch etwas arg plakativ auf die Gepflogenheiten in Einwohnermeldeämtern eingeht. Wie oft man derlei in vermeintlich witzigen Glossen schon gelesen ...
AntwortenLöschenEine humorvolle Geschichte, sehr schön geschrieben.
AntwortenLöschenIch fand die Geschichte ein wenig zäh. Und dass Hans-Willi ein ziemlicher Tölpel ist. Den hätte ich für so eine Mission nicht eingeteilt.
AntwortenLöschenDer Text hat mir gefallen. Schöne Fotos dazu. Ich kann gar nicht sagen, ob die echt sind oder KI-generiert.
AntwortenLöschenWie schon in anderen Geschichten sind die kulturellen Missverständnisse auch hier amüsant. Der Aspekt, Aliens auf die deutsche Bürokratie treffen zu lassen, ist dabei erfrischend neu. Ich frage mich allerdings, in welcher Stadt die Geschichte spielt? In der Stadtverwaltung bei mir gibt es einen Wartebereich, wo man sich mit seiner Nummer hinsetzen kann, bis man ausgerufen wird. Es gibt auch keine Schalter, sondern Büros, wo man dem/der Sachbearbeiter*in gegenübersitzt.
AntwortenLöschenOkay, kann sein, dass das in anderen Städten unbequemer ist. Was aber gar nicht geht, ist der Security-Typ, der nicht nur unfreundlich, sondern übergriffig ist. Jemanden vors Schienbein treten, nur weil derjenige mal kurz die Augen zumacht, erfüllt schon den Straftatbestand der Körperverletzung. So etwas ist mir bisher in keiner Behörde untergekommen. Da muss man sich schon selbst einen Übergriff leisten, dass da Zwang angewendet wird.
Hans-Willi scheint aber auch nicht sonderlich gut ausgebildet zu sein, dass er darauf nicht adäquat reagiert. Überhaupt scheinen mir er und Käthe als Geheimagenten ungeeignet und kommen eher wie ein verdattertes Rentnerpaar rüber, die mit allem überfordert sind, was sich passenderweise in den Grafiken widerspiegelt. Vielleicht wäre es besser gewesen, sie als eben solches Rentnerpaar vorzustellen, dass seinen Lebensabend auf der Erde verbringen will.
Ansonsten ist die Story okay, hat aber ein paar Längen. Hinzu kommen die endlos langen Absätze, die den Lesefluss erschweren. Es sollte beim Schreiben häufiger die Enter-Taste gedrückt werden.
Fazit: Nette Idee, die aber noch ausbaufähig ist und flüssiger geschrieben werden könnte.
Mir hat die Geschichte gefallen. Allerdings könnte sie noch etwas origineller ausgestaltet werden. Man kann sich die Handlung als durchaus realistisch vorstellen, wenn es denn Aliens gibt und diese auch zu uns kommen. Eine Behörde für Neuankömmlinge reicht mir allein noch nicht für eine spannende Erstbegegnung.
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