ZACSF2024_034


Natalies Entscheidung

von
Michael Johannes B. Lange


Michael Johannes B. Lange veröffentlicht seit 2014 Krimis und Science-Fiction-Stories sowie Kurzgeschichten mit zeitgeschichtlichem Bezug in Anthologien.


Ohne die Lichter der Spurensicherung wäre der Zentralpark auch in dieser Nacht nur das größte dunkle Rechteck auf unserer Insel, überlegte Madison, als sie mit der Einheit bei den Erdbeerfeldern standen. Die Erdbeeren…. Diese Bäume…. Das alles sah nicht immer so aus… Ich glaube, mich daran erinnern zu können…

 Bleib ruhig, befahl sie sich. Mit dir ist alles in Ordnung. 

„Anwohner auf der Westseite haben grelle Lichter gesehen“, berichtete Webster. „Und spekulieren entsprechend.“

„Also wieder Entführungen durch Außerirdische?“, fragte Madison und unterdrückte mühsam ein Gähnen. Dieser Schlaf, dachte sie. Entführungen gehören nicht zu Clintons Verbrechen, die für einige keine Verbrechen sind. „Wirkliche Außerirdische, nicht unsere gut integrierten Therraniten?“

„Wir sollten da ein wenig aufgeschlossener sein“, gab Webster zu bedenken, ohne auf die zweite Frage einzugehen. „Und wir sollten von einer Serie sprechen.“ 

„Und es waren öffentliche Plätze“, bestätigte Madison.  

„Im Übrigen sind Außerirdische ja unter uns. Die Therraniten…“

„Viele halten die Terraños nicht mehr für Außerirdische, weil sie so gut integriert sind.“

„Andere meinen, sie sollten lieber nach Kontino 6 zurück.“  

 Madison dachte an Remus. Was erlebt ein Außerirdischer auf der Erde? Was hat er alles erlebt? Ich versuche es mir vorzustellen, aber ich schaffe es nicht. Je länger ich hier bin, desto weniger verstehe ich Clintons Weggang und Dakotas Kontaktabbruch. Denken muss ich trotzdem daran. 

„Was denkst du?“, fragte Webster. 

 Dass man sich Familie nicht aussuchen kann, dachte sie, sagte aber: „Es soll auch welche geben, die an einen Gott glauben, der Abstecher auf diesen Planeten macht.“ 

„Aber die Kirche in der sechsten Allee wurde nach Kriegsende nicht mehr eröffnet, oder?“

„Vielleicht erhoffen sich manche so etwas wie eine Wiedervereinigung mit…“ 

 Der Com-Einheit meldete sich. Fragend sah Madison ihren Kollegen an. „Sie haben jemanden direkt hier im Park gefunden, beim Obelisken“, berichtete Webster. „Die Frau behauptet, nun ja, von Außerirdischen entführt worden zu sein. Offensichtlich hatten diese Aliens aber dann doch kein Interesse an ihr. Mrs. Frankenheim wird gerade untersucht.“

„Wo denn?“

 Webster nannte das Krankenhaus. Madison seufzte. Jeder wusste, dass dieses Land keine Nummer Eins mehr war. Es begann schon vor dem Interstellaren Pakt für Migration, sagten nicht wenige. 

 „Wann können wir zu ihr?“, fragte Madison.  

„Sie geben uns Bescheid. Heute können wir nichts mehr tun.“

 Madison sah auf ihren Chronomat. „Hast du Hunger?“, fragte sie. 

***

Tim`s Diner hatte zu den Ersten gehört, die sich mit einer Erweiterung der Speisekarte auf die Therraniten eingestellt hatten. Schnell war die Ko-Existenz zwischen Neubürgern und Weltbürgern vielerorts alltäglich geworden. Ein Chronist hatte angemerkt, dass beide Gruppen angesichts gegenseitiger interstellarer Aneignung kaum noch voneinander zu unterscheiden seien. Hatten die Therraniten (oder Terraños, wie sie längst umgangssprachlich genannt wurde) der ersten Generation noch einen kleineren Kopf, einen größeren Augenabstand und eine sichelförmige Hautfalte in den Augenwinkeln, so schienen diese Merkmale in der zweiten Generation zu verschwinden. Bei Kindern der nächsten Generation war davon kaum noch etwas zu sehen. Dafür schienen sie aber einen eigenen Geruch zu entwickeln. 

„Das Übliche?“, fragte Tim, als er Madison mit Webster sah. 

 Sie nickte. Mit mir ist alles Ordnung

„Und für dich?“, fragte er Webster. 

 Webster deutete auf Madison. „Ich schließe mich an.“

„Gibt es schon eine Zeitung?“, fragte Madison. 

 Tim wies auf die Tafel. „Du findest dein Horoskop oder was du dafür hälst im üblichen Menü.“

„Was siehst du bloß in den Sternen?“, fragte Webster, nachdem Tim gegangen war. „Wer die Sterne sieht, sieht bloß die Vergangenheit, Relikte vom Urknall, Sternenstaub eben. Dieser Staub gibt uns hier unten keine Zukunft.“

„Ob irgendjemand oder irgendwas hier unten eine Zukunft sieht?“

„Wir haben andere Probleme.“ 

 Oder sind wir ein Problem für andere? , fragte sie sich, als Tim servierte. 

***

Madison schloss ihr Quartier auf. Dunkle Stille umfing sie wie ein Netz. 

„Licht“, befahl sie müde und betrachtete ihr Spiegelbild im erleuchteten Flur. Sie dachte wieder an Remus und an ihre Pflegegeschwister. Gesichtsverletzungen, hörte sie Remus wieder sagen. Sie sind besser verheilt, als man auf den ersten Blick sieht. 

„Ich weiß, dass du da bist“, sprach sie in die Stille hinein Langsam trat ein junger Mann aus dem Schatten. Mit den Phantombildern ist es so eine Sache, mit den Erinnerungen eine andere und was die Gegenwart angeht… 

„Du hast Nerven, Clinton.“

„Das sagst du immer, Schwesterherz.“

„Wieso bist du dir eigentlich so sicher, dass ich dich hier nicht einmal mit meinen Kollegen festnehme?“

„Da bin ich mir nicht sicher, in einer anderen Sache schon.“

„Und die wäre?“

„Wir haben mit diesen Entführungsgeschichten nichts zu tun. Wir tun niemandem etwas.“

„Das sehen einige anders.“

„Und das sehen andere anders. Eigentum ist eine Verpflichtung und soll allen dienen.“

„Aber das Gesetz…“

„Ich habe das Gesetz und die Gesetzlosigkeit erlebt. Ich habe die Arena erlebt, bevor Remus dich dort gefunden hat, Maddie.“

„Remus hat sich auch um dich gekümmert, Clinton.“

„Das habe ich nie vergessen, und das werde ich auch nie. Andere haben sich aber zuerst um mich gekümmert.“

„Bandenkriminelle! Clans, die…“

„Das sagt ihr. Aber wenn Katrinas Saints nicht gewesen wären, wäre von mir in der Arena nicht mehr viel übrig geblieben, worum sich Remus hätte kümmern müssen.“

„Aber Stuy und Jay Jay und Tom…“

„…und Dakota, und über Dag wollen wir gar nicht reden, ja es ist gut und vor allem ist es vorbei, Maddie. Du warst die Beste. Deshalb komme ich wieder.“ 

„Gibt es Terraños unter euch?“, fragte sie. 

„Selbst wenn ich es wüsste, wäre es mir egal. Und das sollte es dir auch.“

„Ist es“, versicherte Madison. 

„Ist es?“, fragte Clinton zurück und ließ sie in der Stille zurück. 

***

Madison und Webster nickten dem Beamten vor dem Krankenzimmer zu. Webster klopfte an die Tür. Sie betraten das Zimmer.  Flüchtig sah Madison aus dem Fenster. Dieses Wasser…. Sie dachte an den See im Park. Es hieß, dass Grundwasser habe sich verändert. Das Wasser, mit dem…

 Madison dachte an die Verbrechen, bei denen Zeuge und Opfer identisch waren. Plötzlich wurde Madison klar, wie sehr diese Frau Dakota ähnelte. Unter ihrer Dauerwelle öffnete sich ein verbrauchtes Gesicht. Sie ist kein Modell. Madison überlegte, wann sie Dakota zuletzt gesehen hatte. Ihre Pflegeschwester arbeitete auf der Westseite, wo früher das Fleisch verarbeitet worden war. So weit sind wir nicht auseinander und dennoch… 

„Können Sie uns ein paar Fragen zu beantworten?“, begann Webster. 

 Sie nickte. 

„Warum waren Sie noch so spät im Zentralpark?“

„Ich musste einfach raus.“ 

„Trotz Ausgangssperre?“

„Das mit der Ausgangssperre ändert sich doch ständig. Wer soll da noch Bescheid wissen?“

„Und Sie wollten nicht zu den Erdbeerfeldern?“

„Nein!“, beteuerte sie. 

„Also bloß ein Spaziergang im Park. Warum?“

„Ich hatte Streit mit meinem Mann.“ 

 Madison betrachte das Gesicht der Zeugin. Immer noch diese Anzeigen wegen häuslicher Gewalt… Der Mensch als soziales Wesen, dachte Madison. Die Terraños aber…

„Worum ging es denn?“, fragte Webster. 

„Ich wollte ein Apartment weiter unten. Mir macht das Treppensteigen immer mehr zu schaffen. Die Aufzüge funktionieren ja auch nicht immer.“

„Warum wollte ihr Mann nicht umziehen?“

„Wegen der Aussicht. Ja, wenn man den ganzen Tag nichts zu tun hat…“

„Was soll das denn heißen?“

„Er ist arbeitslos.“

„Es gibt hier keine Arbeitslosen. Entweder man arbeitet oder….“ Sie würden dem Amt auf Alice Island einen entsprechenden Hinweis geben. 

„Aussichten gibt es doch inzwischen mehr als genug in der öffentlichen Kollektion“, gab Madison zu bedenken. 

 Mrs. Frankenheim zuckte mit den Schultern. „Das wären ja bloß Bilder, sagt er.“

„Sie sind also durch den Park. Was passierte dann?“

„Plötzlich kam dieses Licht, und ich war in diesem Raumschiff oder UFO oder was auch immer. Dann griffen diese Gestalten nach mir.“

„Wie sahen sie aus?“

„Schwer zu sagen. Sie trugen Anzüge und Helme.“

„Zwei Arme, zwei Beine?“

„Was man so Arme und Beine nennen würde, meine ich. Einer von ihnen hatte nur einen Arm sozusagen. Ein anderer war motorisiert, vollständig. Ein dritter bewegte sich wie ein Roboter. Jedenfalls waren sie stark genug, um mich auf einer Liege festzuschnallen. Sie untersuchten mich.“

„Wo genau?“

„Überall, alles….“

„Wissen Sie, wie lange?“

„Es kam mir sehr kurz vor. Ich glaube…“

 Sie schwieg. Ihr ist Unbeschreibliches passiert, dachte Madison. Dieser Welt ist Unbeschreibliches zugestoßen. Sie dachte an Remus’ Credo  – Geduld und, ja, Menschenliebe. Schließlich hat er uns in diesem Chaos… 

„Sie suchten etwas Bestimmtes an mir und dann sah ich Überreste, die geordnet aufbewahrt lagen. Arme, Beine, echte Arme, echte Beine, sogar einen Kopf. Vor dem Obelisken kam ich wieder zu mir.“

„Sie sind immerhin davon gekommen“, versuchte Webster sie zu trösten. 

„Nicht ganz“, erwiderte Mrs. Frankenheim und zeigte das Mal an ihrem linken Oberarm. 

„Eine Tätowierung?“ 

„Die Ärzte sagen was anderes“, sagte Mrs. Frankenheim mit gesenktem Blick. 

„Was denn?“

„Das müssen Sie schon sie fragen. Mir wird nichts gesagt.“ 

***

„Lichter aus“, befahl Madison leise und ließ sich auf das Bett sinken. 

 Mit mir ist alles in Ordnung, beschloss sie. Sonst hätte sich der Kühlschrank längst gemeldet. Sonst hätte die Toilette bereits einen Hinweis noch vor der Spülung gegeben. Sonst hätte die Drohne mir schon Medikamente geliefert so wie dem Nachbarn unter mir, bei dem seine Wohnung die heranziehende Bronchitis noch vor dem ersten Husten diagnostiziert hat. Mit mir ist alles in Ordnung, weil es die Wohnung auch so sieht. 

 Sie schloss die Augen. Ob die Wohnung auch Träume lesen und entsprechend darauf reagieren kann? Ob dieses Quartier auch Erinnerungen aufspüren kann? Wäre es anders, wenn ich unter freiem Himmel schlafen würde? In einem der Parks? Bei den Erdbeerfeldern? Auf jeden Fall hat diese Wohnung mich bisher immer schlafen lassen und geweckt. Mit mir ist alles in Ordnung. Ich schlafe nur. Im Schlaf kann so viel passieren. Mit mir ist alles in Ordnung. 

***

Mit mir ist alles in Ordnung, sagte sich Madison, als sie mit all den anderen durch die Straßen ging, auf  denen auch viele auf Fahrrädern unterwegs waren. Sie erreichte den Großen Zeitenplatz, der vom Breiten Weg und der Siebten Allee gekreuzt wurde. Die großen Reklametafeln priesen immer noch die Vorzüge von Dienstleistungen „wie im Schlaf“. Das größte Plakat zeigte aber einen Welt- und einen Neubürger, die Hand in Hand vor einer aufgehenden Sonne standen. Unsere Stadt bleibt smart, lautete die Botschaft in den Weltsprachen und auf Terranisch. 

 Die große Statue an der Hafeneinfahrt war zwar immer noch eine Ruine, doch die Photovoltaik-Fassaden der zwei Türme auf der Südspitze arbeiteten längst auf Hochtouren. Als Zentrum für die Wiederaufbereitung von Wertstoffen aller Art hatte die ehemalige Gefängnisinsel in der Bucht, kurz Z1 genannt, maßgeblichen Anteil daran. Mit diesem Eiland war die Insel durch eine Fähre verbunden. Trotzdem scheint Z1 Lichtjahre von Zuhause entfernt zu sein, dachte Madison,  als sie von ihrem Revier auf dieses andere Ufer blickte. 

***

„Nichts von Clinton“, begrüßte einer der jüngeren Kollegen Madison, als sie das Revier betrat, das in einem der ehemaligen Theater untergebracht war.  

„Habe ich das gefragt?“, fragte sie, ohne ihn anzusehen. Jeder hier könnte inzwischen ein Therranit sein, dachte sie plötzlich. Niemand wird gezwungen, sich zu offenbaren. Jeder bestimmt dies laut Gesetz selbst. Man kann sein, wer und was man möchte, na ja größtenteils. Für fast alle Jobs muss man eine Prüfung ablegen, aber nicht für die eigene Persönlichkeit. „Nicht, dass ich wüsste.“ 

„Nein, aber daran gedacht“, bemerkte ein anderer Kollege. 

„Kannst du jetzt auch Gedanken lesen?“, fragte Madison. 

„Deine schon, Maddie.“

„Das denkst nur du.“

„Sag’ ich doch. Benutzt du eigentlich ein neues Parfüm?“ 

„Was war das eigentlich neulich im Altenheim?“, fragte Madison zurück.  

„Ein 85jähriger hat sich mit einem 87jährigen geprügelt. Dass du das nicht mitbekommen hast, sooft wie du da bist.“

 Madison spürte, wie sie rot wurde. „Hatten sie zuwenig Nachtisch?“, fragte sie dann. 

„So in etwa. Sie sind in Streit geraten um eine 77jährige. Das nennt man dann wohl noch voll funktionstüchtig und einsatzfähig, was?“

„Solche Bemerkungen nannte man früher sexistisch.“

„Ja, früher.“ 

 Die beiden Kollegen hörten auf zu grinsen, als ein großer Mann mit Glatze die gläserne Tür mit der Aufschrift Steven Darcetri  –  Captain öffnete. Wann immer Madison diese Aufschrift betrachtete, dachte sie an das, was Remus einmal gesagt hatte: Egal, wann, egal, wo – Bürokratie ist unsterblich. Darcetri nickte Madison auffordernd zu. 

***

Darcetri  blätterte die Akte nicht so schnell um, dass Madison sie nicht doch noch erkannt hätte: Wieder Clinton! ,  dachte sie, während ihr Vorgesetzter sich erhob und eine knappe Geste zu dem Stuhl vor seinem Schreibtisch machte. Die Karte dahinter zeigte immer noch die Seen im Norden. Nach dem zu urteilen, was Überlebende berichtet hatten, waren diese Gewässer aber verschwunden. 

 Darcetri  trug ein elektrischblaues Jackett. Seine Glatze glänzte unter der Lampe. Wie immer war er glatt rasiert. 

„Zuletzt ein Fall am Triumphbogen und einer an den früheren Hafenbefestigungen“, schloss Madison ihren Bericht.

„Der erste Ort nahe beim Wasser“, bemerkte Darcetri . „Sonst noch was?“

„Im….“

 Madison zögerte. Darcetri ließ sie nicht aus den Augen. Es wurde so still, dass sie auch die Lautlosigkeit jenseits dieses Büros hören konnte. 

„…am Madison-Platz.“

„Da passiert viel. Aber keine dieser Entführungen?“

„Sieht nicht so aus“, gab Madison zu. 

„Der Ort, wo Ihr Pflegevater sich Ihrer angenommen hat?“

 Wie der Name schon sagt, dachte sie schweigend. 

„Vielen ist hier viel passiert. Sie sollten die Vergangenheit endlich ruhen lassen, Detective.“  

„Das ist schwer, Sir.“

„Schwer ist nicht unmöglich. Außerdem brauche ich noch den Nachweis der amtlichen Untersuchung.“

„Aber ich brauche diese Untersuchung nicht.“

„Laut neuer Vorschrift schon und das zeitnah.“

„Aber…“

„Wollen Sie weiter als Polizistin arbeiten?“   

***





Madison stieg die Stufen zu dem früheren Börsengebäude hinauf. Unzählige Einschusslöcher zeugten noch von den letzten Kriegstagen. Nun hatten dort Einwohner mit höherer Lebensdauer eine Heimstätte für ihren Lebensabend gefunden. 

„Clinton war bereits da“, verkündete der Mann am Empfang, ohne sie anzusehen. Er hatte graues strähniges Haar, das er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Es ist immer derselbe Mann, dachte Madison, egal, wann ich hier bin. „Mann, der hat Nerven! Wieso wartet hier nicht einfach ein Bulle auf ihn? Wäre doch ein Kinderspiel! Oder sind da zu viele bei euch korrupt?“

 Madison sagte nichts. Mit dir ist alles in Ordnung. Sie umklammerte ihren Stoffbeutel. Denke an etwas anderes, ermahnte sie sich. Sie dachte an den gerade erstandenen Inhalt aus dem Stammgeschäft, in dem die größte Auswahl von organischer Nahrung zu finden war. Gleiches galt für Batterien, Akkus und andere Elektro-Artikeln. 

 In dem ehemaligen Handelsraum standen Tische mit Brettspiele. Die fort geschrittene Betriebsdauer sah man Remus Wolf kaum an. Mit einem aufmerksamen Lächeln saß er vor dem Schachbrett, auf dem Madison die Doktor-B.-Eröffnung wieder erkannte. 

„Musst du nicht arbeiten, Maddie“, grüßte Remus, ohne von dem Schachbrett aufzublicken. 

„Wir haben alles im Griff“, versicherte sie. 

„Trotz Clinton? Oder wegen ihm?“

 Madison sagte nichts. 

„Immer noch niemand, der zuhause auf dich wartet?“

„Nein“, gestand Madison leise. 

„Nutze deine Zeit, Kind.“  

„Das sagt mir jemand, der mir seine Zeit gegeben hat? Wo sind die anderen hier?“

„Da, wo die meisten von uns hingehen“, sagte Remus. 

„Dafür bist du doch noch zu gut in Form“, erwiderte Madison. „Deshalb habe ich dir auch etwas mitgebracht“, sagte Mädison lächelnd und überreichte ihm Batterien und Ladekabel. „Damit du weiter auf dem Laufenden bist.“

 Anerkennend betrachtete Remus das Fabrikat. „Dass es das noch gibt. Deine Geschwister haben dafür keinen Blick.“ 

„Geschwister“, sagte Madison leise. 

„Ich liebe euch alle“, beteuerte Remus. „Alle gleich, ohne Unterschied.“

„Fragt sich nur, ob alle dich auch gleich lieben, Dad.“

„Ich bin nicht euer biologischer Vater, Maddie.“

„Du warst ein Vater, als einer nötig war“, erinnerte Madison Remus. 

  In der letzten Schlacht war die frühere Millionenstadt im Chaos versunken. Zum Schluss hatten sich alle untereinander bis aufs Blut und weiß Gott welche Substanzen noch bekämpft, um bei der Evakuierung zu den Galileischen Monden noch berücksichtigt zu werden. Mit übermenschlicher Energie hatte Remus die zurückgebliebenen Kinder aufgelesen. Remus hatte die Pflegekinder, nach den Plätzen benannt, wo er sie aufgefunden hatte, während der Stadt die Stunde Null schlug: Clinton und Dakota waren früh eigene Wege gegangen. Stuy, Jay Jay und Thomas hatten sich regelmäßig mit Madison getroffen. Jeder dachte an Dag, aber niemand sprach über den toten Bruder. Remus selbst hatte das Scheibenhochhaus auf der Ostseite der Insel, wo er Dag gefunden hatte, stets weiträumig gemieden, auch wenn Kontino 6 dort inzwischen wieder eine konsularische Vertretung eröffnet hatte. Oder vielleicht gerade deshalb?, fragte sich Madison mehr als einmal. 

„Habe ich aber auch alles getan, was nötig war?“, fragte Remus. „Um Stuy und Tom habe ich mir nie Sorgen gemacht. Clint und Dakota waren schon immer sehr eigenständig. Jay Jay ist nicht glücklich.“

„Die Kollegen auf seiner Schicht mögen ihn sehr.“

„Man mag die jungen Leute meistens.  Ich glaube, Jay Jay will weg von hier. Ihm gegenüber fühle ich mich…“

 Madison schwieg.  

„Und gegenüber seinen Eltern.“ 

„Du warst für uns da, als unsere Eltern nicht da waren. Irgendwann ist jeder für sich selbst verantwortlich“, meinte Madison. 

„Aber habe ich bis zu diesem Irgendwann alles richtig gemacht?“

„Du hast etwas getan, als nicht alle etwas getan haben.“

 Madison sah Remus in diese Augen. „Ich wünschte, ich könnte noch mehr für dich tun.“

„Dann tue endlich etwas für dich selbst, Maddie. Wir haben alle unser Ablaufdatum, ohne Ausnahme.“

***

Madison betrachtete den Arzt, der ihre Akte betrachtete. Die Milchglasscheiben schlossen die Stadt aus. Sie waren beide allein. 

„Das Geburtsdatum fehlt“, stellte der Arzt leise fest, ohne etwas über Madisons Gesichtsverletzungen zu sagen. Sind sie wirklich so gut verheilt?  

„Es wurde aber so genau wie möglich geschätzt“,  gab Madison zu bedenken. So bin ich auf mein Sternzeichen gestoßen. 

„Von Ihrem Pflegevater, nicht wahr?“

 Madison nickte. „Sie wissen doch selbst, was zum Schluss hier los war. Oder auch beim Neuanfang.“ 

„Nein, aber ich habe es anderswo erlebt. Fühlen Sie sich gut?“ 

„Mit mir ist alles in Ordnung.“

„Lassen Sie mich das bitte beurteilen, Detective.“ 

„Gut. Aber was soll die Frage?“

„Ihre Körpertemperatur beträgt 101 Grad Fahrenheit. 101,01 Grad, um genau zu sein.“ 

 Mit mir ist alles in Ordnung, wollte Madison wieder sagen, sagte aber bloß. „Ich fühle mich nicht anders als sonst.“  

„Was sind das für Verletzungen?“, fragte er. „Sehen nach Stichverletzungen aus und das….“ 

„Sind aus einem Einsatz beim Dreieck, wenn ich mich richtig erinnere.“

„Sie wurden verletzt und können sich nicht mehr erinnern, wann und wo?“

„Mir fehlt da wohl was“, gab Madison zu. 

Der Mediziner runzelte die Stirn. „Darüber finde ich auch keine Vermerke in Ihrer Akte.“

„War nicht weiter schlimm. Wahrscheinlich habe ich es deshalb vergessen.“

„So sieht mir das aber nicht aus, Detective.“ 

 Madison sagte nichts. 

„Waren Sie schon einmal in ärztlicher Behandlung?“

 Sie verneinte. 

 Prüfend sah der Arzt sie an. Dann fuhr er fort: „Ich habe es immer häufiger mit Fällen zu tun, in denen sich Menschen….Fälle, in denen sich jemand verletzt. So viele haben Angst vor dem Anderssein. Mensch, Therranit, mein Gott, jeder will leben, gerade nach diesem Krieg, diese Verletzungen…“ 

„Ich habe mich nicht selbst verletzt, wenn Sie das andeuten wollen.“ 

„Ach, daran können Sie sich erinnern, Detective?“

 Madison sagte nichts. 

„Von manchen Patienten wird mir dann immer erzählt, sie haben sich bloß untersucht. Oder sie wollten etwas finden.“ 

„Menschen oder Therraniten?“

„Darf ich nicht sagen. Ärztliche Schweigepflicht.“ 

„Ob nun Untersuchung oder Fund. Ich brauche weder das eine noch das andere.“

„Was brauchen Sie dann, Detective?“

 Sachdienliche Hinweise für diese UFO-Entführungen, dachte Madison und sagte dann: „Solche Untersuchungen jedenfalls nicht, Doc.“ 

„Trotzdem muss ich Sie noch einmal untersuchen“, sagte er und rief den Kalender auf. 

„Neue Vorschriften, die für uns beide gelten?“

 Der Arzt gab keine Antwort. „Haben Sie noch irgendwelche Fragen?“

„Was wissen Sie über Tätowierungen?“, fragte Madison. 

***

„Also es gibt Tätowierungen, die gar keine Tätowierungen sind?“, fragte Madison wieder, während Webster die Sachbearbeiterin nicht aus den Augen ließ. 

 Sie schwieg. 

„Andere können wir nicht fragen. Das Hospital hat Mrs. Frankenheim hierher überwiesen. Deshalb sind wir hier. Wir müssen unsere Arbeit machen.“ 

„Ich habe Ihnen doch schon alles gesagt“, sagte sie, ohne noch einmal von ihrem Schreibtisch aufzusehen. 

„Sie haben uns gar nichts gesagt“, erwiderte Madison. 

„Ich habe Ihnen viel zu viel gesagt.“ Sie blickte sich um. Es war niemand zu sehen. 

„Wir können Sie beschützen“, versicherte Webster. 

„Einen Scheiß können Sie“, widersprach sie und schaute auf den Schreibtisch. „Bitte gehen Sie einfach. Sonst sehe ich mich gezwungen, die Polizei zu holen.“

„Wir sind die Polizei. Schon vergessen?“

„Und wir sind die Regierung“, meldete sich ein Anzugträger mit getönter Sonnenbrille, der plötzlich durch eine gläserne Tür trat. „Diese Erkenntnisse sind Staatsgeheimnis.“

„Sagt wer?“

„Sagt der Staat.“

„Im Augenblick vertreten durch?“ 

 Der Anzugträger zückte einen Ausweis. 

„Vielen Dank, Mister Cullen“, sagte Madison. „Tut mir leid, ich kann Ihren Vornamen hier nicht finden.“

„Den finde ich auch nicht.“

„Bis wann sind diese Erkenntnisse Staatsgeheimnis?“, fragte Madison. 

„Dann existieren Sie nicht mehr.“ Cullen sah Webster an. „Und Sie auch nicht. Mrs. Frankenheim werden Sie jedenfalls nicht befragen. Die ist im Zeugenschutzprogramm. Führen Sie Ihre Ermittlungen anderswo weiter, wenn Sie unbedingt müssen.“

 Genau das werde ich, dachte Madison. 

***

„Kurz gesagt“, begann Clinton in Madisons Wohnung. „Nichts. Deine Mrs. Frankenheim ist verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Ich habe alle meine Kontakte aktiviert, überall sämtliche Gefallen eingefordert, aber nichts. Tut mir leid.“ 

„Ich danke dir trotzdem“, sagte Madison leise und blickte aus dem Fenster. Dämmerung legte sich über die Stadt. Sie dachte an all diese Schicksale, die ihrerseits mit anderen Schicksalen verbunden waren. 

„Was wirst du jetzt tun?“, fragte Clinton. 

„Ich weiß es nicht. Aber ich befürchte, diese Serie wird nicht reißen. Weißt du was über Serienmörder?“ 

„Das war etwas, als die Menschen noch unter sich waren, oder?“

„Zumindest sind sie davon ausgegangen.“

„Menschen töten Menschen, massenhaft, letztlich versteht kaum jemand, warum, sie selbst auch nicht. Sie machten weiter und weiter, bis sie endlich geschnappt wurden. Irgendwie wollten sie das auch.“

„Die Menschen…“

„Ja, die Menschen. Von Terraños habe ich so etwas noch nie gehört.“ 

***

Nach Mitternacht fand Madison sich erneut in einem Park wieder. Ich war noch nie an Jay Jays Fundort, dachte sie, genauso wenig wie an dem von Dag. 

„Noch eine Entführung durch UfOs?“, fragte Madison. Was sieht mich Webster so an? So hat der mich doch noch nie angesehen… Eigentlich bin ich nie so richtig schlau aus ihm geworden… „Was ist denn?“  

 Schweigend sah Webster zu Boden. 

 „Jay Jay?“, fragte Madison. Hier hatte Remus ihn damals gefunden, dachte sie bedrückt. 

„Seine Kollegen aus dem Schichtdienst haben ihn als vermisst gemeldet.…“ 

 Langsam hob Madison die Hand. Webster schwieg. Zögernd ließ er sie allein. Entschlossen rief er der Suchmannschaft zu, noch einmal alles abzusuchen. 

***

Wann und warum kommen Familien zusammen? , überlegte Madison, als sie Tom und Stuy betrachtete. Plötzlich dachte Madison an die Schilderungen früherer Feste wie Weihnachten und Erntedank. Wahrscheinlich war damals die Erwartung genauso groß wie jetzt. Und wo Erwartungen sind, da sind Enttäuschungen.  Früher hatte es auch Kinderfotos gegeben. Wie habe ich damals ausgesehen? 

„Keine Spur“, gestand Madison leise.  

„Was wird die Polizei nun machen?“, fragte Stuy. 

„Was wirst du nun tun?“, fragte Thomas. 

„Ich werde einem Verdacht nachgehen“, antwortete Madison. 

„Was du auch vorhast, du solltest dich beeilen, bevor noch mehr von uns verschwinden“, meinte Stuy. 

„Oder mit so einer Tätowierung zurück kommen“, sagte Tom. „Um dann in so einem Zeugenschutzprogramm verschwinden.“

 Madison wollte etwas sagen. Dann meldete sich die Com-Einheit. 

„Was ist?“ 

„Sie haben Remus verlegt. Es sieht nicht gut aus.“ 

 Sie schwiegen. Madison atmete schwer aus. Mit mir ist alles in Ordnung, sagte sie sich. 

„Was hast du?“, fragte Stuy. 

„Ich muss an dieses Sprichwort denken: Eine Mutter kann sich um sieben Kinder kümmern, aber sieben Kinder nicht um eine Mutter.“

„Remus war keine Mutter, Maddie.“

„Nein, aber so etwas in der Art.“

„Du sagst es. So etwas in der Art. Eine Art, die nicht unsere war.“ 

„Und welche Art sind wir? Können wir uns nicht um ihn kümmern?“

„Wir müssen uns nun um unser eigenes Leben kümmern.“

„Das machst du hervorragend, Stuy.“

„Ja, deshalb bezahle ich auch sein Pflegeheim durch meine Arbeit, Maddie.“

„Das habe ich auch nicht gemeint“, beteuerte Madison, doch Stuy winkte bloß ab. 

„Nein, du bist ganz in deiner Verehrung für Remus.“

„In der Rückschau erkennt man vieles.“

„Oder man glaubt vieles zu erkennen. Wir wissen nicht genau, was in all dem Chaos passiert ist. Wir waren kleine Kinder, teilweise Säuglinge so wie Dag.“

„Remus hat uns gerettet.“

„Und was passierte dann? Aufzeichnungen und Daten sind verloren gegangen.“

„Wir wären fast auch verloren gegangen“, meinte Madison. 

„Ist das der einzige Grund, warum du dich so um Remus kümmerst?“, fragte Tom. 

 Schweigend sah Madison ihn an. Wie fremd er ihr plötzlich erschien. Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie sich eigentlich nie wirklich nahe gestanden hatten. 

„Jeder weiß, warum sie so um ihn besorgt bist, aber niemand sagt es“, meinte Stuy. 

„Dann sag es doch“, forderte Madison ihn auf. 

„Weil du immer seine Beste warst. Du kennst die Wahrheit, Maddie. Du siehst sie, wenn du in den Spiegel blickst. Dich hat Remus auserwählt. Für uns hatte Remus nichts übrig, zumindest nicht so etwas. Du hattest etwas, was er gesucht hat. In einem Punkte sind Therraniten und Menschen wohl gleich.  Sie wollen etwas hinterlassen, durch ein Erbe wohl weiterleben. Deshalb müssen wir jetzt auch unsere eigenen Wege gehen.“

***

Madison nahm die Fähre, die eine Schicht von Arbeitern nach Z1 übersetzte. Der Wind pfiff über das aufgewühlte kobaltfarbene Wasser und schlug ihr ins Gesicht. Gesichtsverletzungen, dachte sie wieder, während sich Z1 aus dem Dunst schälte. 

„Er ist wieder ansprechbar“, sagte der Pfleger. 

 Madison betrat den kleinen Raum. Sie konnte nicht erkennen, an wie vielen Drähten und Kabeln Remus befestigt war. Als Remus sie erkannte, leuchtete ein schwaches Lächeln auf. 

„Maddie“, hauchte er. „Dass du…“

 Sie hob die Hand. „Ich musste dich doch noch sehen, bevor du…“

„So ganz gehe ich nicht. Die Recyclingeinheiten stehen schon bereit. Und da sind überall Erinnerungen. Es war nicht leicht mit euch. Manchmal dachte ich, ich verliere die Kontrolle. Ott dachte ich, die Sicherungen brennen durch. Mir fiel ein, was über Kurzschlusshandlungen berichtet wird.“

„Dann hast du es doch geschafft“, erinnerte Madison ihn. 

„Man schafft es immer, so oder so, alles, was wir brauchen ist…“

 Die Tür öffnete sich. Die Pfleger traten ein. 

„Die Menschen nennen es Träume. Darin habe ich Dag gesehen, ihn und Kontino 6.“ 

***

Vor Madison lag diese Straße. Fallendes Laub ist Laub, egal auf welcher Straße oder wie die Bäume aussehen. Am Ende dieser Straße hatte Remus sie aufgelesen. Sie hielt Webster die Hand hin. Sie können mich orten. Ich bin bewaffnet. Aber hilft das überall? 

„Hoffentlich hast du Recht, Maddie. Ich hoffe aber auch, dass du Unrecht hast“, sagte Webster heiser. 

Madison nickte und ging weiter, ohne sich noch einmal umzusehen. 

***

Am Ende der Straße blickte Madison zu der kreisrunden Arena empor. Der frühere Veranstaltungsort war mit seiner Kapazität nicht für eine solche Anzahl von Flüchtlingen…. Nach Kriegsende hieß es, dass damals mehr in die Arena hineingegangen als hinterher herausgekommen waren. Nach anschließender Säuberung hatten viele Inselbewohner das damals noch weltweit bekannte Event-Gebäude weiträumig gemieden. 

 Madison sah sich um. Niemand war zu sehen. Sie wartete, ohne sich zu rühren. Dann begann die Reise. Am Ende des Weges war der Anfang. Im Anfang war das Licht. In diesem Licht war der Strom all der Worte, die Madison jemals gesagt und gedacht hatte. In dem Licht war die Kraft, die Madison immer weiter aufhob. Ganz ruhig, sprach eine Stimme. Sie muss erst einmal ankommen, sagte eine andere Stimme. Die Zeit läuft uns davon, widersprach die erste Stimme. Wir dürfen nichts übereilen, meldete sich eine andere Stimme. Das ist nicht so einfach wie in diesen Science-Fiction-Filmen. Aber wir können uns doch jetzt zu erkennen geben, nicht wahr? 

***

Zitternd hörte Madison eine Stimme, wusste aber nicht, woher. Sie lag auf einer Bahre und blickte sich um. Zu ihrer Linken befand sich eine Tür. Zu ihrer Rechten öffnete sich zischend eine weitere Tür. Sie erschrak. Dann traten sie nacheinander ein. Eine der Gestalten beugte sich zu Madison vor. In dem verspiegelten Helm sah Madison sah sich selbst. Gesichtsverletzungen, dachte sie wieder. Mit mir ist alles in Ordnung, auch und gerade jetzt… „Herzlich willkommen, Schwesterherz“, sagte Jay Jay, nachdem er den Helm abgenommen hatte. 

***

Madison wurde durch eine Schleuse und einen Gang geführt. Zögernd betrat Madison den Raum am Ende des Korridors. Zwei Therraniten betrachteten sie. Sie sind so alt, dachte Madison. 

„Natalie!“ 

„Ich heiße Madison“, widersprach sie. 

„Ist das etwa der Name, den sie dir da unten gegeben haben?“ 

„Da unten ist meine Heimat.“

„Das war es wirklich einmal, für uns alle. Aber das ist seit dem Krieg vorbei. Wir haben eine neue Heimat auf Europa gefunden.“

„Das ist einer der Galileischen Monde“, erklärte Jay Jay. 

„Ein weiter Weg.“

„Die Strecke wird in Stasis zurückgelegt.“

„Dann schläft man?“

„So in der Art.“

„So in der Art träumt man dann auch? Was hat das mit uns zu tun?“

„Wir sind deine Eltern, Natalie. Hier an Bord sind noch mehr Eltern, die sich auf den Weg gemacht haben, um endlich ihre Kinder wieder zu finden und nach Hause zu bringen. Wir sind so froh, dich endlich gefunden zu haben, Kind.“

***

Im Anfang stießen die Menschen bei ihren Expeditionen durch das All auf diejenigen, die später als Therraniten bekannt wurden und auf Kontino 6 lebten. Aufgrund des demographischen Wandels warben Delegationen einige Therraniten für die Arbeit auf der Erde an. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten gelang das Experiment. Die Werkverträge wurden verlängert und um die Möglichkeit des Familienzuzugs erweitert. 

„Anlaufschwierigkeiten?“, fragte Madison, die sich nicht als Natalie verstehen konnte. 

 Mit neuester Technologie und Energiequellen arbeiteten die Therraniten noch effizienter und wurden resistenter gegen die Lebensbedingungen auf der Erde. Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen menschenähnliche Wesen, die uns Menschen immer ähnlicher und weiter optimiert wurden. Menschen und Therraniten wurden einander immer gleicher und dennoch wuchsen die Konflikte oder vielleicht auch gerade deshalb. Immer häufiger wurden die Therraniten Opfer von Diskriminierung und Gewalt. Es gab zwar das Gesetz gegen Speziesismus, aber…

„Aber Remus war doch unser…“

„Das, was wir unseren Vater nennen, nannten“, meldete sich Jay Jay, „war ein Terraño, der mit der neuesten irdischen Technik gepimpt war.“

 Madison sah Jay Jay an d blickte auf ihre Eltern. „Wie kannst du nur so etwas sagen?! Er hat uns am Leben erhalten, als wir zurückgelassen wurden.“

„Ja, aber jetzt sind meine Eltern da. Und auf mich warten noch zwei Schwestern auf Europa.“

„Aber Jay Jay….“

„Ich heiße Cameron. Das ist mein wirklicher Name, Natalie.“

 Madison ist mein wirklicher Name, dachte sie: „Sind Dags Eltern auch da?“, fragte sie. 

 Das Paar, das sich als ihre Eltern vorgestellt hatte, sah Madison fragend an. Unterstützt von Jay Jay, erklärte sie Remus` System bei der Namensgebung der aufgefundenen Kinder.  

„Die warten auch oben.“

 Jay Jay und Madison sahen sich an. Sie gedachte all der Nachrichten, die sie als Polizistin hatte überbringen müssen.  Dags Tod wird sie umbringen, dachte Madison. Und wenn es sie nicht umbringt, bringt es mich um. Aber mich hat schon so viel umgebracht. Sollte ich wirklich als Natalie wieder auferstehen?  

„Alle?“ 

„Manche Eltern sind schon tot, manche so arm, dass sie sich die Reise nicht leisten können und andere wollen keine alten Wunden aufreißen.“

„Bei sich oder den zurückgelassenen Kindern?“

„Versuche das zu verstehen, Natalie…“

„Madison!“ 

„Alles war auf der Flucht. Niemand wollte diesen Einheiten lebend in die Hände fallen weder Menschen noch Terraños.“

„Ist das die einzige Erklärung?“, fragte Madison. 

 Ihre Eltern schwiegen. 

„Oder die einzige Entschuldigung?“

 Ihr Vater schluckte. „Wir sollten jetzt nach vorne blicken. Du bleibst unser Kind, Natalie. Deshalb sind wir jetzt hier und bringen dich nach Hause.“

„Da habt ihr euch aber Zeit gelassen“, stellte Madison fest. 

„Es gab technische Komplikationen.“ 

„Komplikationen?“

„Wir haben euch beobachtet, so gut wie möglich. Wir haben die Suchstrahlen auf die Plätze gerichtet, wo Kinder verloren gingen“, erklärte ihr Vater. 

„Oder zurückgelassen wurden.“

„Ich habe dir doch erklärt….“

„Wie dem auch sei. Euer Suchsystem deckt sich mit Remus’ System der Namensgebung“, stellte Madison fest. Sie dachte an eine alte Ermittlerweisheit: Früher oder später kehren Täter wieder zu ihrem Tatort zurück. Vielleicht haben Stuy und Tom ihre Fundorte deshalb gemieden, überlegte sie, während Clinton und Dakota sich selbst in Geister verwandelt hatten. Nach Dags Tod hatte Remus diesen Abschnitt auf der Ostseite der Insel gemieden. Madisons Verdacht sich bestätigt: Jay Jay hatte „seinen“ Park aufgesucht, um von dort von dieser Insel zu flüchten, auf welche Weise auch immer. Madison war ihrer Idee nachgegangen, die sie hierher geführt hatte. 

„Aber manchmal kam es zu Verwechslungen“, fuhr ihr Vater fort. 

„So wie im Park?“, fragte Madison. „Als Mrs. Frankenheim mit Dakota verwechselt wurde?“

„Dakota, wie du sie nennst, ihre Eltern, ihre Gefühle sind kaum zu beschreiben.“

„Die Gefühle von Mrs. Frankenheim wahrscheinlich auch nicht“, erwiderte Madison und dachte an das Mal, mit dem sie hier als Ausschussware markiert worden sein musste. Sie dachte an den Bericht der Zeugin und blickte sich um: jemand ohne Arm, ein komplett Motorisierter, jemand, der sich wie ein Roboter bewegte, vor allem aber Überreste von Körpern. Zumindest hier war nichts davon zu sehen. Würde sie hier noch darauf stoßen? Oder hatte sich die Zeugin alles nur eingebildet? 

 Madison blickte Jay Jay an. Dieser sagte: „Ich habe jedenfalls meine Entscheidung getroffen. Ich will nach Hause.“

„Aber Jay Jay…“

„Cameron!“

„Ich bin auch ein Mensch, Cameron“, erwiderte Madison. „Aber deshalb…“

„Das glaubst du wirklich, was?“ 

„Was soll das denn heißen?“, fragte Madison und sah in diese Gesichter. 

„Sagt es ihr doch“, forderte derjenige sie auf, den sie ihr ganzes Leben bloß als Jay Jay gekannt hatte. „Von uns allen hat Remus dich am meisten gemocht. Warum wohl? Ich bin jedenfalls jetzt raus hier.“

 Madison blickte ihre Eltern genauer an. „Ihr seid also wirklich Therraniten?“

 Sie nickten. Trotz oder gerade wegen ihrer Lebensdauer war die Ähnlichkeit mit Remus… 

„Ich also damit auch?“

 Sie schwiegen. „Das ist eine lange Geschichte“, meldete sich der Uniformierte, der sich als Schiffsarzt vorgestellt hatte. 

„Dann fangen Sie gleich mal damit an, Doc!“, forderte Madison ihn  auf. 

„Sie haben Ihr Leben als Therranit begonnen, Natalie…“

„Madison!“ 

„Inzwischen haben sich so viele Veränderungen in Ihrem Körper ergeben, dass nur noch wenige Spurenelemente früherer Existenz bei Ihnen zu finden sind. Sie haben fast Ihr ganzes Leben unter Menschen verbracht, Natalie. Wem standen sie nahe? Abgesehen von Remus? Oder wer stand Ihnen nahe?“

 Clinton war immer da, auch oder gerade, wenn er nicht da war.

„Wer ist so geschickt, körperliche Modifikationen vorzunehmen?“

 Clinton kannte schon immer jemanden, der jemanden kennt. 

„Wer verfügt über die Möglichkeit für eine Transformation?“

 Clinton war schon immer ein Organisationstalent gewesen. Er hat immer den Weg in meine Wohnung gefunden. Irgendwann muss jeder schlafen…diese Träume…Sie dachte an die Plakattafel, die Dienstleistungen „wie im Schlaf“ versprach. 

 Clinton… Diese Träume…. Dann das Haus, das so viel über mich kennt und entsprechend handelt… Das, was der Arzt gesagt hat…. Doch es gab eine Zeit, in der Clinton Dakota lieber mochte… Wenn ich die erste Wahl war, dann war ich es nicht sofort….

„Natalie? Madison? Natalie!“

***

Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie wieder zu sich kam. Gleichzeitig wusste sie, dass noch nie zuvor der Zeitfaktor so entscheidend gewesen war wie jetzt. 

„Seien Sie vorsichtig“, bat ihr Vater. 

„Uns läuft die Zeit davon“, sagte der Schiffsarzt. „Wir haben einen engen Zeitplan. Die Stasis…“ 

„Habe ich das richtig verstanden? Ich folge Jay Jay…“

„Cameron, Natalie“, verbesserte ihre Mutter. 

„Entweder ich kehre zu der Insel zurück oder ich folge euch nach Europa? Was soll ich dort?“

„Eine neue Heimat finden. Und Polizisten werden auch auf Europa gebraucht, gerade bei der Grenzsicherung. Aber du musst dich jetzt entscheiden, Natalie.“

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6 Kommentare

  1. Die Normalität eines Zusammenlebens von Menschen, Außerirdischen und deren Mischwesen mit all ihren Facetten. Interessant zu lesen und zu hören. Der Erstkontakt hier ist sehr ungewöhnlich angelegt und bezieht sich nicht unmittelbar auf einen ersten Kontakt zwischen Menschen und Fremden. Zumindest nicht auf die herkömmliche Weise.

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  2. Eine angenehm langsam erzählte Geschichte. Es gefällt mir gut, wie diese Welt nach und nach sichtbarer wird. Hier und dort mal Einblick in die Geschehnisse und Umstände einer Auseinandersetzung zwischen zwei (möglicherweise drei?) Parteien. Und immer wieder meine ich Anklänge zum Thema Flucht, Migration und Vorbehalte herauszulesen, die alle Beteiligten voneinander abgrenzen, ob von denen gewollt oder nicht. Handwerklich und erzählerisch top, wie ich finde.

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  3. Das Setting nimmt mich mit. Der coole Sound nimmt mich mit. Die Dialoge nehmen mich mich mit. Nur verstehe ich nicht, warum die "Geschwister" so scharf darauf sind, die Erde zu verlassen. Immerhin bleibt Maddies/Natalies Entscheidung über Bleiben/Gehen offen ... Denn wenn ich wüsste, dass sie geht, wäre alles zuvor über sie erfahrene entwertet. Home is where my heart is. Wherever I lay my hat. Der Text gefällt mir!

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  4. Ich finde den Text nicht angenehm zu lesen. Er ist ziemlich verwirrend und der Name "Madison" kommt gefühlt 500 Mal vor. Ich lese die meisten Geschichten mehrmals aber diese nicht.

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  5. Also ich finde den Artikel durchaus angenhem zu lesen. Über Fehler bei der Zeichensetzung lässt sich hinwegsehen, finde ich. :-)

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  6. Zunächst sieht es so aus, als gehe es um UFO-Entführungen durch eine dritte Partei, denn eine fremde Spezies lebt ja schon zusammen mit den Menschen auf der Erde. Das gepaart mit der Polizeigeschichte erinnert mich irgendwie an „Alien Nation“. Warum die Therraniten den Menschen immer ähnlicher werden, was hier offensichtlich nicht durch Auskreuzung geschieht, ist nicht ganz plausibel.

    Die Handlung verliert jedenfalls schnell den Fokus. Es geht mal um die Ermittlungen zu den Entführungsfällen, mal um Madisons Ziehvater und Geschwister. Dann kommen noch ärztliche Untersuchungen dazwischen, welche die Handlung nicht voranbringen. Ich hatte zuweilen das Gefühl, einen Roman zu lesen, und keine Kurzgeschichte. Für eine solche ist mir der Text entschieden zu lang.

    Die Auflösung eröffnet schlussendlich einige Ungereimtheiten. Wenn die Entführer Flüchtlinge von der Erde sind, die einst ihre Kinder hier zurückgelassen haben, warum geben sie sich nicht gleich zu erkennen? Warum macht die Regierung ein Geheimnis daraus und lässt UFO-Zeugen verschwinden, wo die Außerirdischen doch längst mit der Menschheit zusammenleben und das große Staatsgeheimnis damit längst gelüftet ist? Warum weiß auf der Erde niemand, was auf Europa abgeht, obwohl es doch Raumfahrt zu geben scheint.

    Fazit: Als Roman würde das Ganze vielleicht funktionieren, sofern die Ungereimtheiten zufriedenstellend aufgelöst werden. So ist es einerseits zu viel und andererseits zu wenig. Zumindest ist der Erstkontakt zu den eigenen Eltern mal was Neues, aber deren Spezies lebt ja längst unter uns.

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