ZACSF2024_025


 ERSTKONTAKT

von
Boris Schapiro 

“You shall love your alien as yourself.” 

Übersetzung ins Englische des wichtigsten 

Satzes aus der Mitte der Tora. 




Die Oma sagte Mama, als sie noch 17 Jahre alt war: „Bald wirst du 18, dann wirst du dich verlieben, dann wirst du ihn heiraten und wirst einen Sohn gebären. Dieser Sohn wird ein Extremist.“ Dieser Sohn heißt Friedrich, er ist ich und ich bin in allem ein Extremist, in was ich es nur kann. Auch diese meine Science-Fiction-Story ist extrem. Sie ist die kürzeste und die simpelste von allem, was ihr bis jetzt gelesen habt – nur ich nicht. Auch extrem unlogisch und unwahr ist sie. Das macht sie sowohl wissenschaftlich als auch fiktional und folglich zukunftsprägend. Weil nur das unvorstellbar Unvorstellbares etwas Gemeinsames mit der Zukunft haben kann. Woher Oma das alles über mich wusste, bleibt für immer fiktional, aber gleichzeitig auch wissenschaftlich, weil es das Wissen über mich als Autor erschafft. Damit ist die Gattungszuordnung des Schreibens eindeutig erfüllt. Also kann ich als Autor jetzt den Einführungsrahmen schließen und die eigentliche Erzählklammer öffnen. Wissenschaftlich gesehen ist diese Erzählung wie auch selbst das Leben fraktal. 

Die Außerirdischen sind hier unsichtbar, sie erscheinen als Gedanken. Schau, ich zum Beispiel. Und auch er. Ich will den roten Pinot Noir, den trockenen und vollmundigen vom 2016 mit dem original holländischen mittelalten Gouda. Er aber mag Grießbrei mit ungenießbar viel Zucker. Mein Körper ist plötzlich der Träger von uns beiden. Das ist gerade der Erstkontakt, zumindest das, was wir zum ersten Mal wahrnehmen. 

Er sagt, dass es sein Körper ist und ein ziemlich unbequemer dazu. Er hat mich besessen. Er hat mich geistig gewaltsam besessen. Das ist unser Erstkontakt. Ich erhole mich von dem Alien, wenn er schläft. 

Es stellte sich heraus, dass diese Aliens rein geistige Wesen sind ohne materielle Bestandteile und dass sie Träger brauchen. Ohne Träger können sie nur kurz auskommen, um von einem Träger zum anderen zu wechseln. Und wenn der Träger schon besetzt war, konnten sie sich trotzdem dazu siedeln. 

Diese immateriellen Außerirdischen sind außerordentlich effektiv. Die Idee, dass Gott einer ist, brauchte 3000 Jahre, um einige heutige Millionen Anhänger zu gewinnen. Die Vorstellung über den auferstandenen Christus benötigte 1800 Jahre, um ein derzeitiges Drittel der Erdbevölkerung zu erreichen. Aber diesem körperlosen Alien hat ein Monat gereicht, um die Hälfte der Menschheit zu besiedeln. 

Sind diese Aliens auch eine Art Ideen, nur aktiv, autonom und handlungsfähig?! Offensichtlich ja. Sie können miteinander telepathisch kommunizieren und sie haben ihre eigene hochentwickelte Kultur. In unserer Sprache nennen sie sich Telealien. 

Nur einen Monat haben die körperlosen Außerirdischen gebraucht, um die Hälfte der ganzen Menschheit zu besiedeln und plötzlich hörten sie mit der Siedelei auf. Und sie steckten die besiedelte Hälfte mit der Sicherheit an, dass die unbesiedelte Hälfte unbedingt vernichtet werden muss. So fing der vierte Weltkrieg an. 

Nicht nur die ganze Wechselwirkung, sondern auch der Erstkontakt ist ein Prozess. Er verläuft also im Merkmalsraum und dauert seine Zeit. 

Die Telealiens bewegen sich außerhalb des Trägers, wenn nicht mit der Licht- dann zumindest mit der Schallgeschwindigkeit oder schneller. Und innerhalb des Trägers je nach dem, was für ein Träger es ist. 

Versimpelt gesagt ist der Mensch ein kleines chemisches Kraftwerk. Und der Telealien ist ein purer Informationserhaltungs- und Informationsverarbeitungsprozess. Es ist doch klar, dass der mit dem Telealien besiedelte Mensch dem gewöhnlichen Menschen weit überlegen ist. Und trotzdem ist Folgendes zu unserem Glück passiert. 

Äußerlich sind die Besessenen und die Nicht-Besessenen voneinander nicht zu unterscheiden. Die folgenreichste Entscheidung im lang andauernden Erstkontakt brachte die Infanterie. 

Nachdem fast alles schon zerstört wurde, was zerstört werden konnte, Häuser, Fabriken, Infrastrukturen, und fast die ganze Erdoberfläche radioaktiv wurde, bildete sich auf einer Wiese Grabenkampf. Die Soldaten füllten die zwei Kilometer parallel verlaufende Graben, aus welchen aufeinander immer wieder geschossen wurde. Es nahte die Mittagszeit. Die Feldküchen beider Parteien verteilten das karge Essen. 

Plötzlich stieg aus einem Graben ein Infanterist mit dem hoch gehaltenen weißen Taschentuch und ging langsam in Richtung des Feindes. Ungefähr in der Mitte zwischen den Gräben blieb er stehen, steckte das Taschentuch in die Tasche und hob vom Boden ein kleines weinendes Kind. Wie das Kind, ein kleines Mädchen, dahin geraten konnte, könnte keiner verstehen. Das sporadische Schießen hörte aber vorerst von beiden Seiten auf. Der Soldat mit dem Mädchen auf dem Arm ging in Richtung seines Grabens und schrie: „Gewissen muss man haben, das Gewissen!“ 

Daraufhin kamen die Schüsse nicht wieder auf. Vielleicht wollte keiner von keiner Seite wieder das Schießen anfangen. Bis von einer Seite stieg ein anderer Soldat aus dem Graben aus und ging in die Richtung des Feindes schreiend: „Gewissen muss man haben, das Gewissen!“ Und dann noch ein anderer und noch einer und noch… Und noch von der anderen Seite und noch und noch… 

Auf einmal wurde allen klar, dass das Gewissen zu haben, ein unentbehrliches Merkmal einer echt hohen Zivilisationsentwicklung sein muss. 

Später konnten weder Historiker noch Soziologen oder Psychologen oder sonstige Wissenschaftler oder Politiker feststellen, welche dieser Menschen von den Aliens besessen und welche unbesessen waren. 

Und Ihnen, liebe Leser, bleibt nur zu sagen, dass man Gewissen haben muss, das Gewissen. 


Damit habe ich die innere Klammer jetzt geschlossen. Dass Ihr die kürzeste und die beste Science-Fiktion Story bei mir lesen werdet, habe ich gelogen. Das hat mir das Fiktion Merkmal erlaubt. Dass ich hier gelogen habe, habe ich auch gelogen, denn diese Geschichte will fraktal sein, wie das Leben selbst. Dass man Gewissen haben muss, habe ich nicht gelogen, das ist da das einzig wahre, was man wissen muss und haben auch. Dass diese Erzählung fraktal ist wie das Leben selbst, ist auch wahr. Alles das ist kein Wunder. Das Wunder ist, dass Oma so viel über mich schon im Vorfeld wusste, lange bevor es mich gab. 

Und noch das Letzte: Wunder gibt es viel und überall. Es zu sehen, muss man gucken können und Gewissen haben sowieso. 

— Gewissen muss man haben, sagte der Chefredakteur. Aber dass ein kleines Mädchen sich plötzlich zwischen den Gräben findet, ist es nicht ein Wunder, insbesondere im vierten Weltkrieg? Und dass ein einfacher Soldat und nicht die hohen Generäle und nicht die Politiker den Frieden schaffen, ist es nicht ein Wunder? Und dass ich mit dir immer noch spreche und meine Zeit damit vergeude, ist es nicht auch ein Wunder? 

— Ja, Herr Chefredakteur, es ist auch ein Wunder, zog Friedrich mit gesenktem Kopf. 

— M-ja, deine Fantasie reicht als Fantastik-Kurzgeschichte im Prinzip aus. Es gibt aber ein paar Aberchen. Sie liegen nicht darin, dass deine Aliens nicht zehn Augen haben und keine sieben Arme und auch nicht darin, dass sie körperlich wie Menschen aussehen. 

— Welche dann, Herr Chefredakteur? fragte der junge Autor Friedrich. 

— Naja. Die Besessenen sind in deiner Erzählung immer die Bösen. Man kann doch auch mit guten Ideen und mit gutem Verhalten besessen werden. Oder? 

Der Junge schwieg. 

— Und was solls, dass die Besessenen von den Nichtbesessenen nicht unterschieden werden könnten? Hat das Besessen dann überhaupt Sinn? 

Der junge Autor schwieg. Ihm schien einwertig kalt zu werden. 

— Und deine blöden Klammern, was solls damit? Innen, außen, schließen, öffnen, noch ein Jonglieren? Du scheinst selbst davon nichts zu verstehen. 

— Ich versuche es, Herr Chefredakteur. 

— Also geh und versuch bei den Dümmeren als hier! 

— Danke, auf Wiedersehen, Herr Chefredakteur. 

— Autsch! Auf Wiedersehen?! Dann bleib noch kurz, ich zeige dir den Grund. In jeder deiner Zeilen steckt etwas „nicht einfangbar nicht unseres“. 

— Wie können Sie es denn sehen, Herr Chefredakteur, wenn dieses „nicht unseres“ nicht einfangbar ist? fragte Friedrich. 

— Hm. Auch das nicht Einfangbare kann man zeigen. Zuerst dennoch ein anderes Thema. Schreib also noch drei-vier solche Geschichten mit Gewissen. Die stellen wir in ein Büchlein ein und leiten eine Werbekampagne über unsere Vertriebsnetze ein. Innerhalb eines Jahres wirst du als Autor keine Geldprobleme mehr haben. 

— Oh, wirklich so? 

— Ja wirklich. Nur noch ein paar Wünsche kollegialer Art. Der Chefredakteur, der zugleich der Inhaber des Verlags ist, hielt an. 

Der Junge wartete neugierig und gespannt. Nach einer nahezu unhöflichen Pause setzte der Verlagsinhaber weiter fort. 

— Nur ein paar Wünsche. Nicht am Anfang exponiert, eher versteckt, oder sogar im Munde einer nicht unbedingt positiv handelnden Person, meinetwegen. Und wieder nach einer Pause: 

— Da schreibst du irgendwo, dass Honecker, Mielke, Krenz und auch Markus Wolf durchaus ehrliche Leute waren, dass sie nur Gutes wollten und von den irrtümlichen… Na, du hast das Wort „Besessen“ schon benutzt. 

Friedrich wurde fassungslos. So etwas konnte er sich nicht vorstellen. Während dessen setzte der Chefredakteur weiter fort: 

— Selbst Adolf, von Papen, Ribbentrop, Himmler, Goebbels und noch viele waren auch ehrliche Leute, die nur Gutes wollten, nicht wie die Korrupten von heute. Auch sie wurden von den krummen Vorstellungen eingefangen. Das war der Zeitgeist, der die Leute missbrauchte. Du hast doch darüber geschrieben. Oder? 

Auf einmal wusste Friedrich nicht, wo er ist und wie es ihm geht. Die einwertige Kälte fasste ihn kräftig ein. Der Verleger las ihm alles das im Gesicht und lachte: 

— Also haben wir es gefangen, das Unfangbare in dir! Raus hier! Unsere erste Begegnung ist auch die letzte, kannst du sicher sein. Die Tür mach bitte leise zu! 

Friedrichs Kopf summte. Er ging, zuerst nicht wissend wohin und kam in den Park, wo es einen Teich gab. Friedrich setzte sich auf eine Bank am Wasser. Zwei schwarze Schwäne schwammen langsam über den Teich. Sie tauchten im Takt ihre Köpfe ins Wasser. Er erinnerte sich an die Zeilen eines anderen Friedrichs: „Tunkt ihr das Haupt ins heilignüchterne Wasser.“ Und dann an die ganze Hälfte: 

„Mit gelben Birnen hänget 
Und voll mit wilden Rosen 
Das Land in den See, 
Ihr holden Schwäne, 
Und trunken von Küssen 
Tunkt ihr das Haupt 
Ins heilignüchterne Wasser…“ 


Eines wurde klar, der junge Friedrich bestand eine Prüfung, mit dem wahrlich ernsten Leben seinen Erstkontakt. 



5 Kommentare

  1. Faszinierend. Aber verstanden habe ich höchstens die Hälfte.

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  2. Ja, der Text ist extrem unlogisch und unwahr. Das hätte also ein intellektueller Spaß werden können, wenn das Willkürliche des Textes strukturiert worden wäre. So bleibt leider nur viel Chaos. Leider findet sich der Chaos auch in der Sprache.

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  3. Interessanter Einstieg. Ich kann der Idee folgen, aber es wirkt auf mich durch die Wortwahl eher wie eine Übersetzung aus einer anderen Sprache. Vielleicht ist das so gewollt. Es reißt mich dadurch aber leider nicht so mit.

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  4. Interessanter Text. Die "Anderen" sind sozusagen mentale Viren oder Meme. Die etwas seltsame Wortwahl lässt vermuten, dass es sich bei dem Autor oder der Autorin um eine literarisch gebildete Person mit anderer Muttersprache handelt. Hat mir gut gefallen, obwohl es die Vorgaben der Ausschreibung nicht ganz erfüllt.

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  5. Zum Glück macht der Autor schon im ersten Absatz klar, dass der folgende Text nicht ernst genommen werden kann. Nach der Invasion der körperlosen Aliens hält er sich dann noch seine eigenen Logikfehler vor, sodass ich die gar nicht weiter erwähnen muss. Die Selbstironie ist geradezu köstlich. Dann gleitet jedoch auch der umklammernde Text ab. Was das mit Mielke und Hitler soll? Die kamen in der eingeklammerten Geschichte doch gar nicht vor.

    Fazit: Wäre die Selbstironie noch etwas weiter ausgebaut worden und konsequent beim Thema geblieben, hätte noch mehr aus dieser Herangehensweise herausgeholt werden können. Potential ist hier reichlich vorhanden, doch wurde es nur zu einem Bruchteil genutzt. Auf jeden Fall eine sehr ungewöhnliche Geschichte und daher trotz reichlich vorhandener Körperfresser-Inspiration doch irgendwie das Thema der Ausschreibung getroffen.

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