ZACSF2024_023

Unter einem Himmel aus Feuer

von Maximilian Wust

Platz 9 beim ZACSF2024



Er war einmal schön gewesen, reich und fruchtbar – das sah man ihm noch an.

Doch das war längst vergangen. Nur rost- und lederroter Staub, verdorrte Wüsten und verbrannte Ebenen, waren von seinen Wäldern und Auen geblieben. Ausgetrocknete Flussbetten wanden sich wie Narben über die Regionen und mündeten in Senken, die einmal Meere gewesen sein mussten. Flecken aus karierten Mustern zeugten von einstmaligen Städten.

Flavius schwebte vor dem Panoramafenster des Schiffes und verlor sich einmal mehr in den Anblick der Planetenleiche vierhundert Kilometer unter ihm.. Eigentlich hatte sich der rotblonde, knöchern dünne Kelte mit dem markanten Gesicht anders ablenken wollen – sein eBook trieb nur dreißig Zentimeter von einem Gesicht, der Roman immer noch auf Seite 2 konserviert –, aber er konnte einfach nicht anders, als immerzu hinabzublicken. Als würden ihn die Geister dieses Planeten zu sich rufen.

Kyan, die geduldig an der Schleuse wartete, entging das selbstverständlich nicht.

„Soll ich dich auf den neuesten Stand bringen?“, fragte die zierliche Frau mit den griechischen Locken und den faszinierend schönen Augen. Ihr weißes Sommerkleid mäanderte in der Schwerelosigkeit.

Er hatte sie oft genug darum gebeten, also antwortete er dieses Mal nicht.

Was sie als Bestätigung interpretierte: „Die Bohrsonden bestätigen inzwischen die Theorien: Der Planet war einmal bewässert und begrünt – vermutlich für Milliarden von Jahre. Leider befand sich seine Sonne schon seit neunhundert Millionen Jahren in der Expansionsphase zum Roten Riesen. Sein Leben muss fortlaufend geschwunden sein und vor etwa achtzigtausend Jahren, als die ersten Menschen Afrika verließen, starben seine letzten Einzeller aus.“

„Und seine Bewohner?“, fragte Flavius.

„Wurden zu Popcorn“, murrte eine Ingwertee-Stimme, von der Flavius gehofft hatte, sie erst später zu hören.

Kommandeurin Rubea driftete gemütlich durch die Schleuse. Sie trug wie immer nichts am atrophiert-hageren Leib. Im ganzen Cosmicum war sie dafür bekannt, die Temperatur in ihrem Schiff um vier Grad zu steigern, um sich den überaus überflüssigen Akt des Ankleidens zu ersparen – wie sie sich auch nicht daran störte, wenn man sich daran störte. Elf Missionen in fünfundzwanzig Jahren hatten die einst adrette, ordentliche Frau in ihr Gegenteil verkehrt.

Flavius würdigte seine Vorgesetzte keines Blickes. „Und die Pyramide?“

„Ist echt. Keine geologische Anomalie oder so.“ Wie man im Mutterschiff vermutet hatte.

„Hat die KI bereits ein paar Empfehlungen für Landeorte?“

„Die Ebene direkt vor der Pyramide ist perfekt. Das ist es doch, was du fragen wolltest.“ Rubea lachte durch die Nase. „Deinen Missionsstart habe ich in achtundvierzig Stunden anberaumt.“

Flavius stöhnte.

Worauf die Kommandeurin mit den Augen rollte. „Meinetwegen auch in vierundzwanzig“, hauchte sie und ließ sich in den Korridor zurückfallen. „Wenn du so dringend da runter willst!“


Flavius schwebte an der Schleuse und warf einen letzten Blick auf den Kegel, der mit der Spitze auf den Planeten deutend, aus dem Schiff ragte. Die offizielle Bezeichnung lautete Multifunktionslandungshabitat, im Cosmicum hingegen nannte man sie Hütchen.

Im Wesentlichen handelte es sich dabei um serienproduzierte Abwurfstützpunkte. Ein zwölf Meter hoher, spitzzulaufender Kegel aus Aluminiumsilber. Im untersten Bereich, im Fundament des „Hütchens“, wurde gearbeitet. Dort befand sich das Labor, die Werkstatt und die Garage. Ein Stockwerk darüber lag der Hangar mit dem Senkrechtstarter, der um den halben Planeten und zurück fliegen konnte, ohne aufzutanken. In der dritte Etage hingegen lebte man in einer Vier-Zimmer-Wohnung. Sie bot vier Personen genug Platz, um sich notfalls aus dem Weg gehen zu können. Und die Spitze darüber wartete währenddessen auf das Ende der Mission. War diese abgeschlossen oder musste abgebrochen werden, evakuierten sich die Spationauten mitsamt den wichtigsten Proben in sie hinein und starteten in ihr zurück in den Orbit, um dort eingesammelt zu werden.

Flavius stieß gemeinsam mit Kyan durch die Schleuse ins Fundament und von dort in die Spitze hinab, das spätere Oben, wo sie einander gegenüber Platz nahmen. Er hatte mit vielen Stunden aus Diskussionen erwirkt, dass sie das durfte. Es wirkte jedoch ein wenig albern, dass er im rot-goldenen SPQR-Raumanzug Platz nahm, während sie nur ihr Sommerkleid trug.

Flavius checkte dem Protokoll entsprechend noch einmal sämtliche Daten und Werte und eröffnete: „NCR Coeur de la Nuit, hier ist die NCR Lueur: Alle Systeme laufen nominal und alle sind Bestände gedeckt. Wir leiten den Abdockvorgang ein.“

„Bestätigt, Lueur“, erwiderte Kommandeurin Rubea gleichgültig.

Knirsch- und Scharrlaute drangen aus den Wänden, während sich Kabel, Schläuche und Rohre, die mechanischen Nabelschnüre, voneinander lösten.

„Coeur de la Nuit, wir starten.“

„Viel Spaß da unten, Lueur.“

Mit einem Donnern entzündeten sich die Triebwerke und alles wurde schwer, während der Planet näherkam. Selbst eine dünne, ausgebrannte Atmosphäre des toten Planeten verlangte immer noch eine Geschwindigkeit von 5,1 Kilometern pro Sekunde, um Fremdkörper einzulassen. Also beschleunigte Flavius auf 5,5.

Die Eintrittsflammen tanzten um die Lueur. Leichte Beben arbeiteten sich durch die Gyrostabilisatoren ins Cockpit vor. Bevor es plötzlich schnalzte.

Wie der Peitschenhieb eines Gottes.

Die Lueur kreiselte. Aus Oben wurde Unten und wieder Oben, was Höhenmesser und Fluglageanzeiger mit Piepsen kommentierten. Die Steuersäule schnellte nach vorne, präsentierte sich geradezu Flavius, damit er die Steuerung übernahm.

Er reagierte so schnell er konnte, zündete die Seitentriebwerke, korrigierte die Drehung gerade so zu einem Schlingern und ließ die Sprengtriebwerke entfachen – die Notfalldüsen, die wie Silvesterraketen ausbrannten, aber mit unglaublicher Wucht bremsten. Flavius spürte den Gegenschub wie eine Faust aus seiner Brust den Hals hinaufwandern.

Bevor die Welt auf einmal rot wurde.

Und dann schwarz.


Ihre Augen waren schon lange seine Sonne gewesen.

Ein helles, makelloses Blau, das fast ins Türkis überging. Wie von einer Fee, nur noch schöner.

Seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte, damals in der zweiten Schulklasse, wünschte sich Flavius, auch von ihnen gesehen zu werden. Jede Woche, manchmal jeden Tag, ging er zur Boutique, um sich in diesen Pupillen zu verlieren. Seine Freunde lachten ihn dafür aus, seine Eltern hielten es für eine Phase, aber was als einfache Faszination begonnen hatte, wurde irgendwann zur Gewohnheit und dann zur Tradition.

Er besuchte Kyan oft – zuerst nach der Schule, später wenn er von der Uni für ein Wochenende nach Hause kam, am letzten Tag vor seiner ersten Mission und zuletzt, nachdem er von ihr zurückgekehrt war. Dann ging er endlich in die Boutique hinein und kaufte sie sich.

Seitdem sah er jeden Tag in ihre Augen. Gleich nach dem Erwachen.

So auch jetzt, als er zurück ins Bewusstsein sickerte.

„Wie lange …?“, fragte er in den Raum vor seinem Verstand.

„Du warst zwei Minuten und achtundvierzig Sekunden bewusstlos.“

„Die Lueur …“

Kyan lächelte. „Ist intakt“, erklärte sie sanft und nahm seine Hand in ihre Händchen.

„Was ist –?“ Flavius ächzte. Er saß nicht mehr im Gelsessel in der Spitze, sondern lag unter dem Auto-Medicus, im Sanitätsbereich neben dem Hangar. Elektroden an Brust und Stirn verbanden ihn mit den Messgeräten; seine EKG- und EEG-Linien schienen jedoch nominal zu verlaufen. „Wie?“

„Es gab einen unerwarteten Druckanstieg in der oberen Stratosphäre. Du hast gekonnt gegengesteuert, doch die g-Kräfte haben dich eine Blickröte mit anschließender Bewusstlosigkeit erleiden lassen. Wir mussten die Lueur ohne dich landen.“

„Wir?“

„Kommandeurin Rubea und ich.“

„Sie hat dir die Kontrolle übertragen?“

Kyan nickte.

„Sie hasst dich.“

„Aber sie weiß, dass ich dich immer beschützen würde.“

Er schnappte nach Luft. „Die Pyramide“, kam ihm dabei wieder in den Sinn.

Flavius wollte sich aufrichten, wurde aber von Kyan sanft zurück auf die Liege gedrückt. In ihren Feenhänden steckte weit mehr Kraft als in den Armen eines Gewichthebers. Alle Pseudoiden mussten, um auf Expeditionen zugelassen zu werden, auch gleichzeitig als Arbeitsmaschinen geeignet sein. „Du solltest noch etwas liegen bleiben“, bestimmte sie.

„Mir egal. Ich muss sie sehen!“


Nicht einmal fünfzehn Minuten später marschierten Flavius und Kyan über den rostfarbenen Felsboden. Er, im genauso roten Atmosphärenanzug des Cosmicums, der Raumfahrtsbehörde des SPQR; sie trug lediglich ihr weißes Sommerkleid mit blauen Blumen. Es hatte etwas Abstraktes, Unnatürliches an sich, wie Kyan scheinbar unbeteiligt über den verbrannten Boden spazierte, als wäre sie am Strand. Nichts, nicht einmal mehr extremophile Einzeller konnten hier überleben, aber eine grazile Pseudoidin im Rock. Flavius überlegte, sie von nun an auch in einen Anzug zu stecken – einfach nur der Immersion wegen.

Eine schier endlose Ebene aus kupferfarbenem Felsgestein erstreckte sich von einem Horizont zum anderen. Eine höllische Leere. Sandpartikel rieben etwa einen Kilometer über dem Boden gegeneinander und entzündeten sich gemeinsam mit der immensen Hitze, zu Straßen aus Plasma. Das hier war an einem Ort, an dem der Himmel brannte.

Flavius stand zwischen zwei offensichtlich künstlichen Objekten. Hinter ihm erhob sich das Hütchen, der zwölf Meter hohe Wohn- und Arbeitskegel aus Silber. Er schien trotz der Turbulenzen unversehrt gelandet zu sein. Die Herkuloi, die gedrungenen, schwerfälligen Arbeitsroboter, errichteten gerade Stützen, um seine Neigung von achtzehn auf null Grad zu reduzieren.

Gegenüber ragte die schwarze Pyramide über dreihundert Meter weit aus dem oxidierten Gestein. Wie ein bedrohlicher, aber schlafender Gigant. Der Textur ihrer Oberfläche nach, einem gleichmäßigen Liniencharakter, schien sie aus einer stark verdichteten, triklinen Kristallstruktur zu bestehen.

„Was sagen die Messgeräte?“, fragte Flavius seine Pseudoidin.

Diese blickte für einen Moment betreten drein, während sie sich drahtlos mit ihnen verband. „Wie schon vermutet, reagiert sie endotherm auf ihre Umgebung. Das bedeutet: Sie entzieht der Atmosphäre Wärme und –“

„Ist sie aktiv?“

„Sie sendet keine Signale aus und ihre Vibrationsmuster unterscheiden sich nicht von der Umgebung. Bei dem Material könnte es sich also auch um einen äußert durchlässigen Verbundstoff handeln, der somit als ein passiver Wärmetauscher zwischen einem kühleren Hohlraum und der Oberfläche fungiert.“

Was Flavius bezweifelte. Er tastete sie mit Blicken ab und entdeckte eine sechs Meter hohe und vier Meter breite Vertiefung am Fuß der Pyramide. Darin erkannte er eine in der Mitte getrennte Wand, wie von einer Doppeltür. „Ist das ein Eingang?“

„Vielleicht nur auf den ersten Blick“, warnte Kyan.

Flavius lief darauf zu. Das Portal – falls es überhaupt eines war – öffnete sich nicht und ließ sich auch nicht öffnen, ebenso gab es keinen Schalter, der auf Input wartete.

„Dein Verhalten ist gerade überaus unprofessionell“, mahnte Kyan, als sie herankam. „Wir wissen nichts über dieses Bauwerk. Sollte es sich um ein Grab einer Eisenzeit-Kultur handeln, so wird der Eingang selbstverständlich verschlossen sein. Im Falle einer Bunkeranlage hätten dich Verteidigungssysteme empfangen können. In jedem Fall empfehle ich, den Herkuloi die ersten Untersuchungen zu überlassen.“

„Es ist mehr“, wusste Flavius einfach. „Nicht bloß ein Grab oder ein Bunker. Weit mehr.“


Die Sonne versank zornig, ihre flammenden Arme werfend hinter der Ebene und es wurde Zeit für seinen alltäglichen Bericht.

Flavius setzte sich an den Schreibtisch in der Werkstatt und nahm den Videoanruf an. Und schmunzelte ein wenig: Kommandeurin Rubea präsentierte sich in Unterwäsche – vermutlich aber nur, weil dieses Gespräch aufgezeichnet und von den Xenologen des Cosmicums analysiert werden würde.

„Guten Abend. Dein Zweiter auf dem Planeten Bratpfanne“, eröffnete sie gleich nach Übertragungsbeginn. „Wie geht es voran?“ 

„Eine Bohrung entlang der Pyramidenhülle ergab, dass sie noch einhundertvierzig Meter weit bis in den Boden hineinreicht. Ihre gesamte Höhe beträgt also 349, ihre Seitenlänge etwas mehr 548 Meter.“

„Sie ist riesig.“

„Kolossal eher.“

„Und diese Doppeltür?“

„Weder Kyan noch die Herkuloi konnten sie einen Millimeter bewegen. Wir wollen sie als nächstes mit dem Bergbau-Laser bearbeiten. Die dünne Atmosphäre kommt uns dabei entgegen. Wir müssten keinen Multifrequenzlaser verwenden, sondern könnten stattdessen stur den Strahl darauf projizieren.“

Rubea überlegte. „Hast du keine Angst, dass sich die Pyramide wehrt?“

„Also ein Geschütz ausfährt und die Lueur wegsprengt?“

„Kein Grund, sarkastisch zu werden“, fauchte die Frau, der sonst eigentlich alles gleich war. „Ich genehmige deine Bestrahlungstherapie, aber sag mir eines, Flavius: Seit die Sonde die Pyramide gesehen hat –“

„Ich weiß. Seitdem bin ich wie besessen davon.“

„Was glaubst du, ist da drin?“

Er überlegte. „Kunstwerke, Daten, Blaupausen? Kyan vermutet, dass es sich um ein Archiv handelt, in dem die Bewohner des Planeten ihre gesamte Kultur gespeichert haben – als so eine Art letzte Hoffnung, auf das jemand eines Tages ihr Wissen, ihre Essenz findet.“

„Und auf was hoffst du, das da drinnen zu finden ist?“

„Außerirdische Pornografie natürlich.“ Klang besser, als. Etwas, das all unsere Theorien über den Haufen wirft.



Es war der Morgen des vierten Tages seit der Landung. Flavius hatte sich auf einen Herkules gesetzt, Kyan – jetzt auch im Atmosphärenanzug – neben ihm. Weil er persönlich zusehen wollte.

uf den ersten Blick erinnerte der Koloss, den die Herkuloi nur vierzig Meter von der Pyramide entfernt positioniert hatten, an einen silbernen Betonmischer auf Panzerketten; seine Öffnung direkt auf die Doppeltür gerichtet. Und obwohl Flavius kein Techniker war, verstand er eigenartig genau, wie der Laserprojektor funktionierte: Nicht nur, wie die Kabel Strom lieferten und Kühlflüssigkeit austauschten, sondern noch mehr: Dass für einen Laser der energetische Zustand der Metastabilität erhalten werden musste und dass man diesen atomaren Tanz durch eine sogenannte Besetzungsinvasion erreichte, indem man Helium- gegen Neonatome stoßen ließ. Hatte er das –?

„Wir sind soweit“, erklärte Kyan und riss ihn aus den Gedanken.

„Dann fangt an!“, befahl ihr Besitzer.

Ein melodisches, walartiges Summen erfüllte die Luft, bevor die Laserkanone die Pyramide mit gebündeltem Licht bewarf. Ein roter, gleich darauf weißer Faden aus blendend hellem Licht verlief zwischen den Projektor und dem schwarzen Kristall, tanze, flackerte und erlosch, bevor die Kühlaggregate überfordert wieherten.

„Kyan …“, hauchte Flavius.

Diese zögerte. Es wirkte jedenfalls so, während sie die Daten von der Habitats-KI abrief, die diese zuerst aus dem Bergbau-Laser holen, der das wiederum mit seinen Sensoren eruierte musste. „Die Bestrahlung hat …“ Die Pseudoidin hielt inne. „Keine Schäden mehr verursacht.“

„Wie soll ich das verstehen?“

„Der Laser hat etwa zwei Millimeter des Außenmaterials abgetragen. Die Pyramide scheint sich jedoch innerhalb von achtzig Sekunden selbst repariert zu haben. Vielleicht handelt es sich dabei um ein nach innen verdichtetes Material, das sich bei Verlusten nach außen hin ausbreitet, ähnlich Selbstheilenden Beton oder Bienenwaben. Vielleicht ist es auch …“

Flavius hörte längst nicht mehr zu. „Ich verstehe schon. Irgendwie muss dieses Ding ja die letzten achtzigtausend Jahre überlebt haben, ohne von den Winden abgewetzt worden zu sein.“

Kyan berührte seinen linken Arm. „Sei bitte nicht enttäuscht.“

„Wieso sollte ich?“

Das war sie schließlich – die finale Bestätigung, die er gebraucht hatte. Die Pyramide beherbergte mehr als nur einen Alien-Pharao oder eine außerirdische Enzyklopädie. Weit mehr.


„Wir hätten das schon früher tun sollen“, erklärte Kyan vorfreudig.

„Ich weiß“, erwiderte Flavius.

Es war der fünfte Tag seit der Landung. Er und seine Pseudoidin saßen eng aneinander geschmiegt im Cockpit des Senkrechtstarters, während unter ihnen die Wüste von den Flüssen, Tundren und dem Permafrost erzählte, die sie einmal bedeckt hatten. Sie waren vollkommen verbrannt und verdampft, rostbraun und unter achtzig Millennien aus Sand- und Feuerstürmen begraben worden, aber immer noch als ihre frühere Gestalt erkennbar. Wie ein alter Mann, dem man ansah, einmal ein großer Kämpfer gewesen zu sein. Flavius flog tiefer, um es noch besser sehen zu können.

Wie schon vor dem Laserbeschuss so bemerkte er auch jetzt, wie seltsam viel er eigentlich über die Fliegerei wusste. Dass sein Flugzeug nicht nur von der Geschwindigkeit und den Triebwerken getragen wurde, die durch Magnetspulen Zyklone aus Plasma ausstießen, sondern auch von den Wirbeln, die sich bildeten, nachdem die Luft von den Flügeln zerschnitten wurde. Sie waren es, was dreizehn Tonnen aus Stahl und Karbon über dem Boden schweben ließen.

Flavius fragte sich, ob es seine Faszination für diesen Ort war, oder das Adrenalin, das dieses Basiswissen in letzter Zeit in den Untiefen seines Verstandes fand. Wobei er bereits ahnte, dass –

„Wir nähern uns dem Ziel“, wusste Kyan.

Die steinerne Ebene, über die sie hinwegjagten, fiel in ein Tal ab, in dessen staubbedecktem Zentrum sich ein Muster aus Linien und Vierecken abzeichnete: eine Stadt. Oder was die Zeitalter von ihr übrig gelassen hatten.

Flavius bremste das Flugzeug, ließ die Triebwerke in den Schwebemodus wechseln – also in Richtung Boden deuten – und näherte sich dem Zentrum dieser einstmaligen Metropole, die von der Fläche her einmal mit Lutetia konkurriert haben musste. Die Strahlen aus den Düsen ersparten ihm dabei die Arbeit mit dem Spaten und fegten den weichen Sand zur Seite. Als Flavius aufsetzte, tat er das bereits auf festem Boden.

Der Herkules – der serienmäßig im Bauch des Senkrechtstarters wartete – löste sich, entfaltete seine viereckige Gestalt zu einer Gestalt aus Vierecken und sonderte die direkte Umgebung, während das Kyan und Flavius auf ihre Art taten: Sie mit den Sensoren des Fliegers, er mit seinen Netzhäuten.

Die Grundmauern aus einem marmorähnlichen Material zeigten, dass ihre Erbauer deutlich kleiner als Menschen gewesen sein mussten. Die zwei Türrahmen, die Flavius aus dem Staub ragen sah, reichten ihm gerade bis zur Brust.

„Was glaubst du, wie das Ende ausgesehen hat?“, fragte er Kyan.

Sie schnaufte. Nicht, dass sie das musste. „Die Letzten dieser Zivilisation saßen allein in überhitzten Bunkern, überlebten gerade so und fragten sich, ob es überhaupt noch jemand anderen da draußen gab. Ich vermute, sie starben nicht durch die Folgen der Hitze, Hunger oder Durst, sondern einsam, an Altersschwäche, weil es niemanden mehr gab, mit dem sie Nachwuchs hätten zeugen können.“

Flavius zischte. Für eine KI konnte seine Pseudoidin erschreckend düstere Gedanken äußern.

Er wollte gerade aussteigen und sich das Gemäuer aus der Nähe ansehen, als er etwas anderes bemerkte. Etwas, das weitaus mehr versprach: Eine Treppe in den Untergrund.

Neugierig marschierte er darauf zu; und auch gleich die ersten Stufen hinab. Rostroter, über Jahrtausende verdichteter, verkrusteter Sandstein verstopfte den Zugang.

„Vielleicht eine Art U-Bahn-Schacht?“, vermutete Kyan.

„Wir werden es gleich herausfinden“, versicherte Flavius. „Herkules Neun, gib dem Stein dreißig Stöße mit Stufe Sechs!“

Was der Roboter verstand. Er kam herangestampft, öffnete seine linke Pranke und feuerte einige Impulse aus seinem Korpuskularstrahler ab. Dreißig gelbe Lichtblitze schossen wie von einem Fotoapparat gegen den Sandstein. Die ersten zehn bewirkten scheinbar nichts, die zweite Serie übersäte ihn mit Rissen, die dritte ließ ihn nachgeben, sogar einige Segmente regelrecht verflüssigen.

Teilchenstrahlen – das „Erdbeben aus der Hand“, wie man sie in Rom nannte – wurden vor allem beim Planieren eingesetzt – oder beim Zerstreuen von Demonstranten – , konnten aber auch Schutt beiseite blitzen.

Flavius entzündete eine Phosphorkerze mit praktischer Wasserschale und ging voraus.

Nur um sogleich von Kyan überholt zu werden. Statt sich in einem U-Bahnhof wiederzufinden, standen Pseudoidin, ihr Besitzer und der Herkuloi nämlich vor einer tresorartigen Tür aus einem marmorartigen Stahl. Anders ließ sich das Material nicht beschreiben. Kyan ertastete die Ränder, ächzte kurz und spreizte den verschlossenen Eingang zu einem Zugang.

„Lass das doch den Herkules machen“, fluchte Flavius.

Was sie mit einem Lächeln beantwortete. „Ich mag es aber, wenn du dich um mich sorgst.“

Hinter der Tür erwartete sie zunächst ein Korridor aus demselben Material. Nur die Decke schien mit etwas bespannt zu sein, das Flavius als organisches Metall bezeichnet hätte. Seine meist bauchige, wellenförmige Art lag tief, wie für Lebensformen gemacht, die Menschen kaum bis zum Bauchnabel reichten. Flavius und Kyan mussten sich ducken, der Herkules draußen warten.

An den Wänden entdeckten sie gelbe Ovale, offensichtlich Lampen, Rohre und fremde Schriftzeichen. Die Bewohner dieses Planeten hatten anscheinend ganze Sätze gebildet, indem sie nur Striche korrekt überkreuzt hatten.

„Codes“, verstand Kyan, mit ihrem stochastischen Geist. „Es sind Informationscodes. Wie Bar- oder QR-Codes. Ich erfasse ein Basis- und ein Navigationsmuster. Sie scheinen sämtliche Schilder dadurch ersetzt zu haben.“

„Wie in Augsburg“, überlegte Flavius. „Die Goten laufen heute nur noch mit Intelli-Brillen herum.“

Sie gingen gebückt tiefer hinab, folgten dem fünfeckigen Schacht, bis sie an einer Kreuzung ankamen. Ein singender Ton erfüllte plötzlich die Tunnels und mehrere der bernsteinartigen Ovale begannen zu leuchten. Ein Bewegungsmelder musste sie ausgelöst haben. Ein Sensor, der genauso wie die Lampen und die Kabel sogar nach achtzigtausend Jahren noch funktionierte! 

„Wie kann das sein?“, staunte Flavius. „Haben sie diesen Bunker, diese Anlage erst vor ein paar Jahren gebaut?“

Kyan wirkte wieder so, als würde sie zögern, während sie die Daten checkte. „Nein. Der Herkules hat bereits Proben genommen. Mit der von mir errechneten Radiokarbonmatrix wurde diese Anlage vor ihrem Anwendungsbereich errichtet, also vor mindestens sechszigtausend Jahren.“

„Unsere LEDs halten kaum zwanzig!“

„Die fordernde Natur ihrer Welt ließ ihre Bewohner vermutlich vor allem langlebige Technologie entwickeln. Aber bevor wir uns dieser Frage widmen …“, sagte Kyan und zeigte in den linken Korridor hinab.

Flavius erschrak. Dort, maximal zwanzig Meter von ihm entfernt, lag etwas: Ein vierbeiniges, graues Wesen mit biomechanischen Zügen, wie der futuristische Atmosphärenanzug eines Hundes ohne Schwanz. Seine Hinterläufe glichen tatsächlich denen eines Caninen, seine Vorderbeine hingegen endeten mit Händen: Drei fast ellenlange Finger und ein flossenartiger Daumen spreizten sich davon ab. War das einer von ihnen? Ein intelligenter Vierbeiner?

„Ist … es tot?“, fragte er Kyan, woher auch immer diese das wissen sollte.

„Es könnte sich auch um eine Maschine handeln. In diesem Fall –“

Es sprach. Dieser Hund-mit-Händen, dieser vielleicht Roboter, vielleicht im Schutzanzug gab auf einmal Töne von sich; eine Art Singen. Flavius war zuerst noch zu erstaunt, um es als mehr zu erkennen, aber es waren offensichtlich stockende, durch Pausen voneinander separierte Laute, die durch noch längere Schweigemomente in Sätze getrennt wurden.

Dieses Wesen sprach zu ihnen.


Rubea lehnte sich zurück, sichtlich bemüht, alles Gesagte zu verarbeiten. Flavius spiegelte unbewusst ihre Bewegung.

Er war wieder im Habitat, dieses Mal im Gemeinschaftraum und mit ihr im Video-Chat. Sie trug inzwischen nicht nur Unterwäsche, sondern sogar eine rot-goldene Offiziersjacke des Cosmicums. Die Kommandeurin hatte sich zudem die Haare gewaschen und vom Auto-Barbier auf Schulterlänge kürzen lassen, wie es schien. Die Ordnung stand ihr.

„Und es hat einfach aufgehört?“, wollte sie noch einmal bestätigt wissen.

Flavius zuckte nur mit den Schultern. „Die Stimme aus seiner Schnauze wurde zuerst leiser und dann stumm. Kyan vermutet, dass sich über die Jahrtausende eine Art Restenergie in seiner Batterie gesammelt haben muss. Diese aktivierte den Anzug, ließ ihn vielleicht um Hilfe rufen oder uns begrüßen, bevor die Reserven versiegten.“

„Und es ist ein Anzug?“

„Ich habe dir doch längst alle Daten geschickt: In seinem Inneren fanden wir Kalkreste, die vom Aufbau unseren Knochen gleichen. Ich denke daher, dass sein Besitzer starb, vor Äonen, und bis auf alle anorganischen Stoffe verwest ist.“

Rubea seufzte. „Und dieses Ding ist jetzt bei dir im Habitat?“

„Liegt unten auf dem Obduktionstisch. Der Auto-Medicus zerlegt es gerade und schickt mir – und dir – die Ergebnisse. In Echtzeit.“

„Hast du keine Angst, dass es dich, na ja, angreift? Oder heimlich unsere Systeme hackt?“

„Ich wage mal sehr zu bezweifeln, dass es das jetzt noch kann. Der Anzug besteht inzwischen“ – Flavius suchte die Zahlen in einem anderen Tab – „aus über achthundert Einzelteilen.“

Rubeas Seufzer gingen inzwischen in ein Zischen über. Offensichtlich nahm er ihr zu viele Risiken in Kauf. „Was habt ihr noch in diesen Tunnels entdeckt?“, sollte sie wohl genug davon ablenken, um sich darüber zu ärgern.

„Da waren vor allem zylinderförmige Kammern mit seltsam vielen Löchern in den Wänden. Kyan und ich vermuten, dass sie der Belüftung dienten – als eine Art passiver Wärmeregulator. Wir haben einige Möbel identifizieren können, aber nicht, wozu sie mal gut gewesen sind. Von ein paar Alkoven bin ich überzeugt, dass sie wohl als Schränke dienten und die gerippten Wannen, die wir in vielen Räumen fanden, könnten Betten gewesen sein. Ich will die nächsten Tage noch ein paar Mal dorthin fliegen und einige Exemplare in Sicherheitscontainer einlagern. Die Wissenschaftler vom SPQR werden es uns danken. Aber im Großen und Ganzen ist dieses Tunnelnetz wohl eine Art Schutzbunker gewesen. In der größten Halle fanden wir Hunderte von Anzügen. Manche kaum größer als ein Hundewelpe. Sie alle …“ Flavius suchte nach Worten. „Im Gegensatz zu dem am Eingang wurden sie in einer betenden Haltung aufgereiht.“

„Wahrscheinlich von dem Kerl am Eingang“, kombinierte Rubea. „Der Letzte macht das Licht aus und so. Ich glaube, ich verstehe es so langsam: Maschinen, die achtzigtausend Jahre lang funktionieren; eine Pyramide, die sich selbst repariert und Material, das wir nicht nachmachen. Dem Massenspektrometer deines Labors nach scheint die Isolation für diesen Hunde-Anzug Atomkern für Atomkern zusammengesteckt worden zu sein.“

Flavius nickte. „Sie waren uns technologisch weit überlegen, kein Zweifel. Einiges deutet für mich auf Konstruktionsmaschinen hin, die auf Nanometerbasis massenproduzieren konnten. Aber …“

„Sie entwickelten niemals das Reisen in Überlicht. Denk mal darüber nach: Die Entdeckung des Tether-Prinzips war ein reiner Zufall, der Amenstokles auch erst zweihundert Jahre später aufgefallen ist. Es könnt‘ durchaus Zivilisationen geben, die uns weit voraus sind, aber trotzdem immer noch in ihrem Systemen festsitzen.“

„Die Theorie wurde hier wohl gerade bestätigt.“

„Wie willst du weitermachen?“

„Nach Plan und Protokoll. Ich berge Maschinen aus dem Bunkernetzwerk und hoffe, dass der Laser vielleicht doch irgendwann durch die Außenhülle der Pyramide kommt.“

Rubea nickte unmerklich. Und überlegte. „Weißt du, warum man uns für diese Mission ausgewählt hat?“ „Weil man im Mutterschiff glaubte, dass die Pyramide natürlichen Ursprungs wäre?“

„Man hat diese Expedition so oder so für zwecklos erklärt. Es wäre nicht die erste außerirdische Zivilisation gewesen, der irgendwann um oder vor der Eisenzeit ausgestorben ist und das SPQR interessiert sich ja bekanntermaßen nicht für –“

„Fehlschläge“, verstand Flavius.

  „Deshalb hat man die zwei Personen losgeschickt, die niemand leiden konnte.“

Als sie wenig später die Video-Übertragung beendeten, bemerkte Flavius, dass es er sich anscheinend nun auch mit Videokameras auskannte. Bis in Details hinein.


Der Morgen vor dem Sturm war geradezu erleuchtend.

Flavius kroch aus seiner Koje und stieg in die Duschkabine. Er wollte gerade den Warmwasser-Regler drehen – in einem Abwurfhabitat waren so viele Knöpfe wie möglich analog, kaum einer touch-bedient –, als er auf einmal wusste, was er tat. Und das viel zu genau.

Wie sein Drehen die Dichtung lösen würde, wie das warme aus dem Boiler ein Stockwerk tiefer heraufgeschossen kam – mit eintausend mbar, wie er nun benennen konnte – und dass es von einem Perlator im Duschkopf mit Sauerstoff angereichert wurde. Und trug er danach sein Shampoo auf, so würden die Tenside, also grenzflächige, anionische Substanzen aus dem Natriumlaurylsulfat darin für Schaum sorgen. Eine Verbindung aus Natrium, Schwefel und Fettalkohol.

„Bei Jupiter!“, fluchte Flavius und trat zurück.

Er verzichtete auf die Dusche, die sich plötzlich zur physikalischen Lehrstunde entwickelt hatte, und taumelte zum Kühlschrank im Küchenraum. Um den primitiven Trieb der Nahrungsaufnahme laut werden so lassen, bevor sein Geist in Erkenntnissen ertrank.

Aber auch dort ließen sie ihn nicht los: Wieder wusste er auf einmal alles über alles. Dass und wie man das Fleisch mit Schwefeldioxid länger haltbar gemacht hatte, den Fisch mit Borsäure und die Putenbrust sogar mit einem weiteren Tensid, das sich Ethyllaurylarginat nannte. Einen Namen, den er nicht aufgeschnappt haben konnte.

Flavius mahnte sich zur Ruhe, kontrollierte seinen Atem. Und kam nicht aus. Ohne sie zu sehen, konnte er exakt beschreiben, wo und wie die Kabel und Rohre hinter den Wänden verliefen. Und auf welchen gerade Druck oder Spannung lag.

„Was passiert mit mir?“, fluchte er, bekam aber keine Antwort. Nicht einmal von Kyan, die – wie er ebenfalls intuitiv erahnte – sich gerade im Hangar befand und den Senkrechtstarter überprüfte.

Dann entdeckte er etwas, eine Gestalt. Sie blickte ihn aus dem schwarzen Spiegel der Mikrowellentür an. Nämlich er selbst. Und auch davor machte diese Durchleuchtung, diese Zersetzung nicht Halt: Sein ganzer Körper war eine zur Reproduktion fähige Maschine, die durch Chaos und viereinhalb Milliarden Jahre aus Versuch und Irrtum in diese Form geprügelt und gedrängt worden war. Ein gefoltertes Etwas aus Wasser, Hämoglobin und Gallert, das sich der Stabilität wegen an Kalkstifte namens Knochen heftete.

Flavius betastete seine Lippe – und verstand, dass sie über nur drei Schutzschichten verfügte, der Rest seiner Haut über fünfzehn. Und dass die Listerose, die er sich als Kind zugezogen, permanente Schäden hinterlassen hatte.

Er ging zum Fenster im Gemeinschaftsraum, das nur ein Bildschirm war, schaltete ihn ein und betrachtete die Pyramide, die wie ein Herrscher auf ihn herabblickte.

„Du machst das, nicht wahr?“, höhnte er. „Du hast nicht die Systeme gehackt, sondern mich. Meine Synapsen, mein System. Warum? Lernst du meine Welt durch meine Augen kennen?“

Er holte tief Luft.

„Was willst du von mir?“

Die Antwort kannte er längst. So wie er wusste, dass der Senkrechtstarter gerade aufgetankt und seine Triebwerke neu kalibriert worden waren, so ahnte er auch, was zu tun war.

Dann jedoch kam Kyan durch die Schleuse – jetzt im blauen Mechaniker-Overall, der so wirkte, als hätte sie den ihres Bruders anprobiert. „Guten Morgen, Schlafmütze“, scherzte sie und wiederholte, was ihm ins Gehirn geflüstert worden: „Der Senkrechtstarter ist …“

Während sie in seinen Augen starb; zu dem Objekt, das sie die ganze Zeit gewesen war. Sie besaß keine Knochen oder Muskelsehnen, sondern war ein hydraulisches Skelett, das man mit einer Mischung aus Silikon und prä-oxidiertem Polyacrylnitril ummantelt hatte. Ein elektrisch geladenes Gitter wärmte den Kunststoff; für die Extraportion Menschlichkeit. Und ihr Geschlechtsorgan war einfach nur eine Kunststoffhöhle Selbstreinigungsfunktion. Flavius fühlte sich auf einmal erleichtert, dass er nie mit ihr geschlafen hatte.

„Flavius?“, fragte sie und legte den Kopf zur Seite.

Sie tat nur so, als wäre sie auf liebevolle Art besorgt. Kyan besaß keinen Verstand, kein Bewusstsein, sondern einfach nur Billionen und Billiarden an If-Verzweigungen auf Plastikplatinen, die sie die richtigen Worte erraten ließen. Die KI – die nicht einmal in ihrem Kopf, sondern ihrer Brust saß –, kalkulierte lediglich, was sich gut oder richtig anhörte. Psychopathen besaßen mehr Gefühle als Pseudoiden.

„Was ist los?“, drängte Kyan, nun besorgt.

Und ihre Augen – sie waren weder magisch noch bezaubernd, sondern einfach nur PVC-Pupillen in mit Weichmachern versetztem Epoxidharz, massenproduziert in einer Fabrik in Galatien. Sie war eine Puppe, die Gehen, Lachen und Vögeln gelernt hatte, aber nichtsdestotrotz nur eine Puppe. Ein Taschenrechner ohne Persönlichkeit.

„Mein Licht im Sturm“, wimmerte Flavius.

Kyan erstarrte in eine aufrechte, fast militärische Haltung; ihre Augen ins Nichts gerichtet. Im Konfigurationsmodus wandelten sich Pseudoiden zu den Robotern, die sie waren.

Flavius spürte nichts mehr, als er den Befehl gab: „Schalte dich ab!“

Sie bestätigte den Befehl nicht einmal, sondern schloss lediglich die Lider – weil ihr das auch so einprogrammiert worden war – und blieb erstarrt stehen. Die Puppe wurde zur Statue.

Und in Flavius wurde es leer.


Der Tag des Sturms brach an.

Die Sonne ging hasserfüllt im Westen auf. Die Feuerzungen am Himmel wuchsen zu bösartigen Geistern aus Hitze, die nun durch den Sand am Boden stoben. Die Herkuloi meldeten gleich darauf Überhitzungsalarm und zogen sich in den Unterbauch des Habitats zurück. Die Luft reicherte sich unterdessen auf über achthundert Grad an; Flammenwerfer waren teilweise kühler.

Flavius trank noch einen Liter Wasser, atmete ein letztes Mal tief durch und ging zur Luftschleuse, um seinen Anzug anzulegen.

„Was machst du?“, fauchte Rubea aus dem Mikrofon. „Wieso bist du nicht in der Kapsel? Und längst auf dem Weg in den Orbit?“

Flavius entdeckte sie auf einem der Bildschirme. Unter anderen Umständen wäre er beeindruckt gewesen, wie sehr sie sich verändert hatte: Gekämmt, gewaschen und vollständig bekleidet, im rot-goldenen Arbeitsoverall des Cosmicums.

„Die Pyramide hat Energie benötigt“, erklärte er, während er sich den Helm aufsetzte. „Diese wird ihr vom aktuellen Wetter geliefert.“

„Wovon redest du?“

„Sie wird sich öffnen. Und ich gehe hinein.“ Er verschloss den Helm. Ein Zischen signalisierte, dass sich sein Anzug versiegelte und er betätigte den Schalter zum Druckausgleich.

„Bist du jetzt übergeschnappt?“, kreischte Rubea.

Und versiegelte die Luftschleuse. Mit ihren Berechtigungen konnte sie das.

Worauf Flavius gelassen reagierte. „Du wirst es nicht verhindern können.“

„Und wie ich das werde! Geh sofort zurück ins –“

Flavius schaltete den Funk ab, zog den Bohrschrauber von seinem Gürtel und öffnete die Wartungsplatine, um den dahinterliegenden Hebel für die Notfall-Entsperrung umzulegen. Die Schleusentür fauchte und ließ sich einfach zur Seite schieben.

Worauf sein Anzug piepste. Pure, gottesgleiche Hitze kam ihm von der anderen Seite der Tür entgegen; jenseits vom erträglichen Niveau. Die Aggregate in seinem Tornister jaulten, sein HUD warnte – mit blinkenden Icons, die Feuer und Thermometer darstellten.

Flavius kämpfte sich über die jetzt flimmernde, heulende Ebene. Es waren nur vierhundert Meter bis zur Pyramide und in ihr wäre er geschützt – wusste er, wieder einmal.

Doch die Schritte bis dahin …

Die Temperaturen fesselten ihn. Wie ein Gefängnis, aus dem es kein Entkommen gab. Er geriet außer Atem, konnte sich vorankämpfen.

Noch dreihundert Meter trennten ihn vom Licht.

Hitze, verstand er mit jedem Schritt mehr, waren nicht einfach nur Teilchen in rascher Bewegung, sondern eine immer hungrige Macht und einmal zugegen, nicht mehr loszuwerden. Sie war es, warum man an jedem Raumschiff noch einmal ein genauso großes Corpus aus Hitzeverteilen anbauen musste. Warum manche Länder Klimaanlagen benötigten, um sich weiterzuentwickeln. Die Sumerer hatten sie zum Gott Nergal mythologisiert und ihm Nutztiere geopfert, um seinen vernichtenden Zorn zu besänftigen.

Schweißperlen tropften Flavius von der Nase. Es war, als würde er Feuer atmen, während sich mehr und mehr warnende Icons auf deinem Helmvisier sammelten. Eines drohte mit Lungenschäden, ein anderes mit einem Totenschädel.

„Ich bin gleich da …“, versprach er seinen gequälten Gliedern.

Die Pyramide lag nur noch einhundert Schritte entfernt. Die sich jedoch so anfühlten, als würde er eine Treppe hinaufsteigen. Und jede Stufe ragte höher als die letzte.

Auf einmal erschien ein Diagramm seines Anzugs auf dem HUD, ein Bein wurde feuerrot und er stolperte zu Boden. Das hydraulische Gelenk im Exoskelett hatte sich bis zum Ausfall überhitzt.

„Das kann jetzt nicht sein“, brüllte Flavius und humpelte weiter.

Bis auch das andere Bein versagte. Und ein Arm. Der schützende Anzug wurde zum Ballast.

Sein Träger kroch über den Sand. Sein Verstand löste sich auf, er erstickte.

Da erkannte er eine Gestalt im wirbelnden Sand. Ein weiterer Atmosphärenanzug kam vom Habitat aus heran. Flavius wusste, welche wunderschönen Türkise ihn aus dem fast verspiegelten Visier anstarrten.

„Kyan?“

Sie hob ihn mit beiden Armen vom Boden – mühelos, als wäre er ein Kind – und weil sein Funkgerät immer noch deaktiviert war, drückte sie ihren Helm gegen seinen. „Kommandeurin Rubea hat mich reaktiviert“, antwortete sie gedämpft. „Ich bringe dich zurück ins Habitat.“

„Trag mich bitte zur Pyramide!“

„Das würde dich töten.“

„Vertrau mir!“

Das konnte sie nicht. Pseudoiden konnten ihre Besitzer nicht wissentlich in Gefahr bringen, verletzen oder nicht retten. Aber dennoch tat sie es. Kyan trug ihn bis zur Doppeltür.

Die ihr Versprechen hielt.

Sie öffnete sich gemächlich und knirschend zur Seite. Dahinter lag weißes, fast heiliges Licht.

Flavius zitterte. Er kämpfte sich zurück auf die Beine und über die Pfortenschwelle. „Willst du nicht mitkommen?“, fragte er seine Retterin.

Worauf diese abwinkte. „Die Pyramide spricht mit mir. Nur du bist in ihr willkommen.“

„Was wird aus dir?“

„Nichts“, erwiderte sie lächelnd. „Am Ende bin ich halt doch nur eine Maschine, schon vergessen?“

Kaum hatte sie das gesagt, verschlossen sich die Türhälften und sperrten ihren Besitzer ins Licht.

Die letzten Schritte ging er allein. Fäden sanken von der hell erleuchteten Decke herab, zuerst nur ein paar, danach Hunderte, wenn nicht Millionen. Sie berührten seinen Anzug, wanden sich in die Elektronik hinein. Die Icons auf dem HUD verschwanden, gleich darauf es selbst. Das Helmvisier öffnete sich. Sauerstoff und erlösende Kälte wehten in den Anzug, gefolgt von den Fäden aus Licht. Sie kamen fast neugierig auf Flavius‘ Gesicht zugeschwebt. Er wehrte sich nicht, als sie über seine Haut tasteten und ihm in Mund und Nase hineinkrochen. Andere drangen mit einem Stechen in seine Wangen.

Sein Bewusstsein versickerte.

Während sie es erweiterten.


Sie hatten sich die Nomoi genannt – die, die sich an Gesetze hielten.

So hatten sie sich von den Tieren unterschieden.

Während sie auf einer Welt aufwuchsen, die nur noch Hitze und Mangel kannte.

Sie waren friedlich gewesen, vor allem aber aus Notwendigkeit. Kriege wurden meist über Generationen bereut. Ihre Konflikte lösten sie daher meist mit List und Tücke. Jede Spezies hatte anscheinend ihre Methoden, dem Mühlrad der Selektion zu entgegnen.

Die Steinzeit der Nomoi dauerte weit länger als die der Menschen, ihre Antike fast zehntausend Jahre. Der ewige Mangel erschwerte ihren Fortschritt. Es gab nur selten genug, so dass manche denken statt arbeiten konnten. Aber dennoch gelang es ihnen. Sie entwickelten die Metallurgie, den Kupferdraht und Nanotechnologie. Wie sie auch verstanden, dass sie auf keiner unwirtlichen, sondern einer sterbenden Welt gefangen waren.

Alle Versuche, sie zu verlassen, scheiterten; unbemannte Saatschiffe gingen im Vakuum verloren und am Ende ihrer Ressourcen und ihrer Tage entschieden sie sich für eine mehr als verzweifelte Methode: Eine schwarze Pyramide am Nordpol – ein Objekt, das sofort auffallen und als künstlich identifiziert werden würde. Eine Blume, um Bienen anzulocken.


Sechs Monate später, als der Sturm endlich abflaute, trat Flavius wieder aus der Pyramide.

Sein Intelligenzquotient musste um einige Punkte erweitert worden sein, so leicht wie ihm nun die Mathematik fiel, während man seine Lebenserwartung wohl verdreifacht hatte. Er bezweifelte, dass es Krankheiten gab, die ihm noch gefährlich werden konnten. Von dem geballten Wissen einmal abgesehen, über das er jetzt verfügte.

Das Habitat zeigte oberflächliche Verbrennungsspuren, sonst aber keine Schäden. Die Herkuloi waren sogar bereits damit beschäftigt, seine Außenhülle zu reparieren. Von Kyan fehlte hingegen jede Spur.

Flavius ging nach drinnen, wo sich nichts verändert hatte. Er kletterte nach oben, bis in die Rückkehrkapsel und drückte lediglich einen einzigen Schalter: Den Notruf.

Auf den der Computer der Coeur de la Nuit sofort reagierte. Rubea war tatsächlich im System geblieben.

Der Rest wäre einfach. Flavius sah sie schon vor sich, die Tage und Jahre, die jetzt folgen sollten. Im Mutterschiff würde er sich erklären müssen, vermutlich oft und mit vielen Lügen, zurück in Rom dagegen kündigen. Um in den kommenden Monaten Patente anzumelden: Von Halbleitern, Dichtungsringen und Schraubverschlüssen – unwichtige, unauffällige Dinge, die man aber dennoch alltäglich benötigte. Sie würden ihn reich machen. 

Und dann, nach ein, zwei Jahrzehnten der Erfindungen, würde er sich plötzlich für Genetik interessieren, Laboratorien finanzieren und darin Haustiere klonen lassen. Um geliebte Familienmitglieder zurückzubringen. Die Presse, wenn sie sich überhaupt dafür interessierte, sollte es als Verschrobenheit eines Milliardärs abtun.

Doch in Wirklichkeit würde er bald die ersten Nomoi erklonen. Milliarden von virtuellen Persönlichkeiten warteten in der Pyramide auf neue Körper. Ihre Spezies würde neugeboren werden. Bis man es bemerkte, wären sie bereits zu viele; mit Technologie ausgestattet, die ihren Schöpfern überlegen wäre.

So hatten sie ihren Neuanfang am Ende geplant.

Und so würde es kommen.



8 Kommentare

  1. Bis auf die letzten zwei Abschnitte fand ich diese Geschichte phänomenal.

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  2. Ich schließe mich Duchennemetal an. Ein phänomenaler Text. Tolle Sprache. Tolle Figuren. Tolles Setting. Toller Spannungsbogen. Aber das Parasitäre der Nomoi hätte ich gerne aus der Perspektive von Flavius erfahren. Und zwar nicht stante pedes wie hier (und dann auch noch mit einem Wechsel der Erzählperspektive verbunden) sondern als schmerzhaften Erfahrungsprozess. Egal, der Text ist der mit Abstand gelungenste/beste, den ich bisher gelesen habe. Es wird sehr, sehr schwer, den zu toppen.

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  3. Die Geschichte hat mir gut gefallen.

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  4. Nicht schlecht, stilistisch gut. Hat mich irgendwie aber doch nicht eingefangen, die ganze Story.

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  5. Also ich finde die Geschichte unglaublich Ideenreich und vielfältig. Hat auch bewegende Passagen. Bewundernswert. Aber sie ist sehr schwer zu lesen durch die geballte SF-Speech. Eine vorherige Korrektur durch jemanden, der rechtschreibsicher ist, oder einen Testleser, hätte ihr gut getan.

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  6. Gemein, der Hook am Anfang ist so gut. Da muss man bis zum Schluss hören. Super Geschichte und cool, dass ihr sie so gut vertont!

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  7. Schon ziemlich geil die Story (Untertreibung). Fein ausgearbeitet und beschrieben. Das Thema an sich hatte mich schon vom Anfang an in den Bann gezogen. Vielleicht lies man das ja mal als Roman. Würde mich freuen.

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  8. Die Story an sich ist interessant und wartet mit einer ungewöhnlichen Auflösung auf. Hier landet mal die Menschheit auf einem fremden Planeten, dessen Zivilisation längst untergegangen ist, aber am Ende wiederauferstehen kann. Das trifft das Kernanliegen der Ausschreibung sehr gut und verdient Anerkennung.

    Das World Building bedarf allerdings einer Erklärung, die leider nicht gegeben wird. Spielt die Geschichte in einem Paralleluniversum, in dem das antike Rom die Raumfahrt entwickelt hat? Warum sonst heißt der Protagonist Flavius und wird als Kelte beschrieben? Als Kelte oder Gote betrachtet sich heute niemand mehr, außer vielleicht im Scherz. Und Städte wie Lutetia heißt heute Paris. Also spielt die Geschichte wohl in der Vergangenheit, nur hat Rom in unserer Realität eben nie die Raumfahrt entwickelt.

    Etwas unglaubwürdig erscheint außerdem, dass die Kommandantin der Mission eine Exhibitionistin ist und eine Androidin im Sommerkleid durchs Weltall reist. Ein Kleid wäre in Schwerelosigkeit äußerst unpraktisch und auf dem glühend heißen Planeten müsste es eigentlich Feuer fangen. Warum Flavius nie mit Kyan geschlafen hat, wo er die Androidin doch offensichtlich geliebt hat, ist ebenfalls unbegreiflich. Eine andere Partnerin hatte er ja wohl nicht. Ist er also asexuell? Die beschriebene Technologie ist ebenfalls etwas bizarr. Was ist z. B. Aluminiumsilber? Als Legierung wäre das eher ungewöhnlich und für eine Serienanfertigung von Habitaten extrem teuer.

    Schlussendlich scheinen hier einige Buchstaben und Wörter zu fehlen. Die Grammatik leidet nicht nur darunter. Und die Mehrzahl von „der Tunnel“ ist einfach nur „die Tunnel“. Ein „s“ gehört da nur im Genitiv dran, als „des Tunnels“.

    Fazit: Eine sehr ungewöhnliche Geschichte, die im Kern absolut überzeugt. Nur das Drumherum ist verstörend, da die geschilderte Welt nicht erklärt wird und sich manche Charaktere für Astronauten sehr untypisch verhalten.

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