Auch morgen gibt es noch ein Morgen
Aaron Brown verabschiedete sich bei seinen zwei besten und zugleich einzigen Freunden. Mike war schmächtig und der Kleinste, für sein Alter jedoch ausgesprochen klug. Ähnlich traf es auch auf David zu; obwohl er sich sichtlich ungesund ernährte, schadete dies seinem wachen Geist in keinster Weise. Zwischen beiden stand Aaron, ebenso clever, sein Körper jedoch ein Vorbild gesunder Entwicklung.
Die drei Freunde hatten einander in die Arme genommen, denn heute war ihr letzter gemeinsamer Tag an dieser Schule und auch in dieser Stadt. Schwer lastete dieser letzte Moment auf ihre Gemüter. Für die meisten ihrer Klassenkameraden war dies allerdings ein guter Tag, denn Aaron zählt nicht zu den beliebtesten der Klasse. Einige hassten ihn sogar so sehr, dass Mrs. Miller, die Klassenlehrerin auch jetzt noch Wache stand, damit den drein dieser Moment nicht genommen werden konnte.
Bereits vor drei Jahren hatte sie es sich zur persönlichen Aufgabe gemacht, Aaron zu beschützen. Selbst für den Fall, dass sie einmal nicht konnte, gab es einen Notfallplan. Der Junge hatte die Genehmigung erhalten, im Zweifel ins Lehrerzimmer flüchten zu dürfen. Bedauerlicherweise war derartiges notwendig.
Der Junge selbst hatte für seine Peiniger jedoch nur Mitleid, ja sogar Verständnis übrig – ein weiterer Grund, warum er so sehr gehasst wurde. Er war einfach nicht wie die anderen, weder innen noch außen. Das genügte bereits unter Kindern und viel zu oft auch unter Erwachsenen, jemanden grundsätzlich abzulehnen.
»Nun kommt«, trennte Mrs. Miller die drei nach einer gefühlten Ewigkeit. »Es wird Zeit.«
Die Jungen lösten sich voneinander und sahen sich noch einmal an.
»Für immer Freunde«, sagte Mike und gab sich noch nicht einmal Mühe, seine Trauer zu verbergen. Mrs. Miller reichte ihm ein Taschentuch. »Freunde, wie ihr es seid, werden sich nie verlieren. Egal, wo ihr lebt.«
Aaron nickte beiden zu und nahm seinen Schulranzen auf. »Bleibt euch treu«, bat er seine Freunde und signalisierte Mrs. Miller mit einem Blick, dass er gehen wollte.
Sie öffnete die Tür, welche sie bis eben blockiert hatte, um Störenfriede wie auch Zuschauer fernzuhalten. Hätte nur ein einziger Schüler die drei so wie eben gesehen, wären Mike und David für die nächsten Monate zum Gespött der ganzen Schule geworden, von gewalttätigen Übergriffen gar nicht erst zu denken.
»Ihr wartet hier«, sagte sie zu den zwei Jungen und begleitete Aaron auf den Korridor und hinaus aufs Schulgelände.
Niemand wagte auch nur einen Blick, solange eine Lehrkraft anwesend war. Erst am Schultor endete Mrs. Millers Befugnis. Sie wartete noch, bis Aaron sein Fahrrad genommen hatte, ehe auch sie sich erlaubte, Abschied zu nehmen. »Das ist also das Lebewohl«, begann sie und kniff ihren Mund zusammen. »Es kam sehr überraschend.«
»Ja, ich weiß«, antwortete er.
»Durch dein Fehlen wird der Klassendurchschnitt sinken«, scherzte sie, um die eigene Trauer zu überspielen.
Aaron lächelte auf seiner typisch schüchternen Art.
»Und ich darf dein Treibhausmodell wirklich behalten?«, fragte sie.
»Aber natürlich.«
Mrs. Miller wünschte schon lange, dass sie das Modell, welches äußerst anschaulich und kreativ den Treibhauseffekt erläuterte, in ihrem Unterricht verwenden dürfte. Einige Kollegen waren jedoch dagegen gewesen, da es kein offizielles Lehrmaterial sei und alles viel zu abstrakt wirkte. Auf der anderen Seite wurde das Modell schon zweimal von Mitschülern beschädigt. Es würde ohnehin das Schuljahr nicht überstehen.
»Ich hoffe, dort, wo ihr hinzieht, wirst du nicht so vielen Feindseligkeiten ausgesetzt sein.«
»Nein, ganz sicher nicht.« Der Junge schob sich seine Haare aus den mund sah auf das Schulgelände zu den anderen Kindern. »Sie werden es eines Tages verstehen.«
»Was meinst du?«
»Das Modell«, erläuterte er.
»Oh.« Mrs. Miller hob verstehend ihre Augenbrauen. »Ich nehme es vermutlich mit nach Haus.«
»Aber da sieht es doch niemand«, merkte Aaron an. »Alle sollten es sehen.«
Widerwillig nickte seine Lehrerin und sah ihn direkt in die kristallblauen Augen. »Ich werde es sehen und mich jeden Tag daran erinnern. Und ich werde meinen Unterricht entsprechend gestalten.« Sie hob ihre Hand. »Das verspreche ich.« Damit beugte sie sich herunter und legte ihre Hand auf Aarons Schulter, obwohl es verboten war, Schüler zu berühren. »Ich bin stolz auf dich. Und auf alles, was du bisher geleistet hast. Versprich mir bitte, dass du daran festhältst, egal, was andere sagen. Eines Tages könnt ihr Kinder diese Welt retten.«
Aaron lächelte. »Vielen Dank. Und bitte, bleiben auch Sie sich treu. Damit tun sie mir einen sehr großen Gefallen.«
Mrs. Miller lachte verlegen. Es war durchaus ein wenig befremdlich, wenn ein Zwölfjähriger einer erwachsenen Frau in ihren besten Jahren riet, sich treu zu bleiben. Dennoch aber nickte sie. »Ich verspreche es.«
»Dann gibt es auch morgen noch ein Morgen.« Mit diesen Worten schwang sich der Junge auf sein Rad.
Er sah sich nicht mehr um, denn auch wenn er es nicht zugeben wollte, so schmerzte ihn dieser Abschied weit mehr, als er es je gedacht hätte.
~ ~ ~
Ein letztes Mal wollte Aaron seine Routine erledigen.
Er hielt wie jeden Tag vor dem Supermarkt und kaufte Konserven, Brot und Obst. Dazu eine kleine Kiste Wasser, die er auf dem Gepäckträger seines Fahrrads befestigte. Vier Straßen weiter, unter einer Brücke, warteten seine etwas anderen Freunde, Menschen, die vom System abgehangen wurden, ihr Haus, ihre Existenz und oft auch ihre Würde verloren hatten.
»George«, begrüßte er den ersten der kleinen Obdachlosentruppe.
»Aaron!«, rief der Angesprochene und richtete sich auf. Nahezu jeder der Runde hob seinen Blick. Die meisten standen ebenfalls auf und grüßten freundlich.
»Hilf mir«, bat der Junge und George nahm ihm das Wasser ab, das er unter den anderen verteilte. Auch die restlichen Dinge wurden fair herumgegeben.
»So viel, dieses Mal?«, fragte ein anderer mit dankbaren Augen.
Aaron nickte schwer. »Ich habe eine schlechte Nachricht.« Er überreichte den letzten Beutel. »Wir ziehen um. Ich werde nicht wiederkommen können.«
Die Männer sahen einander an, flüsterten erschrocken. Aaron erkannte, wie sehr sich diese Menschen hier inzwischen auf ihn verlassen hatten. Mit seiner Hilfe hatte sich an diesem Ort eine klare Struktur gebildet, in der es Ordnung, Regeln und Gemeinschaftssinn gab.
»Es tut mir leid. Es war nicht meine Entscheidung«, entschuldigte er sich.
»Wir kommen zurecht«, versprach George.
»Ich habe auch was für Max eingepackt.« Aaron deutete auf einen der Beutel und strich dem dreibeinigen Hund über den Kopf. Das Tier war das Maskottchen dieser Truppe und warnte sogar vor Polizei und Gangs. Sein ehemaliges Herrchen, Martin, war voriges Jahr Opfer eines Angriffs auf diese Gruppe geworden und hatte nicht überlebt. Aaron wünschte immer wieder, an diesem Tag dabei gewesen zu sein, denn er war sicher, dass er ihn hätte retten können. Martin wurde sein Leben lang vom Leben selbst drangsaliert, weshalb er letztendlich hier gelandet war. Begonnen hatte es schon in dessen Jugend, als er versuchthatte, mit einer eigenen kleinen Firma die Welt zu verbessern. Nach eigenen Worten entwickelte er zusammen mit einem Freund die Idee, Energiespeicher auf Lithiumbasis zu konstruieren. Der funktionierende Prototyp sorgte für Schlagzeilen und eine Produktion hätte bestehende Unternehmen immens geschadet. Daher wurde Martin in den Ruin geklagt. Eine Hundertschaft an Anwälten ging bis zum obersten Gerichtshof, um diesen jungen Mann scheitern zu lassen.
Aaron vermisste ihn noch immer, denn trotz dieser Unglücke blieb er der kluge Mann, der er immer gewesen war. Damals wie auch im letzten Jahr hatte Martin zu einer falschen Zeit die richtigen Gedanken gehabt. Nochmals streichelte er Max über den Kopf. »Bleibt, wie ihr seid, dann gibt es auch morgen noch ein Morgen.« Er lächelte in die Runde. »Haltet einfach zusammen.«
Aaron hatte mit dem Gedanken gespielt, sie alle anzulügen, einfach nichts zu sagen, dass er nicht mehr kommen konnte. Doch die Obdachlosen hätten sich wahrscheinlich recht bald Sorgen gemacht, ihn gesucht, sich dabei verstreut und ihre Gemeinschaft verloren. Mit der Wahrheit aber konnten sie leben und weitermachen.
Noch einmal besuchte er den Supermarkt und schaffte einen weiteren Beutel Lebensmittel in ein altes Mehrstockhaus. Hier lebte Tracy, eine rüstige Frau, die schon seit vielen Monaten nicht mehr vor dem Haus war. Ihr Alter und ihre kaputten Beine machten ihr zu schaffen.
»Mein Engel«, begrüßte sie ihn mit rauer Stimme.
»Hallo Trace.«
Sie humpelte zurück und ließ ihn in ihre muffige Wohnung, kämpfte sich Schritt für Schritt zurück auf ihren Sessel. Stöhnend musste sie einen Moment ruhen, ehe sie sich wieder ihrem Besucher widmen konnte. Mit einem Griff zur Fernbedienung schaltete sie den alten Fernseher aus und warf diese zurück auf den kleinen Couchtisch. »Du bist später als sonst.«
»Schule«, erklärte er.
»Mobben sie dich wieder?«
»Nein.«
»Solange du dich nicht wieder stundenlang auf der Toilette verstecken musst …«
»Das war nur einmal.«
»Einmal zu viel«, ermahnte sie ihn und hob ihren knöchernen Finger.
»Es ist besser geworden.« Aaron legte die Lebensmittel in ihren Kühlschrank und sammelte ihren Hausmüll zusammen.
Tracy lachte bitter. »Es wird nie besser. Damals wie heute, es ist immer dasselbe«, sinnierte sie. »Wenn jemand nicht ins Bild der Masse passte, hatte dieser jemand kein einfaches Leben. Wir Menschen hassen es, wenn andere klüger, schöner oder besser sind.«
»Ich weiß.« Aaron setzte Wasser auf, um ihr ihren Tee zu machen. »Aber nur so können sie weitermachen. Wenn sie ihre Defizite akzeptierten, würden die Menschen stehen bleiben. Also müssen sie die Dinge schlechtreden, um für sich zu funktionieren.«
»Sie lügen, anstatt zu schaffen, allerdings«, brummte die alte Frau.
»Allerdings«, wiederholte Aaron lächelnd und reichte ihr die Tasse Tee. »Hat sich Marc inzwischen gemeldet?«
Hektisch winkte sie ab. »Reden wir nicht über ihn. Er ist ein schlechter Mensch.«
»Er ist dein Sohn.«
Sie nickte. »Ganz genau.«
»Ich glaube nicht, dass es schlechte Menschen gibt.«
Tracy lachte heiser. »Ach nein? Wie hieß diese widerliche Göre, die dir das Leben schwer macht?«
»Johanna«, erinnerte er sie.
»Johanna!«, spuckte sie verächtlich aus. »Sie und ihre Gefolgschaft aus gehässigen Zicken. Sie sind allesamt schlecht.«
Aaron seufzte und lehnte sich zurück. Es gab immer zwei Seiten. Johanna war im Grunde nicht böse, sie war nur unbeholfen und dadurch unzufrieden. Einfach nichts wollte ihr gelingen, noch weniger konnte sie verstehen, sosehr sie es auch wollte. Nach außen hin tat sie daher unbesiegbar, was ihr viele Freundinnen brachte, die sie für ihre Stärke bewunderten. Den wahren Kern des Mädchens kannte jedoch niemand. Also bemühte sie sich, sich selbst und ihren Freundinnen lautstark zu erklären, wie großartig sie sei – und wie schlecht andere, allen voran natürlich Aaron Brown, der sich nicht einmal zur Wehr setzte. Das perfekte Opfer.
In Wahrheit sah Aaron es nicht ein, Zeit und Energie daran zu verschwenden, anderen zu zeigen, dass Johanna allen etwas vormachte. Es genügte ihm zu wissen, dass sie selbst die Wahrheit kannte.
»Sie hat es nicht leicht im Leben.« Er sah sich um. »Niemand hat es leicht.« Seit er Tracy kannte, versuchte er zu verstehen, warum das System innerhalb eines der reichsten Länder der Welt nichts übrighatte, die Schwächsten zu stützen und sich stattdessen nur auf die wenigen konzentrierte, die auch ohne den Staat zurechtkamen. Bisher hatte er es nicht verstanden.
»Also mir geht es gut.«
»Nein, Trace.« Aaron schüttelte den Kopf. »Das tut es leider nicht.«
Wieder winkte die alte Dame ab. »Ach komm. Ich hatte ein gutes Leben. Weit besser als viele andere. Ich wünschte nur, ich hätte damals schon gewusst, was kommen wird.«
Aaron runzelte die Stirn. Im Grunde war alles bekannt, schon immer war bekannt, wie die Zukunft aussehen würde. Es war eine einfache Rechnung durch simples Ableiten bestehender Ereignisse.
»Ich hätte etwas zurückgelegt und wäre achtsamer umgegangen mit dem, was ich hatte«, meinte Tracy und zuckte mit den Schultern. »Aber wir waren damals so … niemand kannte es anders.«
»Allerdings.« Aaron richtete sich auf, nahm den Hausmüll zur Hand und winkte der alten Frau ein letztes Mal. »Bis dann, Trace. Pass auf dich auf. Und ruf Marc an.«
»Bis bald, mein Engel.« Sie winkte der sich schließenden Tür.
Aaron kämpfte mit den Tränen. Er verfluchte den Umzug, denn er wusste, dass sich in Zukunft niemand um die alte Lady kümmern würde. In seinem geistigen Auge spielte sich die Szene ab, wie sie verhungern würde. Und selbst wenn nicht, so waren ihre Tage schon vor Monaten gezählt und er konnte sein Versprechen, sie zu begleiten, bis sie gestorben war, nicht halten.
Damals hatte sie sich mit ihrem Rollstuhl zwischen Aaron und seinen Verfolgern geschoben. Die Teenager stürzten über die alte Frau, wodurch es Aaron gelang, zu entkommen. Der Rollstuhl konnte jedoch nie wieder repariert werden. Es war ihm nie gelungen, seine Schuld abzubezahlen, und dafür schämte er sich.
~ ~ ~
Aaron fuhr langsam durch die Straßen seiner Heimatstadt, die er ein letztes Mal bewusst aufnehmen wollte. Je näher er seinem Elternhaus kam, desto mehr Plätze durfte er wiederentdecken, die er mit positiven Erinnerungen verband.
Die Stadt lag längst hinter ihm und sein Weg führte ihn durch eine idyllische Siedlung aus Einfamilienhäusern, einem Park und dem Kindergarten, den er als kleiner Junge besucht hatte.
Mit diesem Ort verband er die schönsten, aber auch einige der schlimmsten Erinnerungen, die ihm bis heute nachfolgten. An seinen ersten Tagen dort hatten zwei der Betreuerinnen ihn für ein Mädchen gehalten, da er für einen Jungen viel zu sauber war und auch seine viel zu weichen Gesichtszüge gaben ihm ein eher sanftes Äußeres. Sie waren nett und zuvorkommend, unterstützen ihn bei seinen ersten Schritten in dieser neuen Gemeinschaft. Als sie jedoch realisierten, dass er ein Junge war, machten die beiden ein Geräusch, als müssten sie sich übergeben. Sie hatten nie wieder ein Wort mit ihm gesprochen und sich den echten Mädchen gewidmet. Es war das erste Mal, dass er Ausgrenzung erlebt hatte.
»Aaron!«, hörte er eine dumpfe Stimme, gefolgt von einem ebenso dumpfen Schlagen. Er wandte sich um und erkannte den einmal die Stunde hier fahrenden Linienbus. Darin saß Jayden, der nur zwei Häuser weiter wohnte und ebenfalls gerade von der Schule kam. Beide waren Freunde, seit sie denken konnten, er zählte neben Mike und David zu den wichtigsten Menschen in seinem Leben. Jayden winkte heftig und grinste über beide Wangen. Aaron hob zum Gruß seine Hand. Schon gestern Abend hatte er sich bei ihm verabschieden dürfen und zur Erinnerung seine Spielkonsole dagelassen. Denn dort, wo Aaron künftig leben würde, hatte er keine Verwendung dafür. Jayden hingegen schon, denn beide verbanden mit diesem Gerät viele wunderbare Momente.
Aus einem inneren Gefühl heraus beschleunigte Aaron seine Fahrt, um seinen Freund an der nächsten Haltestelle einzuholen. Der Bus fuhr hier in der Wohngegend nicht sonderlich schnell, sodass es ihm keine Mühe machte.
Die Türen öffneten sich und Jayden sprang förmlich heraus. »Buddy!«, rief er und beide gaben sich ein Highfive. »Dass ich dich noch mal sehe!«, freute sich der Junge und schien kurz davor zu sein, ihn vor allen Leuten zu umarmen – hielt sich aber zurück. Nur Augenblicke später erkannte Aaron den Grund. Hinter Jayden trat dessen Bruder DeShawn aus dem Bus. Aaron nickte Jayden zu. »Letzter Tag«, antwortete er ein wenig bekümmert.
Aus den Augenwinkeln sah er eine junge Frau, die mit ihrem Kinderwagen versuchte, in den Bus zu steigen. Sofort trat er auf sie zu, griff den Wagen am anderen Ende und hob diesen die Einstiegsstufe hinauf.
»Oh, danke!« Ein wenig perplex lächelte die Frau. Sie hatte offensichtlich nicht damit gerechnet, dass ihr jemand half und schien es auch nicht gewohnt zu sein.
»Sehr gern«, sagte der Junge und sah einen Moment in den offenen Wagen. Das Kind darin war so winzig, höchstens ein Jahr alt.
»Du bist sehr stark für deine Größe«, merkte die Frau an und zog den Wagen ganz in den Bus. Aaron aber hatte nur Augen für das Baby, dieses unschuldige Leben. »Achten Sie gut auf ihn«, sagte er, senkte seinen Blick und trat vom Bus zurück.
»Du bist ein unverbesserlicher Wohltäter«, merkte DeShawn an.
Aaron runzelte die Stirn. »Alle Menschen sollten so sein.«
»Ja, echt mal. Nimm dir ’n Beispiel, man«, pflichtete Jayden bei.
DeShawn zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich hast du recht.«
Jayden stieß Aaron gegen die Schultern. »Hey, kannst du heute Abend noch mal vorbeikommen? Eine allerletzte Runde!«
»Leider nein.« Aaron nahm sein Rad und schob es neben sich her.
»Echt schade …« Jayden folgte ihm mit zerknirschtem Gesicht. Einen halben Schritt hinter ihm lief sein älterer Bruder. »Wohin zieht ihr eigentlich.«
»Zurück in die Heimat«, erklärte Jayden und Aaron nickte nur.
»Wo ist das?«
»Verdammt weit weg«, sagte Aaron.
»Also keine Besuche?«
Aaron schüttelte langsam den Kopf. »Das würde nicht gehen.« Er sah ihn an und tiefe Trauer lag in seinen Augen, die DeShawn sofort erkannte. »Jay hat absolut recht.«
»Womit?«
»Du willst doch gar nicht weg.«
»Ich habe keine Wahl, wir können hier nicht bleiben.«
»Wie jetzt?« DeShawn grübelte und sah seinen Bruder an. »Wegen dieser Sache in der Schule?«
»Sache?«, fragte Aaron.
»Er meint Johanna, ich habe es ihm erzählt.«
»Ach das …« Aaron winkte ab. »Das hat nichts mit ihr zu tun.«
»Immerhin bist du sie nun los.« Jayden boxte Aaron leicht gegen die Schulter. »Ich weiß doch wie sehr dich die olle Kuh genervt hat … besonders als sie dein Modell kaputt gemacht hat.«
»Ich habe es doch repariert.« Aaron versuchte zu lächeln. Dieses Mal fiel es ihm schwerer als sonst, denn natürlich belastete es, wenn eine einzelne Person ihre ganze Energie darauf konzentriert, jemand anderem etwas zu nehmen, was dieser sich aufgebaut hatte. Bei allem Verständnis, das er für dieses Mädchen hatte, und dem Wissen ihrer eigenen im Geheimen verborgenen Sorgen, war eine Sache nicht zu verzeihen; wie sie sich im Applaus suhlte, wenn sie einmal mehr großen Schaden bei anderen verursacht hatte. Ebenso war unverzeihlich, wie es in der Gruppe ihrer Unterstützer Einzelne gab, die es als gerecht empfanden, wenn Johanna einmal mehr jemanden schädigte. Aber so waren die Menschen nun einmal. Sie gruppierten sich nicht um etwas Wahrhaftes, sondern um jene, die erklärten, wahrhaftig zu sein. Unabhängig davon, ob es stimmte oder nicht.
»Ich hätte ihr auf die fette Nase geboxt, ob Mädchen oder nicht«, behauptete DeShawn.
»Ich auch.« Jay hob seine Fäuste.
»Das ist nicht notwendig«, beschwichtigte Aaron, denn Jay hatte recht, er würde Johanna nie wieder sehen und darüber hinaus künftig ein sehr viel sorgenfreieres Leben führen als alle anderen hier.
»Sicher doch!« beharrte DeShawn.
»Sie kann nichts dafür.« Erklärte Aaron. »Sie versteht so wenig und glaubt, sich dagegen verteidigen zu müssen.«
»Indem sie anderen was kaputt macht?«
Aaron nickte. »Mein Modell war ein Zeugnis ihrer Unzulänglichkeit, in der sie immer gefangen sein wird.«
»Was?« Die Brüder sahen sich an, als hätte Aaron in einer fremden Sprache gesprochen, was dieser sofort erkannte. In einem solchen Alter waren Kinder noch nicht weit genug, komplexe Sätze dieser Art zu verarbeiten. Daher lächelte er nur. »Schon gut. Ich muss los.«
»Ich hau ihr trotzdem auf die Nase«, rief DeShawn ihm nach.
»Gewalt ist nicht die Lösung, Shawn«, rief Aaron, ohne sich noch einmal umzusehen.
»Er ist ein Feigling«, brummte der Ältere. Jayden aber schüttelte den Kopf. »Nein, er ist ein Held.«
~ ~ ~
Das Haus seiner Eltern war so gut wie leergeräumt. Nur ein Tisch und vier Stühle waren geblieben. Einige Taschen standen am Boden und nur das Wichtigste wurde eingepackt. Seine Eltern trugen schweigend zwei Kisten in die Garage. Niemand hier war glücklich, gehen zu müssen.
Das meiste ihrer Habe hatten sie verschenkt oder gespendet. »Ich habe Emma noch mal getroffen … es geht ihr schlechter«, flüsterte seine Mutter.
»Das war abzusehen«, antwortete sein Vater und blickte aus dem hohen Fenster auf die Straße »Es ist, als wenn wir sie alle im Stich lassen.«
»Darf ich noch kurz in mein Zimmer?«, fragte Aaron. »Ein letztes Mal.«
»Beeile dich«, erlaubte seine Mutter. »Deine Schwester ist schon unten.«
Aaron nickte und rannte die Treppe hinauf.
Der Raum, in dem er bisher sein ganzes Leben verbracht hatte, wirkte fremd und kalt, so ganz ohne seine Möbel, seine Spielsachen und die Bilder an den Wänden. Es fühlte sich falsch an, diese vier Wände zu verlassen, in denen er so viele Dinge erlebt, gesehen und durchgestanden hatte. Jeder Geburtstag hatte hier stattgefunden. Freude, Streit und Trauer spielten sich hier gleichermaßen ab. Ebenso die Spieleabende mit Jay, Mike und David. Ein Fleck am Boden erinnerte ihn an den Tag, als er den neuen Teppich bekommen hatte. Noch am selben Tag hatte Mike versehentlich ein Glas Cola darüber vergossen. Der Junge schämte sich so sehr für seine Tollpatschigkeit, doch Aarons Mutter hatte den Teppich am nächsten Tag wortlos gereinigt.
Aaron stieg die Treppe wieder hinunter und ging durch die Seitentür, die in die Garage führte. Dort, wo letzte Woche noch das Auto seines Vaters stand, war der Boden offen und hölzerne Stufen führten nach unten. Er nahm auch diese Treppe, hörte bereits die Stimmen seiner Eltern, wie sie darüber sprachen, alles versucht zu haben, die Menschen zu retten. Jedenfalls soweit, wie es ihnen erlaubt war. Immer wieder haben sie in ihren Berufen Denkanstöße gegeben, Hinweise und Forschungsergebnisse veröffentlicht. Dann aber wurde vom Oberkommando entschieden, dass es nicht genügen würde, die Menschen es nicht schaffen werden, obwohl das Potenzial dagewesen war.
Aaron trat in das Schiff.
»Sind das hier die Proben vom letzten Jahr?«, hörte er seinen Vater im Lager fragen.
»Nein, die sind von heute«, erklang die verzerrte Stimme seiner Schwester. Ein Klicken begleitete ihre Worte. Sie hatte sich bereits fertig gemacht und Aaron sah Elain in ihrer wahren Gestalt. Ihre kräftigen Sprungbeine waren angezogen und ihre Krallen künstlich gestutzt. Tatsächlich hatte er sie so nur zweimal gesehen. Elain schob krachend zwei schwere Behälter in das vorgesehene Fach.
»Sei doch vorsichtig«, mahnte der Vater.
»Das bin ich!«, blaffte sie ihn an. Sie war unverkennbar gereizt, schließlich lebte sie schon mehr als zwanzig Jahre hier und musste nun ebenfalls alles aufgeben, was sie sich geschaffen hatte.
Der gemeinsame Vater entledigte sich nun auch seiner Tarnung. Streifte seine Kleidung und die künstliche Haut mit einmal ab. Aus seinem Arm wurden zwei schmale Greifer und sein menschliches Gesicht löste sich in Nichts auf, offenbarte sein schuppiges Wesen. Seine Kleidung und die künstliche Haut warf er achtlos in den Recycler.
Aaron schluckte. Er konnte es sich nicht vorstellen, wie es sein wird, fortan seine vier Arme nicht mehr parallel zu benutzen. Er würde es wohl erst üben müssen.
Sein Blick galt dem glatten Metall zu seiner Linken, das ein wenig verzerrt sein Spiegelbild wiedergab. Er hatte sich so sehr daran gewöhnt, wie ein Mensch auszusehen. Seine Eltern hatten ihm damals ein besonders schönes Gesicht gegeben, damit er es leichter im Leben haben wird. Denn in dieser Welt wurden attraktive Personen eher akzeptiert, höher angesehen und man glaubte ihnen auch mehr. Nur unter Kindern funktionierte das nie so ganz.
»Nun trödle nicht!«, drängte sein Vater, der in seiner ursprünglichen Gestalt an ihm vorüberging.
»Ja …« Aaron seufzte und zog sein Shirt aus. Es würde zerreißen, sobald er seine wahre Gestalt annahm, und das wollte er nicht, denn es handelte sich um eines seiner Lieblingsshirts. Sorgfältig legte er es zusammen und berührte anschließend seinen Nacken. Sein Kostüm, wie er es gelegentlich nannte, löste sich und er streifte Haut und Hosen ab.
»Ich bin hässlich«, seufzte er mit Blick auf seine Reflexion an der Wand. Große schwarze Augen, in einem haarlosen und echsenähnlichen Kopf mit vier Fühlern, sahen ihn traurig an.
»Du bist blöd!«, grätschte seine Schwester aus dem Lagerraum dazwischen. Nun, ohne die Verkleidung war sein überempfindliches Gehör noch besser, er konnte sogar die Herzschläge seiner Familienmitglieder hören. Bei Menschen könnten sie sogar deren Gedanken empfangen.
»Zu Hause sehen alle so aus, du wirst die Vorzüge bald erkennen«, fügte sie hinzu.
Er verengte seine Facettenaugen. »Das hier ist mein Zuhause! Ich bin hier geboren!«
»Und? Trotzdem solltest du wissen, wo deine Wurzeln liegen.«
Aaron reckte seinen Hals. »Meine liegen hier. Dort auf dieser anderen Welt, da werde ich der Außerirdische sein.«
Elain rieb ihre Mandibeln. »Dummkopf. In ›Außerirdisch‹ steckt das Wort ›Erde‹.«
Aaron verschränkte seine Arme, ein Paar nach dem anderen. »Du weißt, wie ich das meine.«
Aus dem Cockpit des kleinen Schiffes kam die gemeinsame Mutter dazu. »Schatz, das alles war so nie vorgesehen. Wir haben doch schon einige Male darüber gesprochen.«
»Ja, Mom!«, unterbrach er sie und schnaubte genervt.
Sie hob mahnend ihre Klauen: »Und du weißt auch, dass wir Jahre länger geblieben sind als geplant. Und nun, wo sich der Planet verändern wird, müssen wir einfach gehen, ob wir wollen oder nicht.«
»Wir können es noch schaffen!«, beharrte er.
»Nein!« Mit diesem kräftigen Wort, das keine Widerworte duldete, kam sein Vater aus dem Lager in den schmalen Korridor. »So verstehe doch, Aaron, unsere Mission war ein Fehlschlag und das haben wir akzeptiert.« Er schüttelte den Kopf. »Die Menschen sind weder bereit für einen Erstkontakt noch möchten sie gerettet werden.«
»Außerdem gibt es noch andere Orte im Universum«, erklärte die Mutter. »Sogar schönere.«
»Aber meine Freunde sind hier!« Aaron sah die anderen drei an. Konnten sie nicht verstehen, oder wollten sie nicht verstehen, was sie von ihm verlangten?
»Alle unsere Freunde sind hier!«, fügte Elain hinzu. »Du bist nicht der Einzige. Also tu nicht so, als ob das nur dich betrifft.«
»Das mache ich gar nicht!«, widersprach er.
»Schatz …« Seine Mutter beugte sich herunter und strich ihrem Sohn über den Kopf. »Bedenke immer, wenn sie wüssten, wer du bist, dann wären sie keine Freunde mehr.«
»Blödsinn«, zischte er, wobei seine gespaltene Zunge hervorschnellte. »Ihr kennt sie gar nicht.«
»Das müssen wir auch nicht.«
Aaron kämpfte mit den Tränen. Nur er wusste, wie sehr sich seine Eltern irrten. Er hatte ihnen nie von dem Tag im Wald erzählt. Zwei Jahre war es nun her, dass er mit Mike, David und Jayden in den Sommerferien eine Wanderung durch die umliegenden Wälder gemacht hatte.
An einem Bach war Mike auf einen der Bäume geklettert. Es gab keinen Grund dazu. Mike tendierte schon immer zum Übermut, das war sein Wesenszug. David und Jayden feuerten ihn an, noch höher zu klettern.
Dann aber brach der Ast, auf dem er Halt gefunden hatte. Mit einem spitzen Schrei rutschte Mike ab. Es gelang ihm jedoch, sich in letzter Sekunde an dem angebrochenen Ast festzuhalten. Nur hing er jetzt gute acht Meter über dem Boden. Seine Beine waren zu kurz für die Äste unter ihm und der, an dem er sich hielt, drohte jeden Moment ganz abzureißen.
Aaron hörte das Holz knirschen und eine Faser des Holzes nach der anderen zerreißen. »Wir brauchen die Feuerwehr!«, rief er.
David war bereits dabei, hochzuklettern, bewegte sich jedoch mehr unsicher und unbeholfen über die gewundenen Äste.
Vor dem Baum lief Jayden auf und ab, völlig überfordert. Er wusste, dass niemand Mike retten konnte, und dass der Absturz des Jungen kurz bevorstand. »Bitte, lieber Gott!«, rief er und ging auf die Knie. »Bitte! Tu was!«
Aaron begriff, dass sie auf sich gestellt waren. Es gab nur eine Möglichkeit. Hastig zog er sich aus. David stoppte bei seinem Versuch, hinaufzuklettern und sah ihn verdutzt an. »Alter, was wird das?«
Jayden sah sich um. Als Aaron seine Menschenhaut abstreifte, begann der Junge anzuschreien. David war wie versteinert.
In seiner natürlichen Gestalt machte Aaron aus dem Stand einen Satz nach oben, öffnete seine Libellen-artigen Flügel, die er bis zu diesem Moment erst dreimal benutzt hatte. Unsicher bewegte er sich durch die Luft, musste sich konzentrieren, nicht wieder abzustürzen. Stöhnend zog er seine Mandibeln zusammen und nahm all seine Kräfte zusammen. Seine Flügel sirrten in der Luft und er erreichte Mike, der ihn völlig perplex und mit großen Augen anstarrte.
Wie einen reifen Apfel pflückte Aaron seinen Freund vom Baum. Beide stürzten Augenblicklich nach unten. Mit letzter Kraft konnte das kleine Alien noch einen Aufwind erzeugen und landete unsanft aber sicher mit Mike in seinen Armen am Boden.
Der gerettete Junge sah ihn nur an. Stotternd versuchte er scheinbar Worte zu fassen oder einfach nur zu verstehen, was hier gerade passiert war.
Aaron griff sein Kostüm und seine Kleider, dachte daran, dass seine Familie nun wohl umziehen musste. Plötzlich aber packte Jayden eines der dürren Alienärmchen und drehte Aaron zu sich um. Breit grinste ihn der Junge an. »Das ist ja der Hammer!«, schrie er und lachte auf.
»Was bist du?«, stammelte David und stieg vom Baum.
»Na, er ist ein Alien!«, rief Jayden.
Mike weitete seine Augen. »Was?« Vorsichtig berührte er Aarons schuppige Haut. »Echt?«
Ehe Aaron antworten konnte, hatte Jayden bereits bestätigt, obwohl er es gar nicht wissen konnte. »Na sicher ist er das.«
»Stimmt das?«, fragte David. Er hatte sich an Mikes Seite gestellt.
Aaron nickte verunsichert. »Ja …«
»Irre …!« Auch David berührte ihn, wenn auch zögerlich.
Mikes Finger streckten sich ebenfalls aus und strichen über Aarons Oberkörper. »Wow …« hauchte er.
»Leute …« Aaron wich zurück. »Das ist mir unangenehm.«
»Nein, das ist cool«, sagte Jayden.
»Sowas von cool!«, bestätigte David.
»Aber ich bin nackt! Verdammt!«, rief Aaron aus.
»Oh …« Die drei Jungen sahen einander an und begannen kurz darauf zu lachen. Anschließend wandten sie sich ab und blickten auf den See. »Zieh dich an«, forderte Jayden. »Aber lass die Menschenhaut weg«, fügte er hinzu und sah sich noch einmal kurz um. »Unser Freund ist ein Alien. Das ist das Coolste auf der Welt.«
Den restlichen Nachmittag hatten die drei Aaron ausgefragt. Er musste aber zugeben, dass er über seine Heimat kaum etwas sagen konnte, da er schließlich hier in dieser Stadt geboren war.
Mike meinte daraufhin, dass Aaron somit gar kein wirklicher Außerirdischer war, wo er doch von hier stammte. Er sehe einfach nur anders aus, so wie David etwas dicker war und Jayden dunkle Hautfarbe hatte. Sie alle waren einfach nur Freunde. Es war ein wunderschöner Gedanke, den Aaron tief in sich aufgenommen hatte.
Was er seinen Freunden aber beibringen konnte, waren einige Worte seiner Heimatsprache. Wie es für Jungen ihres Alters üblich war, handelte es sich dabei natürlich um Worte, die man normalerweise nicht in der Öffentlichkeit in den Mund nahm. Bis heute benutzten die vier einige dieser Begriffe, als wäre es ihre eigene Geheimsprache.
Nun stand er hier im kühlen Korridor des Schiffes unter dem Haus, in welchem er aufgewachsen war und schluchzte. Seine Eltern hatten immer wieder davon gesprochen, dass ein Erstkontakt auf der Erde schwer sein würde und dass jeder Versuch, die Menschen darauf vorzubereiten, bisher gescheitert war. Sie sind nicht bereit, sagten sie immer wieder. Ein Irrtum, wie Aaron wusste, aber niemandem sagen durfte. Letztendlich aber führten ausgerechnet die klimatischen Veränderungen dazu, dass sein Volk diesen Planeten verlassen, und die Mission abbrechen musste. Auch hier war sich Aaron sicher, dass die Menschen es schaffen würden. Sie hatten die Mittel dazu. Sie brauchten nur noch den richtigen Anstoß.
»Na komm.« Aarons Mutter nahm ihren Sohn bei den Klauen. »Unsere Zeit auf der Erde ist um.«
~ ~ ~
Das Schiff verschloss sich und aktivierte die Tarnung. Durch einen vor Jahrzehnten geschaffenen Tunnel bewegte sich das längliche Gefährt unter der Erde fort, bis es unter einem Abhang aus einem getarnten Tor brach und ungesehen in den Himmel flog.
Nach nur wenigen Minuten lag der blaue Planet hinter ihnen und das Schiff war umgeben von einem Sternenmeer. Auf den visuellen Sensoren wurde angezeigt, dass gerade ein weiteres Schiff die Atmosphäre der Erde verließ.
»Wusstest du, dass Team zwölf hier stationiert bleibt?«, fragte Aarons Mutter an ihren Ehemann gerichtet. Die Mandibeln um ihren Mund bewegten sich auf und ab, während sie sprach.
»Was? Sie kehren nicht zurück?«, rief Aaron und trat in das Cockpit. »Warum konnten wir nicht bleiben?«
»Du weißt warum!«, erinnerte ihn seine Schwester. Sie überspielte ihre Trauer noch immer mit Wut, so wie schon auf der Erde, wann immer sie mit ihren Gefühlen zu kämpfen hatte.
Jeder hier hatte nicht nur die Eigenheiten der Menschen angenommen, sondern sie ließen auch ihre Freunde zurück, Personen, die sie liebten und schätzten.
»Wir könnten es doch noch schaffen«, beharrte Aaron.
»Ach, Schatz«, seufzte seine Mutter und strich ihrem Sohn über die schuppige Kopfhaut.
Dieser sah nun aus dem Fenster auf den Planeten, der seine wahre Heimat war. »Es ist nicht fair.« Tränen rannen aus seinen rabenschwarzen Facettenaugen.
»Ich weiß.« Seine Mutter legte ihre Gliedmaßen und sogar die Rückenflügel um ihren Sohn. »Das wissen wir alle.«
»Hey!«, unterbrach sein Vater. »Schaut mal.« Er deutete auf die ISS, die neuen internationale Raumstation. »Die wollte ich schon immer mal sehen.«
»In der Tat beeindruckend«, gab die Mutter zu.
»Wer weiß, wie weit sie gekommen wären …« Er programmierte den Kurs auf ihre Heimatwelt, während Elain im Hintergrund die Cryogenkammern vorbereitete.
Aaron sah auf das Display und weitete seine Augen. Es war vorgesehen, dass sie alle sechsundvierzig Jahre im Kälteschlaf verbringen würden. »Werde ich träumen?«, fragte er mit Blick auf seine Eltern.
Sein Vater lächelte. »Nein, es geht in Sekunden vorüber.«
»So kurz …« Aaron blickte wieder zurück auf die Erde. In wenigen Sekunden war dieser Planet für ihn unerreichbar und seine Freunde alte Männer … oder gar tot. Jetzt erst begriff er, dass ein Abschied für immer dieselben Gefühle auslösen konnte, wie wenn jemand verstorben wäre. Das Wissen, dass der andere weiterlebt, war das eine. Das Wissen, nicht dabei sein zu können, ein anderes. »Wird die Erde noch da sein, wenn wir zu Hause sind?«
»Aber natürlich, sie wird noch sehr lange da sein.«
»Ich meine die Menschen«, korrigierte sich Aaron. »Werden sie ein Morgen haben?«
»Nun …« Seine Mutter legte mit Blick auf das Chronometer ihren Kopf schräg. Der Kalender zeigte an, dass auf der Erde das Jahr 2001 geschrieben wurde. »Wahrscheinlich nicht.« Ihr Gesicht drückte Unglück aus und sie senkte ihre Gliedmaßen. »Es hängt wohl alles an der letzten Generation.«
Ende.
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T. Lagemann
AntwortenLöschenSchade, ein Text über einen Abschied und das Anderssein wurde mit dem erhobenen Zeigefinger "letzte Generation" zur sattsam bekannten Mahnung. Nicht nur manchmal ist weniger viel mehr.
LöschenIch mag die Geschichte sehr. Die Geschichten, die "menscheln", die ich bisher gelesen habe, 3, 8, 10, 11, 12, 13 und diese gefallen mir bisher sehr gut. Auch wenn nicht alles logisch ist, z.B. Dass die Kindergärtnerinnen kotzen wollen, weil der kleine Aaron kein Mädchen ist. Oder dass er vom Fahrrad aus die Stimme seines Freundes hinter ihm im Bus hört.
AntwortenLöschenEr hat doch ein Supergehör wie Superman :)
LöschenIch mag die Geschichte sehr, wie alle hier, bei denen es "menschelt"!
AntwortenLöschenCoole Geschichte. Ich vermutete die Auflösung zwar schon im ersten Drittel, aber nicht auf diese Weise. Hat mir sehr gefallen. Allerdings muss ich meinen Vorredner Recht geben: Die letzten Worte mit dem erhobenen Zeigefinger knabbern etwas am Gehalt der Story.
AntwortenLöschenDie Geschichte über das Abschiednehmen ist sehr emotional umgesetzt und Aaron ist ein sehr optimistischer Charakter. Die Kritik an der Menschheit ist auch sehr treffend. Allerdings schießt sie manchmal übers Ziel hinaus, als z.B. zwei Betreuerinnen angeekelt sind, dass das vermeintliche Mädchen doch ein Junge ist. Aarons Verständnis für fiese Menschen ist zudem etwas naiv. Bei Johanna hat er sicherlich recht und es hat meist Gründe, warum sich Menschen in eine ungute Richtung entwickeln. Dennoch gibt es das abgrundtief Böse, das durch nichts zu rechtfertigen ist.
AntwortenLöschenEin wenig unglaubwürdig ist auch, dass Aarons Freunde es cool finden, dass er ein Alien ist, und dieses Geheimnis für sich behalten können. Die Reaktionen hätten hier etwas differenzierter ausfallen können. Und warum fragen sie ihn beim Abschied, wo seine Heimat ist und ob es ein Wiedersehen geben wird? Wenn sie bereits wissen, dass Aaron ein Außerirdischer ist, dann müssten sie doch wissen, dass er von einem weit entfernten Planeten kommt.
Handwerklich ist die Geschichte überwiegend flüssig geschrieben, sodass man leicht Zugang findet. Im ersten Abschnitt ist die Grammatik ein Kritikpunkt, allerdings verbessert sich das im Laufe des Textes. Zu Beginn gibt es außerdem einen Wortfehler: „Dreien“ kann man nicht „drein“ abkürzen, denn das ist ein völlig anderes Wort. (Im Sinne von „finster drein schauen“.)
Fazit: Obwohl ich gleich zu Beginn durchschaut habe, dass Aaron ein Alien ist, fand ich die Geschichte gut. Es geht hier ja auch weniger um den Überraschungseffekt, sondern mehr um das Gefühl des Abschieds. Die Geschichte berührt und kann bei wenigen Kritikpunkten mehrheitlich überzeugen.